Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaften an der Universität Tübingen. Er forscht zur Dynamik öffentlicher Empörung, Medienskandalen und Medienethik. Buchveröffentlichungen: "Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung" (Hanser 2018), "Die Kunst des Miteinander-Redens: Über den Dialog in Gesellschaft und Politik" (mit Friedemann Schulz von Thun, Hanser 2020).
"Die Mehrheit der Gemäßigten schweigt viel zu laut"
29:50 Minuten
Wie soll man mit Extremisten reden? Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen hat Grundrezepte entwickelt, wie der Dialog in einer gespaltenen Gesellschaft gelingen kann. Dazu gehören Verständnis und harte Konfrontation.
Im öffentlichen Diskurs droht ein "Teufelskreis der gegenseitigen Totalabwertung". Die Kraft von Argumenten und Vernunft wird oft überschätzt. Und in der Politik fehlt es an "programmatischer Polarisierung". – Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zeichnet das düstere Bild einer gespaltenen Gesellschaft, die verlernt hat konstruktiv zu streiten. Aber er sei trotzdem optimistisch, betont Pörksen: "Ich bin ein Gegner der pauschalen Untergangsbehauptung: Diskursruin, postfaktisches Zeitalter, Ende von Respekt und Rationalität, nur noch Spaltung und Zerwürfnis. Das sehe ich keineswegs so."
Echte Sachfragen statt Spektakel
Er beobachte eine tiefe Sehnsucht nach dem Gespräch. "Wir Menschen sind die Dialog-Tiere und wir sehnen uns nach dem Verstehen, nach dem Verstandenwerden und nach dem kommunikativen Austausch. Wir gehen ein ohne den Sauerstoff des Dialogs." Deshalb sei es wichtig, im Gespräch nicht unbedingt überzeugen zu wollen, sondern verstehen zu wollen, wie das Gegenüber tickt. Pörksen formuliert: Das Zögern und das Abwarten neu lernen, den Reflex des kommentierenden´Sofortismus`unterdrücken lernen, erst den zweiten Gedanken denken, bevor man den ersten äußert." Solche Regeln seien zwar idealistisch. "Aber ohne ein nötiges Minimum an Idealismus kann auch eine liberale Demokratie und das kommunikative Miteinander nicht funktionieren."
"Wenn man jemanden wirklich kränken will, wenn man den Diskurs und die Debatte tatsächlich ruinieren will, dann wähle man die pauschale Attacke." Wer Formeln wie "Sie als hysterische Feministin" oder "Sie als weißer alter Mann" verwende, kränke ganz unmittelbar, weil sich das Gegenüber völlig zurecht nicht wirklich gesehen, nicht wirklich erkannt fühle, sondern pauschal abgewertet.
Statt Spektakel-Polarisierung fordert Pörksen in der gesellschaftlichen Mitte weniger Aufregung um Oma-Gate, Faschingswitze, angebliche Grenzüberschreitung – und mehr "programmatische Polarisierung". Als Beispiel nennt er: Grundsatzdebatten über Konzepte, ein Konzept der digitalen Mündigkeit, Integrationsideen, die greifen und funktionieren, auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine ökologische Modernisierung der Gesellschaft tatsächlich gelingen könne. "Das sind doch große Sachfragen."
Menschen sind Experten für Entlarvung von Heuchelei
Wichtig sei, diese Regeln tatsächlich ernst zu nehmen: "Menschen haben Antennen. Menschen merken, wenn die Dialoganstrengungen nicht ernst gemeint sind. Wir alle sind im Grunde genommen Experten bei der Entlarvung von Heuchelei." Daher warnt er vor politischen Floskeln wie "die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen". "Das ist ja eine mitunter pseudotherapeutische Rhetorik, die im Grunde genommen dem anderen signalisiert, man betrachtet ihn nicht als selbstständiges Gegenüber, sondern möchte ihn zunächst eigentlich auf die Couch legen." So eine Kommunikation sei asymmetrisch und unglaubwürdig.
Der Kommunikationsforscher empfiehlt deshalb, immer erst zu überlegen, wie gesprächsbereit man selbst ist. Dabei helfe es, zwischen Verstehen, Verständnishaben und einverstanden sein zu unterscheiden: "Verstehen soll man den anderen immer, egal, wer er ist. Verständnis haben für seine Empfindlichkeiten? Vielleicht. Einverstandensein ist eine vollkommen offene Frage. Dieser Dreischritt von Verstehen, Verständnis, Einverständnis hilft mir selbst, die eigene Dialogbereitschaft zu klären." Dadurch werde auch klar, mit wem kein Dialog möglich sei. Als Beispiel nennt er den vom Verfassungsschutz als "rechtsextrem" bezeichneten AfD-Politiker Björn Höcke. Bei ihm sei kein offener Dialog möglich, stattdessen sei klare Konfrontation angebracht. Mit dessen Wählern dagegen solle weiter das ehrliche Gespräch gesucht werden, so Pörksen.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Wir reden heute über die Spaltung der Gesellschaft, über die Zunahme der Extreme, darüber, dass sich manche Menschen irgendwie scheinbar aus dem rationalen Dialog komplett verabschiedet haben und vor allem über die Frage, ob wir diesen Dialog wiederherstellen können. Wenn wir jetzt über Extreme reden, Herr Pörksen, dann beginne ich gleich mal mit einem Extrem, nämlich mit der Frage: Haben Sie heute schon Chlorbleiche getrunken?
