Medikamentenversuche an Heimkindern

"Das war die Hölle"

29:50 Minuten
"Ehemalige Heimkinder" ist auf den T-Shirts eines Mannes und einer Frau zu lesen, auf denen auch eine weinende Figur aufgedruckt ist.
Viele Minderjährige waren in Kinderheimen nicht nur Zwangsmedikationen, sondern auch medizinischen Eingriffen zu Testzwecken ausgesetzt. © picture alliance / dpa/Stephanie Pilick
Von Stephanie Kowalewski |
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Was die Pharmazeutin Sylvia Wagner ans Licht gebracht hat, ist erschütternd: Ab den 50er-Jahren wurden in deutschen Heimen Medikamentenversuche an wohl Tausenden von Kindern durchgeführt. Das Leben von Betroffenen ist dadurch ruiniert.
"Ich hab jetzt inzwischen 80 Versuchsreihen gefunden. Es ist aber absehbar, dass das eigentliche Ausmaß noch viel größer ist und dass es Tausende Kinder betroffen hat."
Sylvia Wagner, Pharmazeutin. Sie machte mit ihrer Studie 2016 den Skandal öffentlich.
"Ja und dann hieß es: ins Büro. Da waren die Schächtelchen mit den Medikamenten, Mund auf, runterschlucken, Kontrolle. Ich war einfach völlig benebelt. Wie so ein Zombie irgendwie, völlig willenlos. Und das hat dann natürlich viele Angestellte dazu gebracht, sich jahrzehntelang an den Kindern zu vergehen."
Reiner Gläser, ehemaliges Heimkind.
"Atosil, Neurocil, Melleril-Retard 200, Speda zum Schlafen, weil ich einmal abends um halb Zehn auf der Fensterbank gesessen hab. Das waren alles Medikamente gegen Schizophrenie, gegen Psychosen richtig. Und ich hatte damals noch keine Psychose. Die haben aber bei mir dann eine Psychose ausgelöst."
Petra Alice Berg, ehemaliges Heimkind.
"Ab Mitte der 50er-Jahre mit Einzug von Psychopharmaka werden die Kinder regelrecht sediert. Man kann schon feststellen, dass es eine kollektive Vergiftung gegeben hat."
Frank Sparing, Medizinhistoriker an der Düsseldorfer Universität.
Tausende betroffene Kinder und Jugendliche, kollektive Vergiftung und der Vorwurf der teils schweren Körperverletzung. Das alles wiegt schwer. Bis heute. Besonders für die damals Minderjährigen, die zwischen 1950 und 1975 in Kinderheimen, Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen lebten. Viele von ihnen wurden über Monate und Jahre für Medikamentenversuche benutzt, mit Pillen und Säften ruhiggestellt, mit Hirnwasserpunktionen gequält und wohl auch sexuell missbraucht.

