Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinen der menschlichen Beziehungen wie im Großen der Politik.
Im Visier der Hauptstadtpresse
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Wer kein Liebling der Medien ist, muss einstecken können: Die Hauptstadtpresse, die gerne besonders heftig austeilt, habe sich nun auf CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer eingeschossen, kritisiert die Religionsphilosophin Gesine Palmer.
Manchmal denke ich, ich spreche gar nicht Deutsch. Oder die Politik spricht nicht Deutsch. Jedenfalls scheint die politische Sprache Nuancen zu haben, die Ungeübten verborgen bleiben. Wer sich hier in der Hauptstadt mit ihren politischen Skandalen und Skandälchen zurechtfinden will, muss erstmal ein neues Idiom lernen, nämlich "Hauptstadtpolitisch". Nur, wo wären die Sprachkurse, die man da absolvieren müsste?
Tja, sagen die Expertinnen und Experten, entweder man hat das Gespür, oder man hat es eben nicht. Richtig zu lernen, sei das eigentlich nicht. Wirklich nicht? Das wäre ja fast eine gute Nachricht. Jedenfalls für die, die es einfach haben, das Gespür. Eine schlechte Nachricht hingegen wäre es für die, die es nicht haben.
Die CDU-Vorsitzende und ihre Fettnäpfchen
In eine solche Position wird seit ihrer Wahl zur CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer kontinuierlich hineingeschrieben. Sie könne nicht mehr zur Höhe ihrer Bewerbungsrede aufschließen, heißt es in der Hauptstadtpresse, sie finde Fettnäpfchen, wo außer ihr niemand sie vermutet hätte.
Und klar: die Karnevalszoten über Intersexuelle, die Verwechslung von Schuldenbremse und schwarzer Null, die von vielen als hilflos empfundene Reaktion auf das Rezo-Video über die "Zerstörung der CDU" – das alles ließ sich leicht zu einer Pannenserie komponieren. Für die Saarländerin sei die Bundespolitik wohl doch etwas zu groß, konnte man lesen, denn hier in Berlin werde "jeder Halbsatz der CDU-Vorsitzenden auf die Goldwaage gelegt".
Aber ist das wirklich eine Goldwaage, auf der da vermessen und gewogen wird, was AKK sagt? Spätestens bei dem Spektakel um den vermeintlichen Parteiausschluss von Hans-Georg Maaßen habe ich daran doch erhebliche Zweifel bekommen.
Als die Tagesschau vermeldete, die CDU-Vorsitzende erwäge einen Ausschluss des Lieblingswahlkämpfers der Werte-Union, da waren genau vier Halbsätze erstaunlich eindeutig gemacht worden: "Es gibt aus gutem Grund hohe Hürden, jemanden aus einer Partei auszuschließen. Aber ich sehe bei Herrn Maaßen keine Haltung, die ihn mit der CDU noch wirklich verbindet."
Die Ich-Form ist eine Einladung zum Gespräch
Wäre Annegret Kramp-Karrenbauer die Kaiserin einer Monarchie, so könnte ich verstehen, dass ihre Sätze so ausgelegt werden, wie sie übermittelt wurden. Denn in autoritären Regierungen genügt eine Andeutung des Herrschers, um die Untertanen erzittern zu lassen - oder in die gefährliche Revolte zu treiben. Was der absolute Herrscher in der Ich-Form sagt, das ist Gesetz. So leben wir hier aber gar nicht, nicht im Saarland, nicht in Berlin und nicht einmal in der CDU.
Tatsächlich glaube ich immer noch, in einer Demokratie zu leben. Und ich dachte eigentlich, in einer Demokratie gelten die Gesetze der vermittelnden Kommunikation und des Dialoges. In der Mediation, der Lehre von der vermittelnden Kommunikation, gilt doch als erster Grundsatz: "Bleiben Sie bei sich!" Denn: Nur und gerade dann geben Sie dem anderen Raum.
In der Demokratie ist also die Ich-Form genau nicht die Dekret-Form, sondern die Einladung zum Dialog. Die Parteivorsitzende sagt: "Ich sehe bei Mitglied M. keine Haltung." Das Mitglied M. muss nicht erschrecken, sondern ist eingeladen, darauf zu antworten, etwa so: "Liebe Annegret, dann zeige ich Ihnen mal, was mich mit der CDU verbindet" Das ginge durchaus ohne großes Spektakel im gemeinsamen Gespräch.
Die Goldwaagen der Hauptstadtschranzen
Vielleicht bin ich ja naiv. Aber manchmal würde ich mir wünschen, dass die hauptstädtischen Goldwaagen so genau wären, wie sie zu sein vorgeben. Es würde sich dann zeigen, dass die Hauptstadtschranzen manchmal zu sehr darauf aus sind, den Mächtigen fertige Urteile von den Lippen abzulesen, auf die sie dann - je nach Geschmack - mit Unterwerfung oder Empörung reagieren können.
Etwas mehr demokratisches Selbstbewusstsein in der Interpretation der Äußerungen des politischen Personals, das würde nicht nur der im Grunde unübersehbar pragmatischen und demokratischen Sachorientierung der CDU-Vorsitzenden gut anstehen, sondern auch der "vierten Gewalt", den Hauptstadtberichterstatterinnen und -berichterstattern.