"Da waren Jeanne-d'Arc-Figuren auf der Bühne"
Leidenschaftlich und authentisch: Der SPD-Parteitag zur GroKo war nach Auffassung des Medienwissenschaftler Jochen Hörisch Bürgertheater im besten Sinne. Man habe gespürt, dass es um etwas gehe. Besonders lobt Hörisch die Frauen.
Es sei "großes Theater" gewesen, meint Jochen Hörisch über den SPD-Parteitag in Bonn. Und dieses Theater sei nicht bloß inszeniert gewesen: "Wir hatten wirklich das Gefühl: Es ist Bürgertheater, es ist authentisches Theater, hier wird gekämpft. Das Ergebnis war ja wirklich nicht absehbar. (…) Wenn ich Theaterkritiker wäre, würde ich sagen, liebe Freunde, das war einigermaßen spannend, das habt ihr gut hingekriegt."
Der Literatur- und Medienwissenschaftler an der Universität Mannheim sieht zudem ein "Zeitzeichen" darin, dass die Frauen wichtiger als die Männer gewesen seien und die Stimmung stärker entschieden hätten:
"Die SPD hat sich auf dem Parteitag verweiblicht - aber nicht in einer sanften Art und Weise, sondern in einer militanten Art und Weise. Da waren Jeanne-d'Arc-Figuren auf der Bühne."
SPD muss sich von Trauma erholen
Hörisch erkannte auch "andere Inszenierungen historischer Art im Hintergrund", gerade wenn er Gesichter entdeckt habe wie Rudolf Scharping oder Franz Müntefering. Da merke man, dass die SPD-Geschichte einen "Knacks" bekommen habe, "als Figuren wie Lafontaine sich zum Lebensziel gesetzt haben, die SPD kleinzukriegen". Damit stehe dieser, aber auch Sahra Wagenknecht, "in einer ziemlich eigentümlichen Traditionsreihe, nämlich in der von Bismarck, von Stalin, von Hitler, von Ulbricht (...)." Von dem Trauma müsse sich die einst stolze Partei "langsam berappeln".
Kritisch sieht Hörisch die Rolle der Medien. Die SPD habe mit dem Parteitag alles richtig gemacht - und trotzdem gebe es in fast allen Medien ein "fast obligatorisches resonanzhaftes SPD-Bashing". Wäre er, so Hörisch, SPD-Mediensprecher, würde er fragen: "Was fändet ihr denn gut, wann würdet ihr uns denn mal loben?" (bth)
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Seit Wochen war ja die Erwartung an diesen Parteitag geschürt worden, was ist nicht alles gesagt und geschrieben worden. Die Zukunft der SPD, die von Martin Schulz, von Deutschland, von Europa, alles hing davon ab. Selten war ein Parteitag so im Fokus der Öffentlichkeit, und nicht nur der deutschen. Nun hat er stattgefunden, man hat sich für die Koalition mit der Union entschieden, knapp, aber dafür. Tja, und nun kann man nur Brecht zitieren: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/ den Vorhang zu, und alle Fragen offen." Und es haben am Ende wohl drei Frauen rausgerissen, dass es doch noch zu diesem wenn auch knappen Ja zu Koalitionsverhandlungen gekommen ist. Malu Dreyer, Manuela Schwesig und vor allem Fraktionschefin Andrea Nahles.
Professor Jochen Hörisch ist Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Uni Mannheim, und weil er in seiner Lehrtätigkeit auch Seminare zu aktuellen Inszenierungen des Nationaltheaters Mannheim anbietet, haben wir ihn gebeten, sich den Parteitag doch mal so anzusehen, als Inszenierung. Jetzt ist er bei mir im Gespräch. Schönen guten Morgen!
Jochen Hörisch: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
Die SPD hat sich verweiblicht
von Billerbeck: Nach etlichen Proben, wenn man die Landesparteitage der Partei als solche nimmt, nun also die Aufführung gestern in Bonn. Welche Stimmung wurde denn da vermittelt? Angst, Zuversicht, Aufbruch, Demut?
Hörisch: Es war zuerst mal großes Theater. Man konnte Physiognomien sehen, die selbst, wenn man den Ton ausschaltete, deutlich machten, hier geht es um etwas. Es war wirklich einmal wieder Leidenschaft in der Politik drin, und die war ja eben auch nicht bloß inszeniert. Wir hatten wirklich das Gefühl, es ist Bürgertheater, es ist authentisches Theater, hier wird gekämpft. Und das Ergebnis war ja wirklich nicht absehbar.
Es hätte ja auch sein können, dass das 56/44-Prozent-Ergebnis in die andere Richtung ausgegangen wäre. Mit einem Wort, wenn ich Theaterkritiker wäre, würde ich sagen, liebe Freunde, das war einigermaßen spannend, das habt ihr gut hingekriegt. Und dass die Frauen das Sagen hatten und in gewisser Weise wichtiger und dominanter waren und die Stimmung stärker entschieden haben als Männer, auch das ist ein Zeitzeichen. Die SPD hat sich auf dem Parteitag verweiblicht, aber nicht in einer sanften Art und Weise, sondern in einer militanten Art und Weise. Da waren Jeanne-d'Arc-Figuren auf der Bühne.
von Billerbeck: Sie meinen Andrea Nahles?
Hörisch: Ich meine Andrea Nahles.
von Billerbeck: Wenn man sich an bestimmte Figuren erinnert, dann – also, Sie haben ja auch schon gesagt, wenn man den Ton ausgestellt hat, dann sah es anders aus. Wenn man die Sachen, die Andrea Nahles gesagt hat, aufgeschrieben hätte, dann wären die eher so ein bisschen dünn gewesen. Aber wenn man sie gesehen hat, dann war das volle Dröhnung, oder?
