Medikamentenmangel
Vor allem Fiebersaft für Kinder ist wegen Lieferengpässen nur noch schwer zu bekommen. © picture alliance / Fotostand / K. Schmitt
Warum viele Arzneimittel nicht lieferbar sind
07:11 Minuten
Seit Wochen fehlen in Deutschland Medikamente: Fiebersaft, Schmerzmittel, Antibiotika, Cholesterinsenker. Das belastet in der aktuellen Erkältungswelle nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die Apotheken und Arztpraxen.
Die Blasius-Apotheke in Düsseldorf: Inhaberin Barbara Grätz bespricht sich mit einem Mitarbeiter, der das Rezept eines Kunden in der Hand hält. Der Wirkstoff darauf ist aktuell nicht lieferbar. Das ist mittlerweile Alltag im Apothekengeschäft.
Gestern sei wieder ein ganz schlimmer Tag gewesen, „wo wir eigentlich gefühlt keinen Kunden seinem Rezept einfach so beliefern konnten, wie wir sollten“, so Barbara Grätz. „Es macht wirklich keinen Spaß, wirklich kranke Menschen oder Eltern von kranken Kindern wegzuschicken, weil man nichts tun kann.“
Ihre Mutter und frühere Inhaberin der Apotheke, Regina Waerder, sitzt derweil am PC, auf dem Bildschirm die Liste der Medikamente, die aktuell allein in dieser Apotheke fehlen. 166 Artikel, sagt sie. „Das fängt an mit einfachen Dingen wie ein ACC Hustenlöser.“ Dann Amoxicillin – ein wichtiges Antibiotikum, unter anderem für Kinder, oder Atorvastatin, ein Cholesterinsenker. „Da sieht es auch im Moment katastrophal aus.“
Mindestens dreimal am Tag fragen sie und ihre Tochter die fehlenden Medikamente beim pharmazeutischen Großhandel ab – meist ohne Erfolg. „So großflächig wie jetzt habe ich das in meinen ganzen Berufsjahren nicht erlebt.“
"Das ist eine Zumutung"
Deutschlandweit sind beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte rund 300 rezeptpflichtige Medikamente als nicht lieferbar vermerkt – und das seit Monaten. Da die Meldungen freiwillig sind, gehen Experten davon aus, dass die Zahl sogar noch weitaus höher ist.
Für Apothekerin Barbara Grätz und ihr Team bedeutet das: kreativ werden. „Gibt es vielleicht eventuell andere Dosierungen von einer anderen Firma, wo man irgendwie tricksen kann? Aber auch da gehen langsam die Möglichkeiten aus, weil auch die Alternativen Lieferschwierigkeiten haben.“ Zudem können bei ärztlichen Verordnungen alternative Medikamente nicht ohne Rücksprache mit dem Arzt herausgegeben werden, sagt Regina Waerder. „Wir müssen dann auch immer von ihm ein neues Rezept anfordern, weil man es ja sonst nicht bezahlt bekommt. Es ist also sehr zeitaufwendig und sehr bürokratisch geregelt.“
Dieser zusätzliche Arbeitsaufwand belastet auch die Praxen, wie der Kinderarzt Michael Achenbach aus Plettenberg im Sauerland schildert. „Wir kriegen es noch hin, aber es ist eine Zumutung“, sagt er. „Diese Lieferknappheit führt vor allem dazu, dass sehr, sehr viel Zeit in der Kommunikation mit Apotheken, mit Patienten verbraucht wird, die eigentlich für andere Dinge zur Verfügung stehen müsste.“
Lange Suche nach alternativen Medikamenten
Verschärft wird die Mangellage durch die grassierende Infektionswelle. Die Wartezimmer der Arztpraxen sind voll, Patientinnen und Patienten müssen sich auf längere Wartzeiten einstellen. Doch die eigentliche Schwierigkeit kommt anschließend: Die Suche nach lieferbaren Arzneimitteln.