Keine Hilfe von der Heimaufsicht oder vom Jugendamt

So etwas vergisst man nie, sagt Reiner Gläser, der in seiner kleinen Kölner Wohnung in den Akten blättert. Seit Jahren sammelt er alles, was sein Leid in dieser Zeit beweisen könnte. Er wirkt stark und kämpferisch, wenn er von den Grausamkeiten im Kinderheim redet. Doch immer wieder ringt der große, massige Mann um Fassung.
"Das war… das war die Hölle. Ich bin heute 58 und leide heute noch unter dem Dilemma der Medikamentenversuche in der Einrichtung der Bergischen Diakonie Aprath."
Er war neun Jahre alt, als er in das Kinderheim in der Nähe von Wuppertal kam.
Illustration - Ein Mädchen bekommt verschiedene Tabletten in die Hand geschüttet, aufgenommen am 19.02.2014 in Berlin. Foto: Jens Kalaene/dpa | Verwendung weltweit
Der Betroffene Reiner Gläser schätzt, dass er im Kinderheim bis zu 40 unterschiedliche Medikamente verabreicht bekam.© dpa-Zentralbild
"Also ich habe vom zweiten Tag an Adumbran bekommen. Vom dritten, vierten Tag hab ich bekommen Valium, zwei Stück, teilweise drei und Encephabol. Das ist ein Mittel für schwerst Demenzkranke."
Reiner Gläser schätzt, dass er während dieser Zeit bis zu 40 unterschiedliche Medikamente verabreicht bekam. Von den allermeisten kennt er keine Namen.
"Die haben den Kindern regelmäßig, und zwar allen Kindern, ganz bestimmte Medikamente gegeben. Die wurden untersucht, die Kinder, wie die auf die Medikamente reagieren. Und nach vier Wochen kam ein neues Medikament, und wieder ein neues. Manchmal Säfte, Tuben, Pillen – also unmöglich. Und natürlich konnte man da keine Hilfe erwarten von Heimaufsicht oder vom Jugendamt oder, oder, oder. So mussten wir da eben unser Dasein fristen."
Psychopharmaka, Libido hemmende Arzneistoffe, Antidepressiva, Schlaftabletten, Neuroleptika, Impfstoffe, Beruhigungsmittel.
Auch Petra Alice Berg ist eine der vielen Betroffenen. Die kleine Frau mit den wachen Augen liebt Lyrik, schreibt selbst Gedichte – auch um das für sie nach wie vor unfassbare Leid ihrer Jugend irgendwie greifbar zu machen. Sie war zwölf als sie im Sommer 1968 ihrer allein erziehenden Mutter weggenommen wurde – wegen Schulschwierigkeiten.
"Da hat man mich in ein Kindersanatorium gesteckt und fing dann an, Medikamente an mir auszuprobieren. Und dann ging es praktisch am nächsten Tag schon los mit Melleretten-Tropfen."
Ein Medikament, das bei chronischen Formen von Schizophrenie verabreicht wird, mit dem Psychosen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen bekämpft werden sollen. Krankheiten, die bei Kindern äußerst selten auftreten. Petra Alice Berg war ein körperlich und geistig gesundes Mädchen.
"Ich war seelisch krank, aber ich war nicht schizophren. Also ich war nicht geisteskrank, will ich jetzt mal sagen."
Die Psychopharmaka, die sie dennoch schlucken musste, hatten verehrende Nebenwirklungen.
"Nach diesen Melleretten-Tropfen hatte ich plötzlich eine Stimme im Kopf. Eine ganz böse Stimme, die ich als Stimme des Teufels interpretiert habe. Und der sagte: ich mach dich fertig, ich mach dich kaputt, ich treib dich in den Selbstmord. Das war für mich ganz fürchterlich. Und ich konnte mit keinem darüber reden, weil ich genau wusste, wenn ich das den Erzieherinnen oder der Ärztin erzähle, krieg ich noch mehr Medikamente."