Pörksen: Nein. Aber Sie spielen vermutlich auf die Coronaviruspanik an. Im Netz kursiert die Falschmeldung, das sei ein absolut totsicheres Mittel zur Bekämpfung des Virus. Es ist, glaube ich, ein absolut todsicheres Mittel, um krank zu werden.
Deutschlandfunk Kultur: Mit Sicherheit. Ich habe das jetzt natürlich auch nicht ernst gemeint, aber manche meinen das ernst. Das sei ein effektives Mittel gegen das Virus. Wenn wir jetzt dieses Gespräch wirklich führen würden, dann würde ich Ihnen sagen: "Na ja, Herr Pörksen, Sie wissen aber schon, dass die offiziellen Nachrichten natürlich zensiert und kontrolliert sind, damit Sie das eben nicht erfahren, wie hilfreich die Chlorbleiche ist." – Was antworten Sie mir da?
Nachdenken und Brücken bauen
Pörksen: Da denke ich erstmal nach und überlege: Wie könnte eine kommunikative Brücke in Ihre Richtung aussehen. Denn da vertreten Sie natürlich, lieber Herr Rabhansl, es wird jetzt ernst, eine Verschwörungstheorie. Und Verschwörungstheorien haben die Eigenschaft, dass sie selbstimmunisierend sind, immun gegen ihre Widerlegung. Es sind Weltformeln des Übels. Selbst wenn ich Ihnen sage, "es gibt gar keine Indizien für diese Verschwörung", sagen Sie: "Eben die Tatsache, dass es gar keine Beweise gibt, ist der Beweis für die absolute Raffinesse der Verschwörer, die garantiert und so geschickt alle Spuren verwischen."
Ich müsste erstmal nachdenken. Aber ich könnte dann doch versuchen, im vielleicht etwas künstlichen Bemühen eine Brücke zu bauen, sagen: "Ja, Sie sind hier sehr skeptisch. Tatsächlich, man soll nicht alles glauben, lieber Herr Rabhansl. Aber in dem Fall übertreiben Sie. In dem Fall gibt es wirklich keine Belege."
Deutschlandfunk Kultur: Da würde ich mich schon gar nicht richtig ernstgenommen fühlen und würde Ihnen antworten: "Herr Pörksen, Sie als Professor, Sie sind ja ein Staatsbediensteter, und wir wissen doch beide, Sie dürfen gar nicht sagen, was wirklich Sache ist." – Und nun?
Pörksen: Dann würde ich genau das sagen, was Sache ist: "Sie kommen nicht weiter, wenn Sie mich pauschal etikettieren und so tun, als würde ich Ihnen" – dann ist das Gespräch tatsächlich unmöglich – "nur noch Vorgefiltertes mitteilen. Ich sage genau das, was ich denke, jetzt in diesem Moment im Radio. Was Sie da von mir denken oder welche Klischees Sie mir aufpappen, das hat erstmal wenig mit mir zu tun." Ich würde mich wehren gegen diesen Versuch, in einer Klischeeschublade weggesperrt zu werden.
Deutschlandfunk Kultur: Sie würden sich dagegen wehren. Was mir ein bisschen bedenklich erscheint an diesem gespielten Dialog, dass der Eindruck bei mir entsteht, dass die Kraft der Argumente und der Vernunft massiv überschätzt wird. – Kann das sein?
"Wir dürfen nicht resignieren"
Pörksen: Das kann sein. Trotzdem dürfen wir nicht resignieren. Denn das wäre eine eigene Gefahr, dann zu sagen, man verabschiedet sich gewissermaßen aus dem Diskurs nach dem Motto: "Den anderen kann man eh nicht erreichen. Und im Zweifel sind Emotionen viel wichtiger." Das hielte ich für falsch. Auf den unendlichen Versuch des Miteinander-Redens kommt es in einer Demokratie an. Denn die lebt von dem Gedanken der Mündigkeit und davon, dass eine ausreichend respektvolle Auseinandersetzung, einer Form der erwachsenen Meinungsverschiedenheit produktiv sein kann.
Deutschlandfunk Kultur: Das Ganze erfordert natürlich, dass wir so ein bisschen einen Schritt zurücktreten, mal sacken lassen, mal nachdenken, mal versuchen, so ein bisschen vorzufühlen. Ich habe aber den Eindruck, dass wir dazu gar keine Zeit haben. Zurzeit haben wir lauter Krisen. Es geht um eine Klimakrise. Es geht um Fluchtbewegung. Es geht um rassistische Attentate in Deutschland. – Aber wir sind für alles irgendwie viel zu beschäftigt, weil wir gerade nur an das Coronavirus denken. Den Rest ignorieren wir. Um mal nachzudenken, müsste man was sacken lassen. In Wirklichkeit aber schreit immer nur das nächste Extrem nach unserer Aufmerksamkeit. – Wie kommen wir da raus?
