Gerald Lembke, Ingo Leipner, "Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen"
Redline Verlag, 2015, 256 Seiten, 19,99 Euro
"Erst müssen die sozialen Fähigkeiten gelernt werden"
Eine Studie bescheinigt deutschen Schülern nur mäßige Medienkompetenz. Kein Grund zur Panik, sagt der Autor Gerald Lembke. Er hält nichts davon, Kinder schon früh an PC und Smartphone zu setzen, bevor sie Lesen und Schreiben gelernt und soziale Fähigkeiten ausgebildet hätten.
Deutsche Schüler hinken angeblich in Sachen Medienkompetenz hinterher - das geht aus einigen Studien wie der renommierten ICILS, einer internationalen Vergleichsstudie über digitale Kompetenz von Achtklässlern. Gemessen wurden unter anderen Nutzungsdauer und Nutzungsqualität digitaler Medien. Die Politik ist alarmiert, die Kultusminister wollen nun eine Strategie entwickeln, um deutsche Jugendliche auf den gleichen Stand zu bringen wie ihre Altersgenossen in anderen Ländern.
Besser als gedacht
Gerald Lembke, Präsident des Bundesverbandes für Medien und Marketing, dagegen warnt vor Panikmache und einer zu frühen Digitalisierung der Kinder. Niemand müsse sich Sorgen machen, dass deutsche Schüler abgehängt würden, sie stünden nicht schlechter da als Jugendliche etwa in Skandinavien. Für Lembke, der gemeinsam mit Ingo Leipner das Buch "Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen" veröffentlichte, lassen sich aus der Studie ganz andere Defizite herauslesen:
"Beispielsweise geht es darum, dass dann ein Achtklässler nicht in der Lage ist, eine Internetadresse vom Papier in den Browser eines Computers richtig abzutippen. Und da sieht man dann an diesem Beispiel, dass es nicht darum geht, jetzt hier die Digitalkompetenz der Kinder primär zu fördern, sondern im Grunde genommen erst mal die alten Kulturtechniken richtig beizubringen. Denn wenn ich nicht in der Lage bin, richtig abzuschreiben, dann brauche ich auch keinen Computer."
Erst spät an digitale Medien heranführen
Daraus leite sich für ihn ab, "die Kinder erst mal so weit wie möglich fernzuhalten, um überhaupt diese primären Kulturtechniken wirklich richtig einzutrainieren, also Lesen, Schreiben, Rechnen, das muss erst mal richtig drin sein bei den Kindern."
Lembke, der Studiengangsleiter für Digitale Medien der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim ist, fügt hinzu: Die Medienkompetenz entwickele sich, abgesehen davon, eben auch nicht in den jungen Kinderjahren "bis acht, zehn, zwölf Jahren, sondern da müssen im Wesentlichen erst mal soziale Fähigkeiten ausgebildet werden, insbesondere auch die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit weiterentwickelt werden."
Heutige Eltern taugten jedoch nur bedingt als Vorbilder. Diese säßen mit Smartphone am Esstisch "und zeigen im Grunde genommen den Kindern, wie es nicht gehen soll. Also, dass die dauernde Verfügbarkeit, das Always-on-Sein, das permanente Checken von Nachrichten und ähnlichen Notifications – das zeigt den Kindern, okay, das ist offenbar normal, also mache ich es auch."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Deutschland hinkt hinterher. Deutsche Jugendliche sind digital weniger fit als junge Leute in anderen Ländern. Das sagen Studien, zum Beispiel die in diesem Feld renommierte ICILS, eine Vergleichsstudie über digitale Kompetenz. Und entsprechend alarmiert ist die Politik. Die Kultusministerkonferenz will bis zum Jahresende eine Strategie entwickeln zur Bildung in der digitalen Welt. Wie muss die aussehen? Im Gespräch dazu jetzt Gerald Lembke, Leiter des Studiengangs Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim. Ich grüße Sie, guten Morgen!
Gerald Lembke: Einen wunderschönen guten Morgen!
Frenzel: Müssen wir uns Sorgen machen, dass deutsche Schüler in der digitalen Welt nicht konkurrenzfähig sind?
Lembke: Nein, da müssen wir uns gar keine Sorgen machen. Die Heißel-Studie sagt ja, dass im Vergleich gerade zu den skandinavischen Ländern die Nutzungsdauer und die Nutzungsqualität von digitalen Medien, im Besonderen über mobile Endgeräte, nicht so stark ausgeprägt ist wie dann in den benannten Ländern. Beispielsweise geht es darum, dass dann ein Achtklässler nicht in der Lage ist, eine Internetadresse vom Papier in den Browser eines Computers richtig abzutippen. Und da sieht man dann an diesem Beispiel, dass es nicht darum geht, jetzt hier die Digitalkompetenz der Kinder primär zu fördern, sondern im Grunde genommen erst mal die alten Kulturtechniken richtig beizubringen. Denn wenn ich nicht in der Lage bin, richtig abzuschreiben, dann brauche ich auch keinen Computer.
