Nahostkonflikt im Internetzeitalter
Der Markt der Medien und Meinungen in Israel und Palästina ist klein und umkämpft. Wo etablierte Medien an Bedeutung verlieren, werden soziale Medien und Bürgerjournalismus stärker und wichtiger. Nicht jeder sieht das positiv.
"Iton Ha'aretz! Iton Yedioth!"
Auf dem Markt im Zentrum Tel Avivs drängen sich die Menschen. Es ist Freitagnachmittag, bald beginnt der Shabbat und die Läden werden für das Wochenende schließen. Ein Händler versucht, in letzter Minute die verbliebenen Ausgaben der Tageszeitungen Yedioth Ahronot und Ha'aretz an den Mann zu bringen.
"Iton Ha'aretz! Iton Yedioth!"
Beide Zeitungen besitzen eine fast hundertjährige Geschichte und ein großes Renommee. Aber werden sie auch künftig ein wichtiger Baustein des israelischen Mediensystems sein? Nein, sagt Haggai Matar.
Beide Zeitungen besitzen eine fast hundertjährige Geschichte und ein großes Renommee. Aber werden sie auch künftig ein wichtiger Baustein des israelischen Mediensystems sein? Nein, sagt Haggai Matar.
Der junge Mann bereitet sich auf das Abendessen mit der Familie vor. In einem Kochtopf quellen Kichererbsen für selbstgemachte Hummuspaste. Matar ist Blogger und Redakteur beim unabhängigen und linksgerichteten Online-Magazin +972. Er glaubt nicht, dass Tageszeitungen wie Yedioth oder Ha’aretz in Israel noch eine Zukunft haben. Zu stark wäre der finanzielle und der politische Druck in den letzten Jahren geworden. Haggai hofft daher, dass die Bürger selbst die politische Berichterstattung übernehmen. Im Amateurjournalismus sieht er die einzige Zukunft unabhängiger Berichterstattung im Nahen Osten.
"Für mich muss es eine Art Journalismus ´Von Unten nach Oben` geben, also die Idee, dass kein weißer, jüdischer, Ashkenazi-Mann am Schreibtisch in Tel Aviv entscheidet, was die Nachrichten und Stories sind, sondern die Menschen selber. Der Journalismus in Israel und Palästina ist sehr zentralisiert und elitär. Ein kleiner Teil der Gesellschaft regiert die ganze Medienwelt."
Politik nimmt immer mehr Einfluss auf Medien
Auf der jährlichen Rangliste für Pressefreiheit von der Organisation Reporter ohne Grenzen rangieren sowohl Israel als auch die Palästinensergebiete für das Jahr 2015 auf den hinteren Plätzen. So befindet sich Israel auf Platz 101 und die Palästinensergebiete auf Platz 140 von 180 geprüften Ländern. Mit Sorge sieht Blogger Matar, wie das Meinungsspektrum der Gesellschaft immer kleiner und die Arbeitssituation für Journalisten immer schwieriger wird.
"Die Medien in Israel nähren sich alle immer mehr dem rechten Flügel an. Kein Wunder, da sich auch die Gesellschaft immer stärker nach rechts orientiert. Die Regierung mischt sich zudem öfter in Angelegenheiten der Medien ein. Netanjahu hat sich gerade entschieden, Minister für Kommunikation zu werden. Eine Rechtsbewegung ist für die meisten Medienhäuser also bloß eine Art Schutzmaßnahme, um sich vor weiteren Vorstößen der Regierung zu schützen."
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat seit 2014 auch das Amt des Kommunikationsministers inne. Damit hat er Einfluss auf Internetprovider, die Zulassung von privaten Sendern und das Management der öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiokanäle. Dadurch wird kritische Berichterstattung über die Regierung schwieriger. Privatmenschen unterliegen diesem Einfluss nicht. Ihre Augenzeugenberichte auf Twitter, in Blogs und in Youtube-Filmen gewinnen somit an Bedeutung. Auch für die Kommunikation über die Grenzen hinweg – zwischen Israelis und Palästinensern. Das hofft zumindest Hillel Schenker. Der langjährige Zeitungsredakteur erzählt im grünen Gan Meir Park – im Herzen Tel Avivs – von den Vorteilen der bloggenden und filmenden Bürger.