Pörksen: Sie haben völlig recht. Wir sind dabei, gewissermaßen als Weltgesellschaft auf den Livemodus umzustellen. Das heißt, es gibt eine Echtzeithektik, eine permanente Konfrontation mit immer anderen Auffassungen und Ansichten. Unter den Bedingungen der Vernetzung prallen große und kleine Ideologien in Hochgeschwindigkeit aufeinander. Ja. Wie kommt man da raus?
Das Zögern neu lernen, das Abwarten, den Reflex des kommentierenden "Sofortismus", so nenne ich das, zu unterdrücken lernen, also nicht sofort einsteigen, den zweiten Gedanken denken, bevor man den ersten äußert, erst prüfen, dann publizieren – das sind so ein paar Hinweise und Maximen, die helfen können – und sich klarmachen, dass die Echtzeithektik eine seriöse Gesprächsatmosphäre, jetzt klinge ich auch ein bisschen pessimistisch, gebe ich zu, kontaminiert.
"Ich bin Gegner der pauschalen Untergangsbehauptung"
Deutschlandfunk Kultur: Sie klingen ohnehin an mehreren Stellen pessimistisch in Ihrem aktuellen Buch über "Die Kunst des Miteinander-Redens". Sie schreiben auch, "die Art und Weise des Streitens und Sprechens ist der entscheidende Gradmesser demokratischer Vitalität". – Dann ist unsere Demokratie aber ziemlich am Ende, oder?
Pörksen: Nein, das würde ich nicht so sehen. Ich bin auch ein Gegner der pauschalen Untergangsbehauptung: Diskursruin, postfaktisches Zeitalter, Ende von Respekt und Rationalität, nur noch Spaltung und Zerwürfnis. Das sehe ich keineswegs so.
Schulz von Thun und ich behaupten: Wir leben eigentlich kommunikationsanalytisch betrachtet in drei Welten. Auf der einen Seite diese Welt, über die wir jetzt reden, Verschwörungstheorien, Desinformation, Hass, Hetze, Spektakel, furchtbar ist diese Welt. Aber sie besitzt medial eine ungeheure Präsenz.
Deutschlandfunk Kultur: Sie klickt.
Pörksen: Die klickt und die wird bestimmt von ganz wenigen, von der Dominanz der Lauten, der Hetzer, der Hassenden. Unser Punkt ist: Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Hetzer, die Lauten gewissermaßen das Kommunikationsklima von den Rändern aus bestimmen. Aber es gibt eben, und das ist aus meiner Sicht sehr wichtig zu betonen und findet medial nicht ausreichend statt, auch eine andere Welt, eine Welt der echten Wertschätzung, des authentischen Bemühens, der respektvollen Auseinandersetzung. So wie heute in Schulen, Universitäten, Redaktionen, Unternehmen geredet wird, wäre vor 30, 40 Jahren undenkbar gewesen.
Und dann gibt es, das wäre die dritte Welt, das dritte Diskursuniversum in dieser Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten wäre eine Welt der mitunter moralisierenden Hypersensibilität, also der totalen Empfindlichkeit. Diese drei Welten – Hass und Hetze, echte Wertschätzung, Hypersensibilität – existieren gleichsam vor sich hin, blubbernde Paralleluniversen.
"Es gibt diesen geistigen Reinigungsfuror"
Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie Hass und Hetze und vielleicht auch dieses Hypersensible jetzt eher an den extremen Rändern verortet haben und das, was Sie jetzt als Wertschätzung beschreiben – Sie behaupten, das gäbe es an den Universitäten, wobei, da stutze ich schon, da sehe ich doch gerade diese Hypersensibilität, diese Warnung man dürfte bestimmte Redner nicht mehr einladen, Triggerwarnungen vor irgendwelchen Themen, dass die gar nicht behandelt werden dürften, ohne dass man drüber schreibt "Achtung, Achtung, hier wird’s jetzt gleich ganz schlimm" –, wo sehen Sie denn da diese Wertschätzung?
Pörksen: In der Tat, Sie haben recht. Wir haben natürlich Beispiele an den Universitäten, die genau für diese Empfindlichkeit stehen, die ich hier beschrieben habe oder Sie. Ich vermute, Sie sitzen in Berlin in einem Studio. Denken Sie an den Fall der Alice-Salomon-Hochschule. Da wird ein Gedicht der konkreten Poesie, das als angeblich frauenverachtend gilt, übermalt und beseitigt in so einer Art merkwürdigen Reinigungsfuror. Ja, es gibt diese Beispiele.
Aber wenn ich daran denke, wie auch Professoren noch vor 30, 40 Jahren aufgetreten sind, mit welchen rhetorischen Einschüchterungsgesten sie gewissermaßen die gesamte Luft im Raum veratmet haben, diese Dominanzgesten sind schwächer geworden, aus meiner Sicht zugunsten eines manchmal familiären, fast kumpeligen Tonfalls, den ich genauso in Redaktionen, wie aber auch in Instituten oder Seminaren und in einzelnen Unternehmen beobachte, beobachten kann, also eine Entformalisierung der Kommunikation, die durchaus etwas Gutes hat.
"Wir haben die Welt der pauschalen Attacke"
Deutschlandfunk Kultur: Sie beschreiben das in Ihrem Buch aber als einen "Teufelskreis der gegenseitigen Totalabwertung".