Auch an Säuglingen wurden Impfstoffe getestet

Dass Reiner Gläser und Petra Alice Berg heute überhaupt Gehör für ihr Leid finden, haben sie maßgeblich der Forschungsarbeit der Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner zu verdanken. Sie hat für ihre Doktorarbeit in Archiven von Pharmafirmen und Einrichtungen nach Belegen für die Arzneimitteltests an schutzbedürftigen Minderjährigen gesucht und sich durch längst vergilbte Fachzeitschriften gewühlt, in denen die Ärzte ihre Studienergebnisse veröffentlicht hatten.
"Also die Ärzte beschreiben die Prüfsituationen: dass es eben zum Teil Doppelblindstudien waren oder dass es da eine Kontrollgruppe gab oder dann war das Medikament noch nicht auf dem Markt und man wollte gucken, wie es wirkt oder welche Nebenwirkungen es hat. Es sind Präparate getestet worden, um Kinder ruhig zu stellen. Sedierende Präparate also, Psychopharmaka – da hauptsächlich Neuroleptika. Man hat aber auch an Säuglingen in Säuglingsheimen Impfstoffe getestet."
Das Logo des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) mit dem Slogan "Qualität für Menschen" auf der Zentrale in Köln
Träger von Heimen und Kliniken in denen Zwangsmedikationen durchgeführt wurden, war unter anderem der Landschaftsverband Rheinland.© imago/Manngold
Leidtragend sind wahrscheinlich tausende Kinder, die in staatlichen und konfessionellen Einrichtungen untergebracht waren. Träger solcher Heime und Kliniken war unter anderem der Landschaftsverband Rheinland – kurz LVR, sagt Lorenz Bahr, der heutige Leiter des Landesjugendamtes.
"Wir haben als Landesjugendamt unterschiedliche Rollen, in denen wir damals unterwegs waren. Wir waren für die Fürsorgezöglinge zuständig an 'Eltern statt'."
Das Landesjugendamt hat damals die Entscheidungen für die Kinder getroffen, nicht die Eltern.
"Gleichzeitig haben wir die Einrichtungen beaufsichtigt."
Es war also ein geschlossenes System, ein pharmazeutisches Netzwerk aus Ärzten, Pharmafirmen und Behörden, in dem die Kinder und Jugendlichen nicht auf Hilfe von außen hoffen konnten.
Sicher ist, dass es in den LVR-Kliniken in Bonn und Viersen Arzneimitteltest gegeben hat, bestätigt Lorenz Bahr.
"Das für mich Überraschende war, dass eben nicht die Pharmaindustrie auf die Einrichtungen zugegangen ist und tatsächlich systematisch, was man vermuten könnte, die damals entwickelten Psychopharmaka getestet hat, sondern dass der Heimarzt selber eben wissen wollte, wie wirken die Medikamente und dann auch systematische Tests an Kindern durchgeführt hat."

Versuche mit stark wirkenden Neuroleptika

Der LVR hat sehr schnell auf die Veröffentlichungen der Krefelder Pharmazeutin reagiert und mehrere Studien zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Auftrag gegeben – auch an den Medizinhistoriker Frank Sparing von der Universität Düsseldorf. Inzwischen liegen erste Ergebnisse vor.
"Es gab auch Studien in Grafenberg oder Bedburg-Hau, die vielleicht in ihrer Fragwürdigkeit noch ernster einzuschätzen sind, als die Dipiperonversuche in Viersen-Süchteln. Weil da geht es um Versuche mit stark wirkenden Neuroleptika anhand von, wie es heißt, 'Schwachsinnigen' sechs- bis neunjährigen Kindern."
Sylvia Wagner, die den Skandal bundesweit untersucht, kann bisher rund 80 Versuchsreihen nachweisen – in nahezu allen alten Bundesländern.
"Man kann davon ausgehen, dass es noch mehr Arzneimittelprüfungen gab. Das scheint schon so umfangreich zu sein, dass man da nicht von einzelnen schwarzen Schafen reden kann – sowohl von Pharmaunternehmen als auch von Ärzten in den Einrichtungen. Es war damals eine gängige Praxis anscheinend."
Atosil, Imap, Melleretten, Truxal, Neurocil, Androcur, Encephabol, H 502, Megaphen, Speda, Dipiperon, T 57, Adumbran, Valium, Decentan, Melleril, Haloperidol, Reserpin …
Unstrittig ist auch, dass die Kinder Pillen und Säfte teilweise in derart hohen Dosen verabreicht bekamen, dass sie sogar künstlich ernährt werden mussten. Das waren durchaus toxische – also giftige – Gaben, sagt Frank Sparing.
"Also wenn man sich etwa das Franz-Sales-Haus anguckt in Essen, da ist es so, dass die Pharmafirma das in Auftrag gegeben hat. Das war Merck. Da ist eine Studie durchgeführt worden mit Decentan. Das ist ein sehr stark wirkendes Neuroleptikum. Da ist es sogar so, dass selbst die Vertreter der Pharmafirma sagen, die Dosierungen seinen viel zu hoch."
An der Testreihe wurde dennoch nichts geändert und Merck hat dem Arzt die Arznei auch nicht entzogen. Auch Sylvia Wagner berichtet von Dosierungen, die zum Teil um das Zehnfache überschritten wurden.
"Ein Arzt hat bei der Wirkung und Verträglichkeit geschrieben: Starrkrampf im Bereich der Rückenmuskulatur, Blickkrampf nach links oben, plötzlich Schreikrämpfe, die linke Seite war wie gelähmt, Mund schief, steht apathisch herum, das Gesicht ist mimikarm, völlig verändert, taumelt."