Vor allem für Familien mit Kindern eine Herausforderung. „Ein wahnsinniger Aufwand. Ich habe Eltern erlebt, die sechs, sieben Apotheken abgegrast haben, bis sie dann glücklicherweise noch ein Medikament gefunden haben, das dann aber nicht dem entsprach, was auf dem Rezept stand.“ Also mussten sie wieder zurück in die Praxis, sich ein neues Rezept holen. „Und sind damit dann wieder in die doch weiter entfernte Apotheke und haben dann das Medikament bekommen.“
Khaled Jürgen Abou Lebdi ist Kinderarzt im nordrheinwestfälischen Heinsberg und stellvertretender Vorsitzender des NRW-Landesverbands der Kinder- und Jugendärzte. Er sieht in der Abgabe vor allem alternativer Antibiotika ein weiteres – noch größeres – Problem. „Die anderen Präparate sind breite Wirkantibiotika, die dann auf Dauer mehrere Resistenzen erzeugen.“ Man nehme als Nachteile in Kauf. „Wenn man es beim einzelnen Patienten mal austauscht, ist das im Grunde kein Problem, wenn man das in der Fläche tun muss, ist das ungünstig.“ Ärzt*innen-Verbände warnen deshalb davor, dass die aktuelle Medikamentenkrise dazu führen könnte, dass noch mehr Antibiotika nicht mehr wirken, weil Bakterien dagegen resistent werden.
Verfehlte Preispolitik?
Die Ursachen der Lieferkrise liegen nach Ansicht von Ärzten und Apothekerinnen zu großen Teilen in der Preispolitik der Krankenkassen, speziell in den zunehmenden Rabattverträgen für bestimmte Wirkstoffe. „Das führt natürlich dazu, dass es für die Hersteller immer schwieriger wird, weil die Preise gedrückt werden. Die Hersteller müssen günstiger produzieren, was sie dadurch umgesetzt haben, dass die Produktionen ausgelagert und zentralisiert haben.
Fällt nun ein Werk zum Beispiel in China aus, sind Häfen geschlossen oder Lieferwege blockiert, wie zuletzt auf Grund der Coronapandemie oder des Russland-Ukraine-Krieges, dann spüren die Apotheken das sofort.
Produktion nach Deutschland zurückholen
Franz-Josef Cüppers vom Apothekerverband Nordrhein fordert deshalb ein Umdenken. „Wir müssen jetzt davon abkommen, dass Arzneimittel teuer sind. Ich sage immer: Arzneimittel sind preiswert, sie sind ihren Preis wert.“ Die Rabattverträge müssten weg, die Finanzierung der Arzneimittelversorgung auf sichere Füße gestellt werden. Hier sei die Politik gefordert, sagt Cüppers. „Wir kämpfen jetzt darum, die Produktion möglichst wieder zurückzuholen nach Deutschland, beziehungsweise nach Europa. Die Kapazitäten, das zu produzieren, sind vorhanden.“
Hier müssen sich die Akteure bewegen, sagt auch Kinderarzt Abou Lebdi. „Es sind ja viele Anbieter vom Markt verschwunden, weil sie gesehen haben, dass sie mit den steigenden Kosten bei gleichbleibenden Preisen in einem System, das sich sehr träge nur Preise anpasst, einfach nicht mehr produzieren können.“ Das sei für die ganze Gesellschaft ungünstig. „Das kann so nicht bleiben.“
"Da ist nicht so viel Verständnis da"
Auch in der Blasius-Apotheke in Düsseldorf sehen Barbara Grätz und Regina Waerder die Ursachen des Medikamentenmangels in einer zum Teil völlig fehlgeleiteten Preispolitik. „Zehn Zäpfchen Paracetamol dürfen im Verkaufspreis 1,17 Euro kosten, und da sind noch 19 Prozent Mehrwertsteuer drin. Für dieses Geld kann kein Mensch der Welt diese Zäpfchen produzieren.“
Die Konsequenzen spüren Patienten und Patientinnen aktuell am eigenen Leib, wenn Blutdruckmittel, Cholesterinsenker oder Schmerz-Medikamente einfach nicht aufzutreiben sind. Eine schwierige Situation auch für die Apothekerin Barbara Grätz. „Gerade Eltern von kleinen Kindern, denen man nicht helfen kann. Da ist nicht mehr so viel Verständnis da. Im Grunde können wir nur aufklären, dass es nicht unsere Schuld ist, dass wir gerne beliefern wollen würden, aber nicht können.“