Pörksen: Nein, Moment! Das wäre ein Missverständnis. Wir haben die Welt der pauschalen Attacke, die Welt von Hass und Pöbelei. Und wenn man jemanden wirklich kränken will, wenn man den Diskurs und die Debatte tatsächlich ruinieren will, dann wähle man die pauschale Attacke, dann sage man: "Ja Sie, als Journalist" oder "Sie als verkopfter Professor oder als Bewohner des Elfenbeinturms" oder "Sie als hysterische Feministin" oder "Sie als weißer alter Mann"! – In dem Moment, in dem ich solche Formeln verwende, kränke ich ganz unmittelbar, weil sich der andere völlig zurecht nicht wirklich gesehen, nicht wirklich erkannt fühlt, pauschal abgewertet fühlt.
Deutschlandfunk Kultur: Genau diese Kränkungen kommen doch aber aus diesem universitären Milieu – oder nicht?
Pörksen: Das würde ich so pauschal nicht sagen. Sehen Sie: Ich glaube, man kommt dem kommunikativen Klimawandel nur auf die Spur, wenn man sich von Großthesen oder von zu großen Thesen verabschiedet. Es gibt alles gleichzeitig. Wir erleben im kommunikativen Universum die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen: die pauschale Abwertung mal an einer Universität, die totale Empfindlichkeit mal an einer anderen Universität und das Bemühen um echte Wertschätzung und Respekt. Ich glaube, wir müssen an der Stelle dann wirklich konkret zeigen, über Beispiele reden. Denn sonst tragen wir in der Art und Weise des miteinander Redens zum weiteren Diskursruin bei, indem wir lauter Eskalationsdiagnosen – "die" Universitäten, "die" Unternehmen, "die" Schulen, "die" Professoren – formulieren.
"Mit Herrn Höcke ist kein Dialog möglich"
Deutschlandfunk Kultur: Sie fordern konkrete Beispiele. Machen wir das, reden wir über konkrete Beispiele, wechseln wir von den Unis zurück in die politischen Bereiche! Wenn Sie sagen, wir müssen respektvoller miteinander reden, wie geht das mit zum Beispiel einem Herrn Höcke, von dem der Verfassungsschutz seit dieser Woche sagt: "Er ist ein Rechtsextremer."
Pörksen: Ich glaube, da ist der Dialog nicht möglich, um es ganz klar zu sagen. Denn wenn man sich mit Björn Höcke beschäftigt, wenn man sich mit seinen Kontakten zu Rechtsextremisten beschäftigt, wenn man sich mit seinen Auftritten, seiner Schanddenkmal-Rede befasst, auch seinen Auftritten bei Demonstrationen, bei denen dann auch Neonazis mitlaufen, dann muss man erkennen und anerkennen: Dieser Mann will ein anderes Deutschland. Er attackiert auf aus meiner Sicht rassistische Art und Weise Menschen, die von anderen Kontinenten zu uns kommen, und spricht in fataler Weise.
Ich glaube, hier ist nicht Wertschätzung, Dialogbemühung, sondern klare Abgrenzung gefordert. Denn eine Gesellschaft lebt auch von Tabus. Wir werben genau für diese Doppelbewegung. Einerseits gilt es natürlich, die Tugend der empathischen Kommunikation einzuüben, die von dem wertschätzenden Bemühen um einen Brückenbau lebt. Auf der anderen Seite ist es ebenso wichtig zu sagen, was Sache ist, zu konfrontieren und da nicht verdruckst und opportunistisch sich wegzuducken.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, Sie als Kommunikationswissenschaftler sagen: "Nee, hier ist Schluss mit der Kommunikation!". – Wo ziehen Sie denn die Grenze?
Pörksen: Für mich ist diese Grenze am Fall von Björn Höcke sehr gut illustrierbar. Jemand, der sich in dieser Weise äußert, der rassistische Ideen formuliert und propagiert, der Kontakte zu Neonazis unterhält und, wir wissen ja, selbst ein AfD-Gutachten oder ein im Auftrag der AfD verbreitetes Gutachten hat, zum Teil noch unter Frauke Petri, hat es ja erwiesen, dass er eine NPD-Zeitschrift unter einem Pseudonym geschrieben hat. Zumindest ist es nicht widerlegt.
Wenn man sich dann mit ihm beschäftigt, dann wird man erkennen und anerkennen müssen, dass der Dialog hier nicht funktionieren kann. Denn in einem Dialog beginnt die Wahrheit zu zweit. In einem Dialog muss ich, wenn ich ehrlich bin und diesen Dialog wirklich will, von der Idee beseelt sein, der andere könnte recht haben. Er könnte einen Punkt haben.
"Es gilt wirklich, genau hinzuschauen"
Deutschlandfunk Kultur: Das schließen Sie bei ihm aus? Mit ihm nicht reden. Mit seinen Wählern reden?
Pörksen: Unbedingt, ja. Es kann ja viele geben, die einfach mitlaufen, vielleicht aus einer diffusen Wut, einer Angst, einem Verstörtsein, einem persönlichen Erlebnis, einer Verletzung, einer Lebensbilanz, die einem so nicht gefällt, oder dem Gefühl, im Osten oder wie auch immer pauschal abgewertet und disqualifiziert zu werden. – Hier gilt es wirklich, genau hinzuschauen. Das ist die Empfehlung, den genauen Blick wagen und dann entscheiden.