Frenzel: Sie haben gerade gesagt, die Nutzungsdauer wird gemessen, das kann ich mir sehr konkret vorstellen, aber die Nutzungsqualität, da frage ich mich, wie misst man das denn?
Welche Qualität brauchen wir in der digitalen Welt?
Lembke: Na ja, es wird dann gefragt in der Studie natürlich, wofür nutzt ihr diese digitalen Endgeräte, und gerade bei den Schülern ist es halt so, dass es halt um den Austausch von Hausaufgaben geht, also gerade über die Messenger-Dienste wird darüber unter den Schülern diskutiert, wer schon welche Hausaufgaben hat. Es geht darum natürlich auch, für Hausaufgaben zu recherchieren zu Hause.
Das ist nicht die Qualität, die wir in der digitalen Welt brauchen, sondern wir müssen ja hier insbesondere digitale Medienkompetenz aufbauen, die Menschen in die Lage versetzt, digitale Medienprodukte zu erstellen, und zwar nicht nur einfach mit dem Smartphone einen x-beliebigen Film durch Armschwenken zu erzeugen, sondern sich halt auch mal sehr zielgerichtet auch konkrete Fragestellungen des Lebens und der Arbeit zu beziehen. Und da sind selbst auch die genannten skandinavischen Länder zum Beispiel längst nicht so fortschrittliche, wie es diese Studie verkaufen mag.
Frenzel: Wie machen wir das denn am besten, diese digitale Kompetenz ausbilden? Da ist ja für viele Eltern schon mal erst mal die Grundfrage, wie früh fangen wir denn an? Müssen wir am besten ganz früh anfangen, den Kindern schon relativ früh die Geräte in die Hand geben, damit sie den Umgang damit lernen?
Lembke: Ich erinnere an das Beispiel mit dem Abschreiben der URL-Adresse. Meine These ist, dass Kinder, die erst mal so weit wie möglich fernzuhalten, um überhaupt diese primären Kulturtechniken wirklich richtig einzutrainieren, also Lesen, Schreiben, Rechnen, das muss erst mal richtig drin sein bei den Kindern. Und darüber hinaus entwickelt sich die Medienkompetenz eben auch nicht in den jungen Kinderjahren bis acht, zehn, zwölf Jahren, sondern da müssen im Wesentlichen erst mal soziale Fähigkeiten ausgebildet werden, insbesondere auch die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit weiterentwickelt werden.
Die Hirnentwicklung ist sowieso erst zwischen 20, 21 Lebensjahren abgeschlossen. Und all diese Faktoren sind essenziell wichtig, um mit aktuellen realen Lebensumgebungen zielgerichtet und vernünftig und sinnvoll umzugehen. Alles andere ist bei den Kindern im Wesentlichen – ja, natürlich Ausprobieren, Spielen oder Daddeln, wie man es so schön neudeutsch sagt – aber im Hinblick jetzt der konkreten Problemlösung brauchen Kinder im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren keine Computer.
Eltern sind kein Vorbild
Frenzel: Das wäre meine Frage gewesen, Herr Lembke, geben Sie uns eine Zahl. Das heißt also, bis zehn, zwölf Jahre am besten keine Computer, keine Tablets, keine Smartphones?
Lembke: Ja, natürlich sind sie in der Lebenswelt natürlich drin. Man kann das jetzt staatlich auch im privaten Bereich nicht verbieten, das will ich ja auch gar nicht. Aber jetzt in dem Lernprozess, in dem Entwicklungsprozess und in allen Institutionen, die Persönlichkeit und Lernen fördern, sind primär die digitalen Medien nicht das förderlichste methodische Instrument.
Frenzel: Sie haben die Erwachsenen angesprochen, die Eltern natürlich, aber eben auch die Lehrer. Haben Sie denn den Eindruck, dass wir als Elterngeneration vorbildhaft für eine junge Generation mit diesen Geräten und mit der digitalen Welt umgehen?
Lembke: Ganz klares Nein. Tun wir nicht. Wenn Sie sich in der Lebensumwelt heute umschauen, beispielsweise Restaurants oder Ähnliches, oder auch mit Freunden sprechen, sitzen die Eltern, also die über 30-Jährigen in der Regel, dann mit den Smartphones am Esstisch und zeigen im Grunde genommen den Kindern, wie es nicht gehen soll. Also dass die dauernde Verfügbarkeit, das Always-on-Sein, das permanente Checken von Nachrichten und ähnlichen Notifications – das zeigt den Kindern, okay, das ist offenbar normal, also mache ich es auch. Da versagt natürlich jeder pädagogische Ansatz des vernünftigen und eben nicht exzessiven Umgangs mit digitalen Medien.
Frenzel: Sagt Gerald Lembke, Leiter des Studiengangs Digitale Medien an der Dualen Hochschule in Mannheim und Autor des Buches "Die Lüge der digitalen Bildung". Herr Lembke, vielen Dank für das Gespräch!
Lembke: Herzlichen Dank, einen schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.