Palästinenser dokumentieren eigenes Leben
"Offenheit! Die israelische Gesellschaft muss die Dinge sehen können. Das ist die Essenz von Bürgerjournalismus: Ein Individuum muss die Möglichkeit haben, eigene Belange zu dokumentieren und sie per Internet, Fernsehen oder Facebook in alle Winde zu streuen. In diesem Gebiet gibt es sehr wichtige Kooperationen zwischen Israelis und Palästinensern: Die NGO B’tselem hat z. B. Kameras an Palästinenser verteilt. Ein wundervolles Projekt. Damit können die palästinensischen Bürger ihr Leben und die Menschenrechtsverletzungen, denen sie ausgesetzt sind, dokumentieren."
Seit 2007 verteilt die israelische Nichtregierungsorganisation B'tselem mit Sitz in Jerusalem Videoausrüstung, Mikrofone und Fotoapparate an Bürger im Westjordanland und im Gazastreifen. Der Kopf der Initiative ist Yoav Gross. Ein umtriebiger Typ, der am einfachsten über das Internet zu erreichen ist.
"Die meisten Aufnahmen zeigen den Alltag unter der Besatzung. Soldaten klopfen zum Beispiel an die Tür und durchsuchen anschließend die Häuser. Die Kamera ist immer dabei. Das hat auch den Vorteil, dass die Soldaten weniger Gewalt anwenden und dem Haus und der Familie weniger Schaden zufügen. Die Kamera beschützt die Menschen; sie gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit und maßregelt die Soldaten und ihr Verhalten."
Mehr als 1000 Videos sind mittlerweile bei B’tselem eingegangen. Anschließend werden sie entweder auf dem eigenen Youtube-Kanal publiziert oder direkt an traditionelle Massenmedien weitergegeben. Dabei vertritt die NGO eine klare Agenda und ergreift deutlich Partei. Neutralität sei nicht das wichtigste im Bürgerjournalismus, er habe andere Vorteile, sagt Yoav Gross.
"Im Bürgerjournalismus haben wir die wichtige Funktion, an Orten zu sein, an sich denen die Medien – auf jeden Fall die israelischen aber auch die internationalen Medien – eigentlich nie aufhalten. Oft finden sie eine bestimmte Geschichte nicht mehr spannend genug. Sie sind sehr schnell gelangweilt von Themen – was jedoch nicht heißt, dass die Dinge nicht mehr passieren. Sie mögen gerne Stories, die zu einer öffentlichen Kontroverse führen oder Videos, die besonders blutig sind. Oder aber sie gehen nicht, weil es zu weit ist, sie kein Geld oder kein Personal haben. Aber dann sind wir da! Wir haben ein ganzes Archiv voller Bilder und Geschichten. Wir füllen ein schwarzes Loch. In Gaza aber auch im Westjordanland. Hebron ist zum Beispiel ein Ort, über den nie gesprochen wird. Es ist eine sehr, sehr dunkle Wirklichkeit. Aber wir sind da. Wir füllen ein Loch, eine Lücke, die von den israelischen Medien nicht abgedeckt wird."
Kritik am Bürgerjournalismus
Die Euphorie von NGO-Kopf Yoav Gross, Zeitungsredakteur Hillel Schenker und Blogger Haggai Matar für Bürgerjournalismus kann Mohammad Hamayel nicht teilen. Der palästinensische Journalist lebt und arbeitet im östlichen Teil Jerusalems und im Westjordanland. Er glaubt, dass Amateure nur Gerüchte streuen und den Konflikt zusätzlich anheizen.