Ehemaliger Klinikdirektor war Gutachter von Euthanasieaktionen

Wie konnte das geschehen? So kurz nach dem Regime der Nationalsozialisten. So kurz nach dem Nürnberger Ärzteprozess, in dem es um Menschenversuche und Euthanasie ging. Warum gab es niemanden, der den Kindern und Jugendlichen zur Seite stand, der auf die gravierenden und selbst für Laien deutlich sichtbaren Nebenwirkungen der Medikamente reagierte? Es liegt auch am damals vorherrschenden Menschenbild, sagt der Medizinhistoriker Frank Sparing. Er hat klare Fakten für ein nationalsozialistisches Menschenbild gefunden.
"Für Bonn kann man das recht eindeutig an der Person des Direktors festmachen, an Dr. Hans-Aloys Schmitz. Der nachweislich ein Gutachter der Euthanasieaktion T4 gewesen ist."
Die "Aktion T4" steht für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen, die im Verständnis der Nationalsozialisten "lebensunwert" waren.
"Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass auch Schmitz Einfluss darauf gehabt hat, Tötungsentscheidungen mit zu entscheiden. Vielleicht sogar maßgeblich. Hans-Aloys Schmitz ist bis 1964 Leiter in der Bonner Klinik gewesen und hat sicher erheblich den Stil des Hauses geprägt und damit auch das Menschenbild. Der diagnostische Blick ist weitgehend identisch geblieben."
Auch Leiter anderer Einrichtungen – wie etwa Hans Heinze in Wunstorf bei Hannover und Friedrich Panse in Düsseldorf waren als Gutachter im Mordprogramm T4 verstrickt. Dennoch konnten sie, wie viele andere Ärzte auch, ihre Arbeit und Forschung nach 1945 fortsetzten.
Obendrein löste das Aufkommen der Psychopharmaka Anfang der 1950er-Jahre fast so etwas wie einen Hype bei Medizinern und Pädagogen aus, sagt Lorenz Bahr vom Landschaftsverband Rheinland – LVR.
"Es war die Rede von einer Verbreiterung der pädagogischen Eingriffsmöglichkeit. Also man glaubte, mit einer weißen Pille einen Menschen zu einem besseren Menschen erziehen zu können."
Wobei bis Mitte der 1970er-Jahre eine fundierte Diagnose keine zwingende Voraussetzung für den Einsatz selbst stärkster Medikamente war. Und selbst wenn es Diagnosen gab, waren die oft willkürlich, kann Frank Sparing belegen.
"Für die Psychiater, noch in den 60er-Jahren, galt, dass 'Schwachsinn' jegliche Form von normabweichendem, auffälligem Verhalten gewesen ist."
Und Lorenz Bahr räumt ein, dass damals viele Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen zur Kriegskindergeneration gehörten.
"Ich glaube, da waren ganz viele, die als 'schwachsinnig' bezeichnet wurden, schlicht und ergreifend nach heutigen Maßstäben traumatisiert."