Bei Björn Höcke – ich selbst habe mein allererstes Buch über die Sprache von Neonazis und die Sprache von Rechtsextremisten geschrieben – kann ich wirklich sagen, dass ich dieses Urteil nicht vorschnell fälle, das wäre falsch, sondern mich mit seinen Artikeln, seinen Interviewbüchern, auch der Art, wie er in der sogenannten "neuen Rechten" rezipiert und massiv attackiert wird, es ist ja in vielem auch eine ganz isolierte Figur, dass ich mich damit wirklich auseinandergesetzt habe.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie jetzt sagen, "mit seinen Wählern sehr wohl reden", dann erinnert mich das an die Diskussion, die wir seit Jahren führen: "mit Rechten reden, die Sorgen der Bürger ernstnehmen", Politiker, die zu Pegida gelaufen sind, um dort den Dialog zu suchen. – Geholfen hat das nicht.
Pörksen: Nun, ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn es anders gewesen wäre. Aber ich bin in der Hinsicht auch etwas sensibilisiert, wenn man Formeln verwendet – "Zuhören auf Augenhöhe, die Sorgen der Menschen ernstnehmen"…
"Nicht das Gegenüber auf die Couch legen"
Deutschlandfunk Kultur: Was ist daran falsch?
Pörksen: Dann ist das ja so eine mitunter pseudotherapeutische Rhetorik, die im Grunde genommen dem anderen signalisiert, man betrachtet ihn nicht als selbstständiges Gegenüber, sondern möchte ihn zunächst eigentlich auf die Couch legen. Die Kommunikation ist an dieser Stelle asymmetrisch.
Worum es mir oder worum es uns geht, ist im Grunde genommen, die Dialogvoraussetzung neu zu klären, so eine Kunst des Herausfindens, wie gesprächsbereit ist man selbst und wie gesprächsbereit ist der andere, zu praktizieren. Dabei hilft es zum Beispiel – ein Vorschlag meines Mit-Autors Friedemann Schulz von Thun – zwischen Verstehen, Verständnishaben und Einverstanden-Sein zu unterscheiden. Verstehen soll man den anderen immer, egal, wer er ist. Verständnis haben für seine Empfindlichkeiten? Vielleicht. Einverstanden-Sein ist eine vollkommen offene Frage. Dieser Dreischritt von Verstehen, Verständnis, Einverständnis hilft mir selbst, die eigene Dialogbereitschaft zu klären.
Warum ist das so wichtig? Menschen haben Antennen. Menschen merken, wenn die Dialoganstrengungen nicht ernst gemeint sind. Wir alle sind im Grunde genommen Experten bei der Entlarvung von Heuchelei.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben ganz vorhin gesagt, "man müsste immer auch" – das steht am Anfang eines jeden Dialogs – "in Betracht ziehen, der andere könnte recht haben".
Wenn wir jetzt noch bei den Wählern von Höcke bleiben, was muss denn Herr Höcke noch alles sagen, Sie haben das vorhin schon ausgeführt, wie bekannt seine rechtsextremen Ansichten sind, bis Sie sagen, "na ja, wer den wählt, da kann ich nicht ernstnehmen und ernsthaft denken, der könnte vielleicht recht haben"?
Pörksen: Na ja, ich sage ja nicht, dass irgendetwas an der Position, der Positionierung von Herrn Höcke relevant ist, sondern ich sage: Wir müssen mit denen, die ihn vielleicht aus meiner Sicht aus einem Irrtum heraus, in völliger Fehleinschätzung seines tatsächlichen Extremismus gewählt haben, die müssen wir versuchen zu verstehen, vielleicht auch Verständnis für ihre Position entwickeln. Aber ob man dann einverstanden ist, ob man womöglich in einer möglichst respektvollen Art und Weise auch da die Konfrontation für angemessen hält, das steht auf einem ganz anderen Blatt.
"Es braucht immer ein Minimum an Wertschätzung"
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, auch da fehlt die Grundvoraussetzung. Auch da ziehen Sie nicht in Betracht, die könnten ja recht haben.
Pörksen: Es kommt drauf an. Wir müssten konkret werden. Wir müssten einen Einzelnen vor uns haben. Wissen Sie? Ich kann doch nicht pauschal entscheiden und gleichzeitig für den genauen Blick plädieren. Der genaue Blick setzt voraus, dass ich wirklich ein konkretes Beispiel, einen konkreten Menschen, eine konkrete Art und Weise des Miteinander-Redens vor mir habe. In dem Moment, in dem ich immer ganz grundsätzlich werde, können die Nuancen nicht mehr existieren, werden die Nuancen gleichsam gelöscht. Deswegen: Es kommt wirklich auf die konkrete Situation an.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt sehr unterschiedliche Kommunikationsmöglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit, dass ich privat über die Straße laufe und einen Menschen treffe, der komplett anderer Meinung ist als ich. Es gibt Journalisten, die Interviews führen. Es gibt Politiker, die wiederum mit anderen Politikern reden. Das sind ja komplett unterschiedliche Ebenen. Diese Regeln, die Sie jetzt formuliert haben, gelten die in allen diesen Situationen?
