Gegenöffentlichkeit mit Gewinn?
Die etablierten Medien in Polen scheinen auf Linie gebracht und nicht nur die öffentlich-rechtlichen Sender wurden zu Staatsmedien. Um diese Schieflage auszugleichen, gründeten einige Journalisten unabhängige Medieninitiativen - und nahmen so ihr Schicksal in die eigene Hand.
"Praga" ist ein angesagter Stadtteil in Warschau. Ständig machen hier neue Bars, Clubs, Cafés und Hostels auf. Olga und ihre Freundin Nina kommen oft hierher – Olga arbeitet als Fotomodell, Nina als Fotografin. Aus dem Club, vor dem sie stehen und rauchen, dröhnt laute Rockmusik. Wenn man sie fragt, welche Medien sie nutzen, antwortet Olga:
"Um mich über das weltweite Geschehen zu informieren, lese ich den 'Guardian', aber eher selten. In Bezug auf Polen informiere ich mich über das Internet, vor allem über Facebook und Instagram. Öffentlich-rechtliches Fernsehen schaue ich gar nicht. Das ist wie ein Hirntumor, wirklich, wie ein Hirntumor."
In der Tat sucht man kritische Stimmen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vergeblich. Die meisten empfinden das Programm inzwischen als Sprachrohr der Partei "Recht und Gerechtigkeit" PiS, die von Jaroslaw Kaczynski geführt wird.
Etablierte Medien als Kaczynskis Fenster zur Außenwelt
"Das traditionelle Radio und Fernsehen wird früher oder später aussterben. Junge Leute nutzen es heute schon kaum mehr. Leute, die die Regierung nicht unterstützen, sagen: 'Das ist Kaczynskis Fenster zur Außenwelt. Damit will ich nichts zu tun haben.' Meiner Meinung nach müssen sie sich unbedingt ändern. Vor allem müssen sie sich von den alten Strukturen lösen, weil sie nicht mehr in die aktuelle Gesellschaft passen."
Das sagt Medienwissenschaftler Michal Glowacki. Er ist Dozent an der Universität Warschau und hat das Projekt "Creative Media Clusters" ins Leben gerufen, bei dem Medien und Kulturinstitutionen voneinander lernen sollen.
Geht es nach der 25-jährigen Olga, bräuchte es überhaupt keine klassischen Medien mehr.
"Ich finde, Zeitungen sind überhaupt nicht nutzerfreundlich. Wenn ich mal eine lesen möchte, dann brauche ich etwas, womit ich sie transportieren kann. Bei meinem Handy ist es anders: Es ist immer da und ich habe immer Internet. Das heißt, ich kann mich ganz schnell informieren, indem ich einfach herunterscrolle."
Immer mehr Zuspruch für Medien-Startups
So radikal sehen das natürlich nicht alle Polen. Aber: Sie schauen sich zunehmend nach Alternativen um. Und so ist es zu erklären, dass die Medien-Startups, die seit 2015 verstärkt gegründet wurden, immer mehr Zuspruch in der Bevölkerung erfahren. Denn das größte Problem, seitdem die PiS an der Macht ist, ist die unübersehbare Polarisierung.
"Es gibt viele Leute, die behaupten: In Polen herrscht Pressefreiheit, weil egal welche Position man selber vertritt – pro oder contra Regierung – man kann ja die Medien auswählen, die die eigene Haltung widerspiegeln. Aber es geht vielmehr um die Vielfalt, die es immer gegeben hat und die jetzt leidet. Die Pressefreiheit ist also noch immer im Aufbau."
Das hat damit angefangen, dass die PiS Ende 2015 ein Mediengesetz verabschiedet hatte, wonach sie zentrale Posten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit ihren Gefolgsleuten besetzen kann. Und es geht weiter, indem liberale Medien wie die größte Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" keine Anzeigen von regierungsnahen Unternehmen mehr bekommen, weil sie regierende Politiker regelmäßig kritisieren. Lautstark Kritik äußert auch "OKO", zu Deutsch "Auge".