Kinder wurden auch medizinischen Eingriffen unterzogen

Genau diese Willkür und Zwangsmedikation hat auch Petra Alice Berg erlebt. Sie musste während ihrer jahrelangen Aufenthalte in unterschiedlichen Einrichtungen fortwährend eine Vielzahl Medikamente schlucken – ohne eine entsprechende Diagnose. Als sie 17 Jahre alt war, landet sie schließlich in der Psychiatrie in Emmendingen. Dort bekam sie ein Mittel gegen Epilepsie: Tegretal.
"Aber Epilepsie hatte ich auch nicht. Das hat fürchterliche Wirkung gehabt. Das hat mich ganz out of order gesetzt. Ich konnte nicht mehr klar denken, keinen Brief schreiben, keinen klaren Satz mehr rausbringen. Das ging wochenlang so. Und dann bin ich ja abgehauen aus der Psychiatrie."
Atosil, Imap, Melleretten, Truxal, Neurocil, Androcur, Encephabol, H 502, Megaphen, Speda, Dipiperon, Adumbran, Valium, Decentan, Melleril, Haloperidol, Reserpin …
Aber die Minderjährigen waren nicht nur chemischer Gewalt ausgesetzt. Es gibt eindeutige Belege, dass sie damals auch medizinischen Eingriffen unterzogen wurden.
"Ich glaube, wie ich elf war, hab ich zum ersten Mal hier in den Nacken so ein Metallrohr bekommen. Da haben die irgendwas rausgesaugt aus mir. Und ich weiß nicht, was die damit bezweckten. Und im Rücken auch bestimmt 30-mal. Und etwa na 1000-, 1200-mal Blut abgenommen."
Rainer Gläser, der fünf Jahre in einem Kinderheim verbrachte, zieht sein T-Shirt hoch, zeigt seinen Rücken. Tatsächlich sieht man noch heute – fast 50 Jahre später – kleine Narben und bläuliche Verfärbungen am Rücken und in den Armbeugen.
Das, was Reiner Gläser da über sich ergehen lassen musste, nennen Mediziner Pneumoenzephalografie oder – etwas laienhafter – Gehirnwasserpunktion. Dabei wird mit einer langen Nadel erst Flüssigkeit aus dem Rückenmark abgesaugt und dann Luft hineingespritzt, die ihren Weg bis zum Gehirn findet. So konnten bei einer Röntgenaufnahme die Hirnwindungen sichtbar gemacht werden. Die Kinder hatten danach tagelang extreme Kopfschmerzen, konnten sich vor Schmerzen kaum bewegen. Und doch wurden diese Eingriffe sogar ohne jegliche medizinische Indikation durchgeführt, betont der Wissenschaftler Frank Sparing.
"Die Massenhaftigkeit der Durchführung steht meiner Ansicht nach, also da will ich auch mal werten, in keinem Verhältnis zu dem diagnostischen Ertrag. Ja und sich auch der Verdacht aufdrängt, dass das auch als Sanktion eingesetzt worden ist."
Gehirnwasserpunktion als Strafe – und das bis Mitte der 1970er-Jahre! Mehr noch: Die Pharmazeutin Sylvia Wagner hat auch Belege für Gehirnoperationen gefunden.
"Da wurden im Gehirn bestimmte Bereiche zerstört, wo man eben dachte, dass in diesem Bereich diese Unruhe lokalisiert werden kann."

"Die Kinder sind missbraucht worden für die Studien"

Alles ohne die Minderjährigen über Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente oder Eingriffe aufzuklären. Ohne ihnen zu sagen, warum und was sie da eigentlich schlucken. Kein Wort dazu, dass es zum Teil unerforschte Medikamente sind, Arzneimittel, die noch gar nicht auf dem Markt sind, dass sie an Studien teilnehmen, dass man an ihnen Dosis, Wirkung und Nebenwirkung testet. Gar nichts, erbost sich Petra Alice Berg.
"Man hat gesagt, du kannst es dir aussuchen liebes Kind: entweder du schluckst die Medikamente jetzt freiwillig oder ich hol die Frau Doktor, dann kriegst du sie gespritzt. Was ist dir lieber? Ja, dann hab ich die natürlich genommen. Klar."
Letztlich wurden weder die Minderjährigen noch ihre Eltern um Einwilligung gebeten, sagt die Pharmazeutin Sylvia Wagner. Sie hat in Bergen von Akten und medizinischen Fachzeitschriften akribisch danach gesucht.
"Ich habe nirgendwo Einwilligungen gefunden, auch nicht in den Archiven der Pharmafirmen."
Daher steht für sie und eine Reihe anderer Experten fest:
"Die Kinder sind missbraucht worden für die Studien. Rein rechtlich hätten diese Versuche nur mit Einwilligung erfolgen dürfen."
Für viele Träger der Einrichtungen und auch für die Pharmafirmen ist das nicht so eindeutig. Sie verweisen – wie Lothar Bahr vom LVR – auf die damalige Rechtslage.
"Also in den 50er- und 60er-Jahren waren diese Tests und der Einsatz von Medikamenten wahrscheinlich nicht illegal."
Und der Arzneihersteller Janssen, dessen Mittel Dipiperon in der Viersener Klinik getestet wurde, teilt uns auf Anfrage schriftlich mit:
Zitat: Vor 50 Jahren gab es keine gesetzlichen Regelungen für die Durchführung klinischer Studien in Deutschland.
Tatsächlich sorgte erst 1961/62 der Contergan-Skandal dafür, dass Medikamentenstudien seit 1976 klaren Regeln unterliegen. 15 Jahre später! Aber es gab das Strafgesetzbuch und das Grundgesetz, in dem die Würde des Menschen als unantastbar festgeschrieben ist, hält die Pharmazeutin Sylvia Wagner dagegen.
"Und da wurde ganz deutlich gegen die Würde des Menschen verstoßen. Es gab das Strafgesetzbuch, da war schon klar benannt, dass ein ärztlicher Eingriff – auch ein Heileingriff – ohne Einwilligung der Betroffenen eine Körperverletzung ist."