Pörksen: Aus meiner Sicht und aus unserer Sicht, und das ist natürlich ein idealistischer Standpunkt, könnten sie in viel mehr Situationen gelten. Wir haben ja diese öffentliche Neigung zur Spektakel-Polarisierung. Wir haben die totale Konfliktfaszination von Journalismus. Je konfliktintensiver, desto mehr stellt man gleichsam sein kritisches Bewusstsein und seine professionelle Distanz unter Beweis. Und wir glauben, und das ist der Grundgedanke dieses Buches, wir glauben, es braucht eine neue Aufklärung, eine neue Form des Miteinander-Redens. Wir haben sehr viel Wissen auf der Ebene von Individuen, von Teams, von kleinen Gruppen, von verbiesterten Ehepaaren. Und wir können dieses Wissen benutzen, dieses kommunikationspsychologische Wissen anzapfen, um den Diskurs in der Sphäre des Öffentlichen zu entgiften.
Es braucht immer ein Minimum an Wertschätzung, wenn man wirklich miteinander reden will. Es braucht ein Minimum an dialogischer Orientierung. Ich muss mich an den Argumenten des anderen orientieren, auf ihn eingehen. Wenn ich nur mit Blick auf ein Publikum formulieren würde jetzt in diesem Moment und sagen, "ja, ja, das ist übrigens mein tolles wunderbares Buch", und gar nicht auf Sie eingehen, das würden Menschen merken. Und in dem Moment verliert unser Gespräch an Substanz, an Lebendigkeit und kann nicht mehr funktionieren.
"Wir erleben eine gigantische Kommunikationsrevolution"
Deutschlandfunk Kultur: Diese ganzen Schwierigkeiten, diese Spaltung, dieses Gegeneinander, über das wir reden, ist ja nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern wir haben ein gesellschaftliches Klima, das sich irgendwie verändert hat. – Wer ist denn da der Urheber? Ist das Donald Trump? Ist das Facebook? Sind es die öffentlich-rechtlichen Talkshows? Wer hat das alles verursacht?
Pörksen: Ich persönlich glaube, es ist ein Zusammenspiel. Wir erleben eine gigantische Kommunikationsrevolution, eine Öffnung des kommunikativen Raumes. Auf einmal hat jeder eine Stimme, kann sich zuschalten barrierefrei, die Erregungskreisläufe des digitalen Zeitalters, seine Ideen einspeisen. Wir erleben ein Schwächer-Werden des seriösen Journalismus, auch der Zeitungsöffentlichkeit, die ja früher so nach dem Leuchtturmprinzip agiert hat. Wir erleben eine neue Macht von Populisten in unterschiedlichen Ländern Europas, aber natürlich auch – Sie haben Donald Trump erwähnt – in den USA. Wir haben das Spektakelfernsehen. Denken Sie an Fox-News in den USA.
Ich denke, es ist ein Zusammenspiel, eine massive Medien- und Machtverschiebung, die diesen kommunikativen Klimawandel erzeugte hat. Es ist keineswegs ein einzelner, nicht mal eine solche Hybridgestalt aus Reality-TV-Star und Internettroll, wie sie Donald Trump abgibt. Das ist nicht das Werk eines Einzelnen, sondern es ist ein Zusammenspiel.
Deutschlandfunk Kultur: Auch der ist eher Nutznießer? Der erntet eher eine gesellschaftliche Entwicklung?
Pörksen: Absolut. Ich würde sagen, er ist der Profiteur wie viele andere Populisten auch. Er ist der Profiteur einer veränderten Medienwelt. In einer anderen Zeit, in der Tatsachen, Wahrheit eine andere Macht besaß, in der Welt der mächtigen Leitmedien könnte er mit den vielen Lügen und Pseudothesen, die er so täglich formuliert, die verschiedenen Posts, die also acht bis zehn Lügen pro Tag, nicht durchkommen. Nur am Rande bemerkt: Die Washington-Post hat einen sehr strengen Begriff der Lüge. Wenn Donald Trump sagt, "ich bin ein mental stabiles Genie", dann wird das nicht zu den Unwahrheiten gezählt.
"Idee der Filterblase ein wahnwitziger Kommunikationsmythos"
Deutschlandfunk Kultur: Nun ist es so, dass dieses Absteigen der Macht alter Leitmedien, dass die entscheiden, was überhaupt eine Nachricht ist und was nicht, das kann man ja durchaus begrüßen. Das war eine Kontrollfunktion, die da Redaktionen hatten. Heute ist das Ganze doch deutlich breiter aufgestellt. Jeder kann quasi selber sagen, was er wichtig findet. Das führt zu Gegenbewegungen, dass viele kritisieren, wir würden uns unsere eigenen Nachrichten immer raussuchen. Und dann gibt es die sogenannten Filterblasen, die dafür sorgen, dass wir nur noch unsere eigene Meinung verstärkt bekommen. – Diesen Begriff sehen Sie aber kritisch, wenn ich das richtig verstehe?
