Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl

"Desinformation ist die Pest der digitalisierten Gesellschaft"

Buchcover "Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde (S. Russ-Mohl). Auf dem Foto im Hintergrund sind Demonstranten des Berliner "March of Science" zu sehen (22.4.2017).
Buchcover "Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde (S. Russ-Mohl). Auf dem Foto im Hintergrund sind Demonstranten des Berliner "March of Science" zu sehen (22.4.2017). © imago stock & people / Herbert von Halem Verlag
Von Eleni Klotsikas · 06.01.2018
Warum fallen wir ausgerechnet im Informationszeitalter auf derart viel Desinformation herein? Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl untersucht die Verbreitung von Halbwahrheiten, Fake News und Verschwörungstheorien und warnt: Die Digitalisierung gefährdet unsere Demokratie.
Gerade einmal drei Zeilen benötigt Stephan Russ-Mohl, um sein düsteres Bild der Gegenwart zu zeichnen:
"Desinformation ist die Pest der digitalisierten Gesellschaft. Sie breitet sich nicht nur epidemisch aus, sie verändert auch unsere Wahrnehmung dessen, was wir für wahr halten."
Oder für wahr halten wollen: Die Meldung etwa, Papst Franziskus habe Donald Trump zur Wahl empfohlen, haben auf Facebook fast eine Million Menschen geteilt. Der Spitzenreiter im Fake-News-Ranking des US-Wahlkampfes. Russ-Mohl hält solche Falschmeldungen für gefährlich, denn wenn Menschen nicht mehr zwischen Fakten und Fake News unterscheiden könnten, gefährde das die Demokratie, schreibt er. Dabei sei das Verbreiten von Fake-News und Halbwahrheiten an sich kein neues Phänomen:
"Der zweite Weltkrieg hat so begonnen. Präsident Bush hat seinen Irakkrieg auf diese Art und Weise in Szene gesetzt. Was neu ist, ist die schnelle Verbreitung, der man oft gar nicht hinterherkommt und was auch neu ist, ist, dass ein amerikanischer Präsident täglich mehr als eine Fake-News über Twitter verbreitet."

Mit Fake News reich werden

Populisten, PR-Manager und lügende Politiker hätten dank sozialer Medien an Einfluss gewonnen. Der Anteil derer, die sich zumindest partiell mit Nachrichten direkt aus sozialen Netzwerken versorgen, ist sprunghaft gestiegen. Das belegen Studien. Doch die neuen Verleger des Digitalzeitalters – Google, Facebook und Twitter – überprüfen Meldungen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, kritisiert Stephan Russ-Mohl.
Wer Fake News geschickt erfinde und diese im Netz verbreite, könne sogar reich werden. Denn jeder Klick bringt Werbeeinnahmen – völlig unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Und die IT-Giganten lassen auch Produzenten von Fake News an diesem Geschäftsmodell teilhaben. Professor Russ-Mohl beschreibt das in seinem Buch anhand von Beispielen aus dem US-Wahlkampf:
"Paul Horner, das ist ein Amerikaner, der vor kurzem verstorben ist, aber sich vorher damit gebrüstet hat, dass er monatlich während des US-Wahlkampfes 10.000 Dollar mit Fake News verdient hat. Und das andere sind die mazedonischen Jungunternehmer, die auch nur Geld verdienen wollten, aber das Netz mit Fake News über Trump und über Clinton gefüttert haben, um die Trump-Community zu unterstützen."

Produktion von Fake News kostet fast nichts

Für Produzenten von Fake-News diagnostiziert Russ-Mohl geradezu paradiesische Geschäftsbedingungen: Die Urheber von Falschnachrichten und Stimmungsmache im Netz sind kaum feststellbar. Und die Produktionskosten streben gegen Null – auch, weil längst nicht hinter allen Facebook-Kommentaren, Shares und Likes bezahlte menschliche Arbeitskräfte stecken, sondern Social Bots, also Computerprogramme, die lesen und schreiben können. Studien sehen Social Bots auf dem Vormarsch: Im Jahr 2016 soll bereits mehr als die Hälfte des Internet-Traffic von Social Bots verursacht worden sein. Russ-Mohl folgert daraus:
"Auch dank solcher technischen Hilfsmittel gewinnt die Schwarmdummheit womöglich im Verbund mit destruktiven Kräften gegenüber der Schwarmintelligenz die Oberhand."

Dystopien von Orwell und Huxley drohen wahr zu werden

Droht eine Blödheit der Massen wirklich die Kooperation von Millionen kluger Internetnutzer zu überschatten? Womöglich. Gerade auch im Hinblick auf die US-Wahl glaubt Russ-Mohl, Fake News könnten das Zünglein an der Waage gewesen sein. Doch einen empirischen Beleg dafür liefert das Buch nicht. In seinem Werk reißt Russ-Mohl viele Themen nur oberflächlich an, anstatt sich auf ausgewählte Aspekte zu konzentrieren.
Zum Verdienst des Autors gehört es dagegen, die Vielzahl von Studien und Erkenntnissen, durch die er sich gearbeitet hat, zu verdichten:
"Es ist zu befürchten, dass wir – ohne es bisher so richtig gemerkt zu haben – in eine Gesellschaft hineintaumeln, die Aldous Huxleys Schöne Neue Welt und George Orwells 1984 kongenial verbindet. Ein paar weltumspannende Konzerne ersetzen mit den Propagandamaschinen der Geheimdienste, mit denen sie ja ohnehin kooperieren, jenes 'Wahrheitsministerium', vor dem uns Orwell gewarnt hat."

Tipps für den Kampf gegen Desinformationen

Russ-Mohl entlässt seine Leser jedoch nicht gänzlich hoffnungslos. So verwendet er 100 der 333 Seiten mit Vorschlägen, wie sich die Verbreitung von Desinformation eindämmen lässt. Besonders die Tech-Giganten Facebook und Google will Russ-Mohl in die Pflicht nehmen.
"Wenn sie de fakto Medienunternehmen sind, dann haben sie auch eine redaktionelle Verantwortung für den Unfug, den sie oftmals verbreiten. Das glaube ich, ist die wichtigste Maßnahme, aber da glaube ich, dass wir auf nationaler Ebene nicht weiterkommen, dass das ganz klar eine Geschichte ist, die auf EU-Ebene und von der amerikanischen Regierung aus angepackt werden muss."
Und auch den Lesern redet Russ-Mohl ins Gewissen. Denn die Gratis-Mentalität gegenüber Inhalten im Netz hätte das Geschäftsmodell des seriösen Journalismus in Bedrängnis gebracht:
"Das Nachdenklichstimmen allein reicht nicht. Es muss sich auch noch die Zahlungsbereitschaft ändern. Wir müssen einfach bereit sein für guten Journalismus so wie wir das früher, wenn wir eine Zeitung gekauft oder abonniert haben, getan haben, zu zahlen. Wir dürfen nicht erwarten, dass alles im Netz gratis ist."
Russ-Mohl will seine Leser wachrütteln. Mit Leidenschaft und Schärfe zeigt er die Gefahren auf, die von einer entgrenzten Medienrealität ausgehen, in der Information und Desinformation bedrohlich nahe beieinander liegen.

Stephan Russ-Mohl: "Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet"
Herbert von Halem Verlag, Oktober 2017
368 Seiten, 23 Euro

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