Bislang ermittelt keine einzige Staatsanwaltschaft

Außerdem wurde gegen die ethischen Richtlinien für Medizin verstoßen, die schon damals im Nürnberger Kodex und der Deklaration von Helsinki festgelegt waren. Deshalb kam im Jahre 2010 auch der Runde Tisch Heimerziehung zu dem Schluss, dass hier zumindest der Anfangsverdacht der schweren Körperverletzung bestehe. Doch bislang ermittelt bundesweit keine einzige Staatsanwaltschaft. Und die Politik duckt sich fast flächendeckend weg. Das NRW-Gesundheits- und Sozialministerium, das für ein Interview nicht zur Verfügung stand, teilt uns in einer schriftlichen Stellungnahme dazu mit:
Zitat: Die Ergebnisse der Aufarbeitung durch die betroffenen Einrichtungen bleiben abzuwarten.
Die Heimkinder von damals werden so heute ein weiteres Mal allein gelassen. Noch immer schieben manche Beteiligte die Verantwortung weit von sich. Allen voran die Pharmafirmen. Manche leugnen jegliche Beteiligung an den Arzneimitteltests. Obwohl die Behringwerke, die im heutigen Unternehmen CSL Behring aufgegangenen sind, nachweislich einen Impfstoff an Säuglingen in einem Düsseldorfer Heim erprobt haben, heißt es von Unternehmensseite lapidar:
Zitat: CSL Behring liegen keine Informationen über die Fakten und Hintergründe eines missbräuchlichen Medikamenteneinsatzes an Minderjährigen in Kinderheimen, Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen in der Zeit von 1950 bis 1975 vor.
Andere – wie Merck – legen Wert darauf, dass sie nicht alleine schuldig sind.
Zitat: Das Thema betrifft alle zur fraglichen Zeit tätigen Pharmaunternehmen.
Und der Arzneimittelhersteller Janssen schrieb uns:
Zitat: Die Veröffentlichungen von Sylvia Wagner haben uns sehr betroffen gemacht. Dies gilt umso mehr mit Blick auf klinische Studien, die offenbar auch mit Medikamenten unseres Unternehmens durchgeführt wurden. … Hinweise auf eine Beteiligung von Janssen als Auftraggeber dieser Studien haben wir nicht gefunden.
Das Franz-Sales-Haus in Essen, aufgenommen 2016
Medikamente des Pharmakonzerns Merck sind Ende der 50er-Jahre an Heimkindern in Essen getestet worden.© picture alliance / dpa/Wolfram Kastl
Es gibt aber Belege, dass zumindest einige Studien in den Einrichtungen von Pharmafirmen initiiert wurden und nicht von den Ärzten. Unstrittig ist auch, dass die Arzneihersteller die Einrichtungen mit Pillen, Säften und Tuben versorgt haben. Und zwar massenhaft! Eine Einrichtung in Bielefeld hat damals zum Beispiel 17.000 Dragees zu Testzwecken erhalten. Das Pharmaunternehmen Merck zum Beispiel, das sein stark wirksames Neuroleptikum Decentan im Essener Franz-Sales-Haus an 5- bis 13-jährigen Kindern testen ließ, teilte uns dazu schriftlich mit:
Zitat: Merck gab Proben an Kliniken, "Anstalten" oder niedergelassene Ärzte, die sich mit den Indikationen beschäftigten, und bat um "Erfahrungsberichte". Ärzte forderten Proben auch direkt an. (…) Die Verantwortung für den Einsatz von Medikamenten lag (und liegt) beim Arzt. (…).
Das stimmt zwar, sagt Sylvia Wagner.
"Aber wenn ich weiß, dass das Präparat an Kindern getestet werden soll und die wahrscheinlich nicht gefragt werden, dann bin ich da natürlich auch in der Pflicht als Pharmaunternehmen. Präparate zu testen an Kindern, die in einer Institution leben, die ja sozial benachteiligt sind, wo auch die Eltern nicht vor Ort sind, ist ethisch nicht zu rechtfertigen."