Pörksen: Ja, absolut. Aber vielleicht noch ein Wort: In der Tat, diese Öffnung des kommunikativen Raumes ist natürlich zu begrüßen. Jeder ist auf einmal medienmächtig, aber eben noch nicht medienmündig. Das ist das Problem aus meiner Sicht. Aber nun zu den Filterblasen: Für mich ist das, in einem Buch von Eli Pariser im Jahre 2011 in die Welt gesetzt, diese Idee der Filterblase ein wahnwitziger Kommunikationsmythos. Es gehört ja zum Smalltalk der Gesellschaftsanalyse, immer zu sagen: "Ja, wir leben alle in Filterblasen und Algorithmen bestimmen, was wir sehen. Und wir kommen immer mehr in Richtung einer informationellen Mono-Diät und sehen nur das, was uns gefällt.
Jeder kann jeden Tag unter vernetzten Bedingungen die Erfahrung machen, dass das nicht sein kann. Man klickt auf einen Kommentar, auf einen Link irgendwo in einem Forum. Schon ist man in einem anderen Kommunikationsuniversum. Das Wesen des Netzes ist die Verlinkung. Jeder Link katapultiert einen potenziell in eine völlig andere Wirklichkeit. Ich behaupte, die Filterblasenidee, für die es empirisch übrigens in den vielen, vielen Studien, die bisher angestellt wurden, so gut wie gar keine Belege gibt, und zwar weltweit, es ist sehr interessant zu sehen, wie sie sich trotzdem hält, die Filterblasenidee muss ersetzt werden durch eine andere Idee. Ich spreche vom Filter-Clash, dem permanenten Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten.
Wir können uns in unsere Informationswelt hineinbegeben. Wir besitzen so etwas wie positive Filtersouveränität. Unsere eigene Wirklichkeitsblase können wir aufsuchen. Aber wir sind doch gleichzeitig – negative Filtersouveränität im Sinne der Abschottung vom anderen gibt es nicht – immer mit anderen Auffassungen, anderen Ideen, anderen Ansichten konfrontiert. Und eben das nenne ich den Filter-Clash. Das ist aus meiner Sicht eine tiefe Ursache der großen Gereiztheit.
Deswegen sind das Miteinander-Reden und das Bemühen um Abkühlung, um Mäßigung, um verbale Abrüstung gerade in diesen Zeiten so unendlich wichtig geworden. Wir sehen nicht zu wenig, sondern wir sehen im Moment zu viel. Wir leiden unter einer Überdosis an Weltgeschehen. Das ist das Problem.
"Verschwörungstheorien sind ein Akt der kognitiven Notwehr"
Deutschlandfunk Kultur: Rufen Sie gerade zur Wirklichkeitsverweigerung auf?
Pörksen: Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil zu einer behutsamen Wirklichkeitsannäherung. Die permanente Sofort-Konfrontation mit immer anderen Wirklichkeiten führt ja zu dieser Wirklichkeitsverweigerung in Form von Verschwörungstheorien, über die wir am Anfang sprachen. Dann ist man nämlich hilflos. Dann geht man, wenn ich jetzt mal versuche, mich da hinein zu versetzen, in einem Akt der kognitiven Notwehr so vor, dass man alles mit Klischees zukleistert, um überhaupt noch irgendwie zu navigieren.
Deutschlandfunk Kultur: Was ich spannend finde: Sie sagen, dieser Filterblaseneffekt funktioniert zwar so nicht, wie viele das immer glauben, aber er hat halt doch Wirkung im Sinne von einer – Sie nennen das eine – "Mehrheitsillusion". – Was meinen Sie damit?
Pörksen: Absolut. Man kann sich natürlich in Selbstbestätigungsmilieus hineinbegeben und dann zu der Idee gelangen: Wir sind viele. Das ist wunderbar und ermutigend. Menschen, die an einer seltenen Krankheit leiden, treffen sich da, vernetzen sich und geben sich Stabilität und Kraft. – Wunderbar! Menschen, die ein obskures Hobby pflegen, die "bekennenden katholischen Nichtschwimmer mit einem Interesse an Hirschgeweihen", auch die können sich ja jetzt zusammenfinden und zu der Idee gelangen, sie sind viele.
Aber auch natürlich Menschen, die glauben, dass wir in einer Merkel-Diktatur leben und Flüchtlingsheime brennen sollten, auch die können sich in so eine Mehrheitsillusion bei gleichzeitiger Sofortkonfrontation mit anderen Ansichten, also permanente Feindberührung, hinein hypnotisieren.
"Was fehlt, ist programmatische Polarisierung"
Deutschlandfunk Kultur: Was mich daran irritiert, ist: Diese Mehrheitsillusion funktioniert ja nicht nur für diese Menschen, sondern ich glaube, ich bin nicht alleine mit dem Eindruck, dass solche extremen Stimmen tatsächlich immer mehr werden. Und dann sagen Sie, "das ist nur eine ganz kleine Minderheit". Aber es wirkt nicht so.
Pörksen: Na ja, wir haben natürlich eine sehr starke mediale Beachtung der extremen Stimmen. Überhaupt ist das Negative, das Abscheuliche und Erschütternde ja ein großes Faszinosum. Menschen achten auf so was. Aber wenn wir dann empirisch schauen, dann sehen wir, dass die wirklich extrem hasserfüllten, sehr brutalen, erniedrigenden Postings von einer relativ kleinen Minderheit, von sehr intensiv kommentierenden Menschen verbreitet wird.