Hörisch: Das ist ja ein ganz eigentümlicher Umstand, dass ein und dieselbe Rede, von unterschiedlichen Leuten gehalten, zu ganz wahnsinnig differenten Effekten führen kann. Jenninger hat einmal eine Rede gehalten, die dann Martin Bubis nachgehalten hat. Einmal wurde sie scharf kritisiert. Dann war es genau derselbe Wortlaut, von einem anderen gesprochen, und wie gesagt, die Resonanz war eine vollkommen andere. Es gibt eben einfach diese Form von Leidenschaftlichkeit, die damals etwa auch Lafontaine, als er noch SPD-Mitglied war, zum Parteivorsitzenden gemacht hatte.
Man merkt einfach, dass zwischen der Somatik, einer Körperlichkeit einer Rhethorik, und der Semantik, da nicht unbedingt ein Eins-zu-eins-Verhältnis stehen muss. Die Körperlichkeit, auch die schauspielerische Körperlichkeit eines Politikers kann dann eigentlich entscheidender sein als die Semantik, also die Aneinanderreihung von Worten, die man den Leuten zumutet. Eine ziselierte Rede kann als Lesetext überzeugend sein. Wenn sie nicht inkorporiert wird, wenn sie nicht inkarniert wird, wenn sie nicht Fleisch wird, wenn theologisch gesprochen das Wort nicht Fleisch wird, dann funktioniert sie nicht richtig. Und diese Fleischlichkeit ist offenbar in der femininen Variante besser angekommen als in der maskulinen Variante.
Inszenierungen historischer Art im Hintergrund
von Billerbeck: Wenn man sich an bestimmte Parteitage erinnert, dann bleiben da immer so Bilder in Erinnerung. Sie haben Lafontaine schon angesprochen, da denke ich natürlich an das Drama zwischen Lafontaine und Scharping. Wenn Sie an den gestrigen, an diesen Sonderparteitag zurückdenken, welches Bild wird da in Erinnerung bleiben?
Hörisch: Nun, Sie sprechen mit einem nicht mehr ganz jungen Menschen, und da war es für mich, der ich die Geschichte der SPD seit langen Jahrzehnten verfolge, auch ein eigentümliches Bild, weil der Name gerade fiel, das Gesicht von Scharping gewissermaßen wiederentdeckt zu haben. Und da hatten wir eine Hintergrundfigur, die sich aus der aktuellen Politik vollkommen herausgezogen hatte, und gewissermaßen war dann noch mal auch mit Müntefering die Geschichte der SPD als einer stolzen Partei deutlich abrufbar.
Also es war eine Theaterinszenierung, die sagt, wir haben als Inszenierung auch andere Inszenierungen historischer Art im Hintergrund, und das müssen wir als Resonanzraum begreifen für das, was jetzt hier geschieht. Und ich will das in aller Deutlichkeit mal sagen: Gerade, wenn Figuren wie Scharping, Müntefering da stehen, merkt man, dass die SPD-Geschichte eben doch einen Knacks bekommen hat in dem Augenblick, als Figuren wie Lafontaine sich zum Lebensziel gesetzt haben, die SPD kleinzukriegen.
Und auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen, damit stehen natürlich Leute wie Lafontaine oder Sahra Wagenknecht, die natürlich nicht anwesend waren, wie sollte es sein, in einer ziemlich eigentümlichen Traditionsreihe, nämlich in der von Bismarck, von Stalin, von Hitler, von Ulbricht, deren primäres Lebensziel in gewisser Weise gewesen ist, die SPD kleinzukriegen. Das ist ja das Trauma, von dem sich diese Partei, die mal eine stolze Partei war mit über einer Million Mitgliedern, die heute gerade noch 440.000 Mitglieder hat, von dem sie sich langsam berappeln muss. Das fällt ihr schwer, aus nachvollziehbaren Gründen.
Schulz unter extremer Beobachtung
von Billerbeck: Wir haben noch eine gute Minute Gesprächszeit und haben bisher noch nicht den Parteivorsitzenden erwähnt, Martin Schulz. Der hat gestern 60 Minuten geredet – hat's was gebracht?
Hörisch: Es hat was gebracht. Martin Schulz steht ja unter extremer Beobachtung, und er hat versucht, genau das zu machen, was die Medien immer einfordern: Seid authentisch, habt keine Plastiksprache, lasst die alten, abgebrauchten Formeln sein. Er hat sich selbst kritisiert, er hat Fehlentscheidungen eingestanden. Die SPD hat alles richtig gemacht mit dem Parteitag. Jetzt werden die Mitglieder befragt. Und trotzdem gibt es nicht in allen Medien, um Gottes willen, aber doch so etwas wie ein obligatorisches fast schon resonanzhaftes SPD-Bashing.
Wäre ich Mediensprecher der SPD, würde ich sagen, liebe Medien, ich finde großartig, welche Kompetenz ihr habt. Jetzt macht ihr doch mal die Kommentare, was fändet ihr denn gut, wann würdet ihr uns denn mal loben? Wenn wir die GroKo machen? Wenn wir sie nicht machen, schreibt ihr dann, ihr verweigert euch einer wichtigen staatspolitischen Aufgabe und dergleichen mehr. Man könnte mal das Verhältnis von Politik und Medien umdrehen. Wenn wir bei der Theatermetaphorik bleiben, könnte man sagen, auch die Theaterkritiker haben eigentlich bei diesem SPD-Parteitag, bei dieser Inszenierung eine sehr wichtige theatralische Rolle gespielt.
von Billerbeck: Professor Jochen Hörisch war das von der Uni Mannheim über die Inszenierung des gestrigen SPD-Parteitags. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Hörisch: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.