Finanzielle Entschädigungen? Pharmakonzerne winken ab

Selbst der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller, Hermann Kortland, sagte im November 2017 gegenüber dem NDR:
"Da gehe ich jetzt mal ins Wort: ich kann mir nicht vorstellen, dass die Unternehmen in so klaren Fällen, wo es auch nachgewiesen ist und wo sie es auch zugeben, einer Entschädigung nicht zustimmen."
Doch bei unseren Fragen nach einer finanziellen Entschädigung der Opfer winken die Pharmakonzerne ab. Die Antwort von Merck, einem Unternehmen das wenigstens seine Archive für Forscher und Journalisten öffnet, steht quasi für die ganze Branche:
Zitat: Nach unserer Kenntnis hat Merck nicht rechtswidrig gehandelt. Daher stellt sich die Frage nach Wiedergutmachung nicht. Sollten sich Dritte nicht entsprechend der Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir dies aufrichtig.
Punkt!
Für Petra Alice Berg, Reiner Gläser und die unzähligen, anderen Betroffenen ist das Verhalten der Pharmafirmen, der Politik und auch vieler Einrichtungen eine weitere Missachtung und tiefe Verletzung. Sie sind Opfer, aber…
Berg: "Beweisen kann ich das heute nicht mehr! Das ist ja das!" Gläser: "Naja, verjährt ist das alles. Ätschibätsch, Verjährt, Pech gehabt auf Wiedersehen. Helfen tut einem da keiner."
Reiner Gläser, der im Heim jahrelang mit Medikamenten, medizinischen Eingriffen und auch sexuellem Missbrauch leben musste, kämpft seit Jahren um die Anerkennung seines Leids.
"Dass ich – ich sag mal – einen an der Birne habe, war mir schon klar, ich wusste nur nicht warum. Ich hab keinen Zusammenhang gesehen und musste damit eben leben. Es war schwer, damit klar zu kommen."
Auch Petra Alice Berg sagt, sie sei durch die vielen Medikamente, die sie in jungen Jahren nehmen musste, psychisch krank geworden. Bis heute ist sie wegen Schizophrenie und bipolarer Störungen in Behandlung.
"Es hat mein Leben auf jeden Fall ruiniert. Ich konnte beruflich nicht das machen, was ich von den Talenten her hätte machen können und ich habe partnerschaftlich keine Erfüllung gefunden. Ich hab eine Tochter, die kam mit knapp sechs Jahren zu meiner Mutter in den Haushalt, weil ich halt aufgrund meiner psychischen Krankheit gar nicht mehr in der Lage war, sie zu erziehen."