OKO.press - erfolgreichstes Medien-Startup Polens
Ich fahre in den Süden von Warschau. In einer Seitenstraße befindet sich ein Wohnkomplex mit vier separaten, unscheinbaren Häusern. Die Gittertür am Eingang steht offen, ein Schild sucht man allerdings vergeblich.
Im obersten Stockwerk des ersten Hauses befinden sich die Räume von "OKO.press". Redakteurin Agata Szczesniak, braune Haaren, feuerrotes Kleid, führt mich herum. Schließlich nehmen wir im Fernsehstudio Platz.
"Wir liefern der Gesellschaft vertrauenswürdige Informationen. Unser Hauptgeschäft ist, dass wir Fakten checken und investigative Recherchen betreiben. Das heißt, wir schauen uns jeden Tag an, was die Politiker sagen und checken, ob es wahr oder unwahr ist und ob sie versuchen, damit die Öffentlichkeit zu täuschen."
Im Sommer 2016, ein halbes Jahr nach dem Regierungsantritt der PiS, ging das Projekt an den Start. Seitdem ist es zum erfolgreichsten Medien-Startup Polens aufgestiegen.
"Grundsätzlich hatten wir den Eindruck, dass so etwas in Polen gebraucht wird. Aber natürlich wird es gerade jetzt besonders gebraucht. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass wenn Populisten oder Menschen, die die Grundrechte verletzen, an der Macht sind, so ein Medium noch viel mehr nachgefragt ist als wenn das nicht der Fall wäre."
Insgesamt machen freiwillige Spenden 85 Prozent des Gesamtbudgets aus, das 32.000 Euro monatlich beträgt. Derzeit spenden jeden Monat 6.500 Menschen zwischen zehn und 500 Zloty – umgerechnet zwischen zwei und 120 Euro.
Direkter Dialog begeistert das Publikum
"Das Geschäftsmodell sieht so aus, dass wir vertrauenswürdige Informationen liefern und Leute uns dafür bezahlen. Das heißt, wir bauen so etwas wie eine Community auf: Die Menschen fühlen sich verantwortlich für das Medium, das sie finanzieren."
Der direkte Dialog mit dem Publikum ist sicher das, was die Startups im Vergleich zu etablierten Medien besser machen. Sie begegnen ihren Unterstützern auf Augenhöhe. Die wichtigsten Anliegen von "OKO" sind Frauenrechte, Umwelt, Geschichte, und auch, warum der Rechtsstaat in Polen derzeit in Gefahr ist.
Im unteren Stockwerk des Büros sitzen zwei Reporter im Halbdunkel. Sie wollen nicht verraten, zu welchem Thema sie gerade recherchieren. Das sei streng geheim. Einer von ihnen ist Krzysztof Pacewicz. Der 28-Jährige hat gerade seine Doktorarbeit angefangen, als ihm "OKO.press" einen Redakteursvertrag angeboten hat.
"Wenn etwas richtig Großes passiert – wie aktuell die Überlegungen, das Abtreibungsgesetz zu verschärfen – können wir das Thema mit unterschiedlichen Formaten beleuchten. Das ist bei traditionellen Medienhäusern nicht so ohne weiteres möglich. Also können wir zum Beispiel nicht zehn Prozent unserer Leute darauf ansetzen sondern 60 Prozent. So können wir schnell darauf reagieren, was die Leute interessiert.
Normalerweise haben wir sieben oder acht Artikel am Tag, was nicht viel ist, aber wenn wir uns die Interaktionsraten auf Facebook anschauen, sehen wir, dass wir die gleichen Zugriffszahlen haben wie beispielsweise 'Gazeta Wyborcza'. Das heißt, obwohl wir viel weniger Texte publizieren, publizieren wir offensichtlich die Texte, die die Leute am meisten interessieren."
Die Anschubfinanzierung kam übrigens vom Verlagshaus "Agora", wo auch die größte polnische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" erscheint, sowie dem sozialliberalen Wochenmagazin "Polityka".