"Also, ich sitze bei mir zuhause, entweder in Ramallah oder in Jerusalem, je nachdem wie heiß die Dinge gerade in Jerusalem sind. Und plötzlich kriege ich einen Anruf wegen Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und dem israelischen Militär in der Tur-Nachbarschaft. Und ich denke mir: Wie konnte ich davon gar nichts mitkriegen? Ich meine, ich bin doch gerade in Jerusalem! Also mache ich ein paar Telefonanrufe, um alles zu überprüfen. Ich rufe alle an, die ich in der Gegend kenne und frage: Hey Abdullah, was geht gerade im Tur-Viertel? Und er darauf: Wieso, was meinst du, was soll im Tur Viertel gehen? Alle sitzen herum, betrinken sich oder kiffen, alles ist cool, das Wetter ist gut. Sowas ist mir nun schon einige Male passiert."
Für Hamayel stellen die selbsternannten Redakteure eine Bedrohung für die Seriosität und die Professionalität des Journalistenberufs dar. Oft fehlt die Objektivität, Bilder sind mitunter gefälscht, der ethische Kodex ist zweifelhaft.
"Bürgerjournalismus als Grundidee ist großartig, aber leider etwas zu locker, wenn es um den Inhalt geht. Unsere Glaubwürdigkeit ist unsere Existenzgrundlage, aber wenn du nur ein hitziger Student bist und Dinge verbreitest, die nicht korrekt sind, bringst du uns alle in Verruf. Ich kann nicht mit Schwachsinn arbeiten, ich brauche Fakten!"
"Jeder Idiot kann ein Bild posten! Als der Gaza Krieg begonnen hat, sahen wir plötzlich so viele Bilder von toten Babys. Die meisten davon stammen eigentlich aus Syrien. Dann hatten sie plötzlich ihre eigenen, schrecklichen Fotos. Aber die Art und Weise, wie sie genutzt wurden, das war Propaganda. Meiner Meinung nach hilft es niemanden, Bilder von Kinderleichen zu posten. Vor allem wenn man nicht nachprüfen kann, woher die Fotos kommen. Das manipuliert die Menschen doch nur."
Journalistisches Handwerk lernen
Sarah Perles Büro liegt am Dizengoff Boulevard in Tel Aviv, einer der lärmenden Adern der Mittelmeer-Stadt, gesäumt von Boutiquen, Restaurants und Kunst-Galerien. Gerade einmal vor zwei Monaten geschah hier ein blutiges Attentat, bei dem zwei Menschen getötet und acht verletzt wurden.
Sarah Perle arbeitet hier gemeinsam mit Journalisten aus dem gesamten Nahen Osten am Online-Programm "Yallah Citizen Journalism". Auf einer Plattform werden junge Blogger und Bürger im Umgang mit journalistischem Handwerkszeug, mit dem Schnitt von Audiomaterial, Kameratechnik und dem Schreiben für Plattformen wie Twitter und Facebook trainiert.
"Das sind alles freie Werkzeuge im Internet, die jeder nutzen kann. Auch die Regierungen nutzen die Techniken, auf beiden Seiten. Hamas nutzt es. Und die IS-Miliz benutzt es sogar sehr gut! Wir müssen sie online mit ihren eigenen Waffen schlagen."
Die Gefahren des Bürgerjournalismus sind der Israelin Sarah Perle dabei bewusst. Ist der Inhalt wahrheitsgemäß? Darf man solche Bilder zeigen? Welche Konsequenzen hat eine Veröffentlichung für den Urheber? Bürgerjournalismus sei eben unberechenbar, vor allem in Krisenzeiten. Und doch habe der direkte Austausch besonders für Israelis und Palästinenser, für Juden und Muslime – hier im Nahen Osten – eine besondere Bedeutung und viel Potential.
"Wer kennt schon die Geschichten der Menschen? Wir sprechen immerzu von Arabern und hören von Juden, aber ihre Geschichten kennen wir nicht. Deswegen ist es so leicht, Angst zu bekommen – der andere ist kein Mensch mehr, er ist ein Monster, er ist bösartig. Aber wenn wir den Leuten echte Geschichten anbieten, bringen wir sie dazu, zu begreifen: Ja, das sind auch Menschen, das sind Mohammed oder Nur oder Jehuda und sie haben etwas zu erzählen. Was wir also tun, ist dem Nahen Osten ein menschliches Gesicht zu geben."