Die Opfer fühlen sich allein gelassen – damals wie heute

Petra Alice Berg, Reiner Gläser und auch die vielen anderen Opfer fühlen sich allein gelassen – damals wie heute. Dabei gäbe es zwei gewichtige Dinge, die ihnen das Leid und damit auch das Leben erleichtern könnten:
Gläser: "Erst einmal eine Entschuldigung der Täter. Das würde mir gut tun."
Berg: "Dass die hergehen und sagen, wir haben euch das Leben ruiniert, wir wollen jetzt Wiedergutmachung leisten. Eine Wiedergutmachung, die sich wirklich so nennen kann."
Denn die gibt es bisher nicht! Hilfe erhalten die Opfer von Medikamententests aus zwei Fonds: Dem Fonds Heimerziehung sowie der Stiftung Anerkennung und Hilfe. Doch obwohl sich die Politik bei Fragen nach der Verantwortung darauf beruft, dass die Aufarbeitung noch in vollem Gange ist, sind beide Fonds befristet. Der Heimerziehungsfonds wurde schon 2014 geschlossen – zwei Jahre bevor der Skandal der Medikamententests überhaupt öffentlich wurde.
Ein gravierender Widerspruch, findet Lorenz Bahr vom LVR, der auch Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene ist.
"Ich würde mir wünschen, dass es weiterhin eine Möglichkeit gäbe, über diese Fonds Hilfe zu erhalten und eben auch eine entsprechende Anerkennungsleistung. Da sind wir in Gesprächen, das müssen wir dann gucken. Aber am Ende sind das Bundesstiftungen, in die wir alle einzahlen und deren Mittel wir da bewirtschaften."
Dass alle einzahlen stimmt nicht. Bund, Länder und die Kirchen übernehmen die Kosten zu je einem Drittel. Die Pharmaunternehmen beteiligen sich an keinem der Fonds.
Und längst nicht alle, die möglicherweise einen Anspruch auf Hilfsleistungen haben, machen den auch geltend. Laut Bundesregierung haben sich an den Fonds Heimerziehung knapp 20.000 Betroffene gewandt. Das sind noch nicht einmal drei Prozent der bis zu 800.000 Kinder und Jugendlichen die von 1950 bis 1975 in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen untergebracht waren.

"Frieden kann ich mit der Sache nicht machen"

Außerdem betonen beide Fonds, dass es nicht um Entschädigung geht, sondern um pauschale Hilfen zur Bewältigung von Folgeschäden: Beim Heimkinderfonds gab es einmalig bis zu 10.000 Euro – zum größten Teil als Sachleistungen. Bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe können Betroffene noch bis Ende 2019 eine einmalige Pauschale von 9000 Euro beantragen. Obendrein gab es eine Einmalzahlung für die von Kinder und Jugendlichen geleistete Arbeit. Und natürlich können die Opfer nur Leistungen aus einem der beiden Töpfe erhalten.
Petra Alice Berg hat auch mit Hilfe des LVR Geld bekommen.
"9000 Euro und 3000 für Zwangsarbeit im Mädchenheim."
Ausreichend findet sie das bei Weitem nicht.
"Nein! 12.000 Euro hört sich viel an, aber als einmalige Summe für ein ganzes Leben lang ist das nicht viel."
Fondszahlungen sind eben kein Ersatz für eine Opferrente, findet auch Reiner Gläser. Er hat 10.000 Euro als Hilfsleistungen bekommen und ist bitter enttäuscht.
"Aber 10.000 Euro ist einfach nichts! Das ist nichts. Wiedergutmachen kann man den Schaden gar nicht. Das geht überhaupt nicht."
Doch noch hat er den Kampf um Gerechtigkeit und Anerkennung nicht aufgegeben. Im Moment treibt ihn ein Urteil des Landessozialgerichtes NRW aus dem Jahre 2004 um.
"Woraus hervorgeht, dass diese Verabreichung von Medikamenten eine vorsätzliche Verabreichung von Gift war. Und da spielt das Strafrecht eine andere Rolle. Eventuell ist das noch nicht verjährt. Das klären wir gerade ab."
Er dreht er sich eine Zigarette, atmet den Qualm tief ein, blickt durch das Fenster in den grauen, regnerischen Tag hinaus…
"Frieden kann ich mit der Sache nicht machen. Ich fühle mich einfach machtlos. Also ich wäre heute ganz sicher ein völlig anderer, wenn das nicht passiert wäre. Ganz, ganz sicher. Tja. Mehr kann ich dazu nicht sagen."
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