"Gazeta Wyborcza" fördert Medienplattformen
Das Gebäude von "Agora" ist keine zehn Jahre alt. Außen ist es mit schicken Holzpaneelen verkleidet. Innen eröffnet sich ein facettenreiches Universum – hier ein Rock-Radio, da ein Musiklabel samt goldenen Schallplatten. Zuzanna Ziomecka hat das Projekt "NewsMavens" – zu Deutsch News-Experten – ins Leben gerufen, eine Plattform, bei der europaweit Journalistinnen auswählen, was die relevantesten Artikel des Tages sind. Ihr Büro umfasst eine kleine Parzelle im zweiten Stock.
"Ich bin überzeugt, dass es Themen, Nuancen und Geschichten gibt, die näher an den Erfahrungen von Frauen dran sind als an den Erfahrungen von Männern. Das heißt, unser Konzept ist, ein Tabu zu brechen und wirklich einen Unterschied zu machen. Ein Newsroom, der nur aus Frauen besteht und Frauen in unterschiedlichen europäischen Ländern erreichen will, erzählt eine andere Geschichte, darüber, wo wir stehen als die Massenmedien, bei denen Frauen noch immer unterrepräsentiert sind."
Diese Überzeugung teilt sie mit Google. Aus dem Topf der "Digital News Initiative" hat sie knapp 500.000 Euro als Anschubfinanzierung bekommen. Damit will sie ein Jahr lang, bis zum Herbst 2018, die Marke aufbauen und dann dazu übergehen, die Leser zur Kasse zu bitten.
"Ich denke, Europa ist so einzigartig, weil es vielfältig ist. Aber es mangelt fundamental an Neugierde füreinander, die mich überrascht und die mich in meiner täglichen Arbeit auch traurig stimmt."
Derzeit sind Journalistinnen aus 17 Medien an Bord. Darunter "The Irish Times" aus Irland und der "Standard" aus Österreich. Zuvor hat Zuzanna Ziomecka für das Frauenmagazin "Wysokie Obcasy" – zu Deutsch "hohe Absätze" – gearbeitet, das es seit 19 Jahren auf dem polnischen Markt gibt:
"NewsMavens" ist eine viel größere Herausforderung, weil die meisten noch nie davon gehört haben und sie sich nicht an den Namen erinnern können. Offenkundig weiß niemand – außer mir – was 'Mavens' bedeutet. Das ist der Grund, warum wir wohl den Namen ändern werden."
Der neue Name wird also bald "NEWSWOMEN" lauten. Seit einigen Jahren experimentiert auch die traditionelle "Gazeta Wyborcza" mit neuen Formaten. Deshalb vergleicht Zuzanna Ziomecka die Zeitung mit einem Schwan.
"Es braucht unglaubliche Anstrengung"
"Wenn man sich anschaut, was die Zeitung alles gemacht hat, die ganzen Innovationen: Es gibt vier Startups innerhalb des Unternehmens, von einem Factchecking-Projekt namens 'Sonar' über 'NewsMavens' bis hin zu einer Eventagentur und anderen Projekten, die in der Pipeline sind. Von außen sieht man große Erfolge wie die 133.000 Digital-Abos, was in der Region, in der wir uns befinden, rekordverdächtig ist.
Da ist also dieser Schwan, der vor Würde nur so strotzt, aber wenn man unter die Wasseroberfläche schaut, sieht man, dass er wie verrückt mit seinen kleinen Füßen paddelt. Das heißt, es braucht unglaubliche Anstrengung, damit sich die Zeitung tatsächlich nach vorne bewegt."
So verloren in den vergangenen Jahren mehr als 300 Mitarbeiter ihren Job. Dadurch, dass regierungsnahe Unternehmen – und auch die Regierung selbst – keine Anzeigen mehr schalten, hat sich die wirtschaftliche Situation der Zeitung deutlich verschärft. Sie steht zwar nicht vor dem Aus wie die beiden ungarischen Zeitungen "Magyar Nemzet" und "Nepszabadsag", aber einfacher wird das Geschäft mit Journalismus in Polen sicher nicht.