Deswegen muss die gesellschaftliche Mitte in diesem tatsächlich definierenden Moment der Zeitgeschichte gewissermaßen sich anders zuschalten, darf sich eben nicht entsetzt, was ja passiert, aus dem Diskurs verabschieden, sondern sollte aus meiner Sicht so eine Zukunftstugend der respektvollen Konfrontation pflegen lernen, sich nicht wegducken, nicht opportunistisch sagen, "ist mir doch egal, ich weiche dem aus".
Deutschlandfunk Kultur: Das hieße, wir haben tatsächlich so was wie eine schweigende Mehrheit, nur in einem ganz anderen Sinne als es von den Rändern her behauptet wird.
Pörksen: Ja, absolut. Die Mehrheit der Gemäßigten schweigt viel zu laut – völlig richtig.
Deutschlandfunk Kultur: Gilt das gesellschaftlich oder gilt das auch politisch?
Pörksen: Ich glaube tatsächlich – und das sage ich jetzt nicht als Wissenschaftler, sondern als Bürger –, dass in der gesellschaftlichen Mitte etwas fehlt, was man die "programmatische Polarisierung" nennen könnte. Wir haben ja ganz viel Spektakel-Polarisierung, also Auseinandersetzung um Themen, die vielleicht gar nicht so furchtbar relevant sind. Oma-Gate, irgendein Faschingswitzchen, eine angebliche oder tatsächliche Grenzüberschreitung.
Aber wir haben aus meiner Sicht zu wenig programmatische Polarisierung. Streit über Konzepte, Streit in der Sache, ein Konzept der digitalen Mündigkeit, Integrationsideen, die greifen und funktionieren, Auseinandersetzung mit der Frage, wie kann die ökologische Modernisierung der Gesellschaft tatsächlich gelingen und dieses Welt- und Menschheitsproblem des Klimawandels zumindest im Ansatz bekämpft werden, das sind doch große Sachfragen.
Hier lohnt es sich, über Alternativen des Denkens, über unterschiedliche Zukunftsentwürfe zu streiten. Ich würde sogar behaupten, dass dieser Streit in der Sache, der Streit über große programmatische Narrative einen besänftigenden Effekt hat, dass die Zukunftsunruhe, die wir im Moment verspüren, auch daran liegt, dass wir so wenig über Ideen und das Denken in der langen Linie sprechen und streiten und uns zu sehr auf das Klein-Klein im Geschwindigkeitsrausch der Auseinandersetzung und Abwertung konzentrieren.
"Wir gehen ein ohne den Sauerstoff des Dialogs"
Deutschlandfunk Kultur: Das hieße, Sie wünschen der Republik, dass die Union sich auf einen möglichst stramm konservativen Kanzlerkandidaten einigt, mindestens Friedrich Merz, und dass die SPD ein bisschen mehr von Enteignung redet?
Pörksen: Nein. Das wäre genau diese Spektakelpolarisierung. Für mich ist ein Friedrich Merz habituell in den 90er-Jahren stecken geblieben, wenn ich das mal so herzhaft sagen darf, und eben niemand, der jenseits von ein paar plakativen Formeln und ein bisschen Merkel-Kritik und rhetorischer Hemdsärmlichkeit umfassende Konzepte vorlegt. Das ist die Problematik, die ich sehe: Wo ist das Bild von Europa? Wo die Idee digitaler Mündigkeit? Wo der Gedanke an Integration und wo die Lust an der wirklichen Debatte, jenseits der Spektakelpolarisierung, die wir im Moment beobachten in der gesellschaftlichen Mitte?
Deutschlandfunk Kultur: Das sagt Bernhard Pörksen. Er hat gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun das Buch geschrieben "Die Kunst des Miteinander-Redens".
Ich nehme jetzt aus dieser halben Stunde mit Ihnen ein paar Regeln mit, wie ich den Dialog besser führen kann. Das erste ist: Vermeide pauschale Attacken. Das haben Sie ganz am Anfang gesagt. Dann vielleicht auch klarer zu unterscheiden zwischen Position und Person, wenn ich das so sagen kann. Und, was Sie auch immer wieder gesagt haben: Die Wahrheit beginnt zu zweit, also in Betracht zu ziehen, der andere könnte überhaupt recht haben.
Was ich mich trotzdem am Ende frage: Diese drei Regeln, wer nimmt denn die ernst, der sie nicht sowieso schon ernst nimmt?
Pörksen: Na, ich weiß nicht. Ich sehe das nicht so pessimistisch wie Sie. Für mich gibt es eine tiefe Sehnsucht nach dem Gespräch. Wir Menschen sind die Dialog-Tiere und wir sehnen uns nach dem Verstehen, nach dem Verstandenwerden und nach dem kommunikativen Austausch. Wir gehen ein ohne den Sauerstoff des Dialogs. Also insofern, natürlich sind diese Regeln, die ja eigentlich Aufforderungen sind im Sinne einer Kunst des Herausfindens, sind diese Regeln idealistischer Natur. Aber ohne ein nötiges Minimum an Idealismus kann auch eine liberale Demokratie und das kommunikative Miteinander irgendwie gar nicht funktionieren.