Das weiß auch Urszula Jablonska. Die schlanke, groß gewachsene Frau arbeitet seit zehn Jahren als freie Journalistin und sagt, die Situation werde immer prekärer.
"Die Verlage bezahlen immer weniger für Artikel. Das heißt, es ist inzwischen ziemlich schwierig, damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wenn man seine laufenden Kosten decken will, muss man sehr viele Texte innerhalb eines Monats produzieren und das heißt, man kann sich kaum mehr größeren Projekten zuwenden."
Ich treffe Urszula Jablonska im Buchladen "Wrzenie Swata", im Zentrum von Warschau. Vor acht Jahren wurde er von zwei bekannten polnischen Journalisten gegründet. Schnell wurde er zum beliebten Treffpunkt von Schriftstellern und Reportern. Am Tresen liegt das aktuelle Buch von Urszula Jablonska. Es handelt von Menschenhandel in Südostasien. Die Recherche in Thailand dauerte ein halbes Jahr. Der Verlag hat die Reisekosten übernommen – eine polnische Tages- oder Wochenzeitung hätte dafür gar nicht die Ressourcen.
Reporter suchen neue Finanzierungsmöglichkeiten
"Die Situation wird immer schwieriger, wenn man einen umfangreiche und gut recherchierte Geschichte schreiben will, weil das sehr viel Zeit und Geld kostet. In der Regel muss man dafür reisen, wenn man nicht nur aus Warschau berichten will, sondern aus Europa oder weltweit. Früher wurden Reporter genau dafür angestellt, das war natürlich sehr viel besser. Heutzutage müssen Reporter, die sich der langen Form des Journalismus verschrieben haben, andere Wege der Finanzierung suchen."
Deshalb hat sie 2012 "Reporterow Rekolektyw", eine Vereinigung von zehn Reportern, mitgegründet. Sie bewerben sich gemeinsam um Stipendien und bringen Bücher heraus – zum Beispiel eine Reportage-Sammlung über die Berliner Mauer.
"Viele Menschen, die keine tiefgründigen Recherchen mehr in Zeitungen oder Zeitschriften finden, aber auch mehr über die komplexen Zusammenhänge weltweit erfahren wollen, kaufen Bücher."
Deshalb gehen auch immer mehr Reporter in Polen dazu über, Bücher zu schreiben. Manche unken schon, es gebe derzeit viel zu viele Bücher auf dem Markt. Und gleichzeitig sind da immer mehr alternative Quellen, also Medien-Startups wie "OKO.press" oder seit Januar 2018 das monatliche Meinungsmagazin "Pismo".
"Sie werden zunehmend wichtiger. Grundsätzlich finde ich es gut, dass die Journalisten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und versuchen, ihre Arbeit anderweitig zu organisieren. Die Kehrseite der Medaille ist, dass sie auch ihre eigenen Manager sein müssen. Das bedeutet in jedem Fall Mehrarbeit und dass man sich nicht nur aufs Schreiben konzentrieren kann. Man muss sich beispielsweise auch ums Marketing oder den Kontakt zu Kunden kümmern. Das ist auf jeden Fall anders, als wenn man einfach nur bei einer Zeitung angestellt ist."
Für die Wirtschaft spielen diese Medien bislang kaum eine Rolle. Dafür sind sie zu klein und ihr Finanzierungsmodell zu unsicher. Aber: Sie lösen ein Umdenken in der Medienbranche aus. Denn an den etablierten Verlagen gehen die vielen Projekte nicht spurlos vorbei, konstatiert Medienwissenschaftler Michal Glowacki.
"Ich sehe sie als frische, neue Bewegung, die das Potenzial hat, einen echten Wandel herbeizuführen. Ich glaube, Medien können Veränderungen wesentlich vorantreiben, in dem sie die Gesellschaft mobilisieren."