Umstrittene Wirksamkeit von Antidepressiva
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Fachverbände und Krankenkassen verzeichnen in Pandemiezeiten eine Zunahme von depressiven Symptomen. Die Zahl der Verschreibungen von Antidepressiva steigt unabhängig davon schon seit Jahren. Dabei ist ihre Wirkung keineswegs unumstritten.
"Das erste Mal, dass ich gedacht habe, irgendetwas stimmt nicht, hat sich ganz klar durch extreme Schlafstörungen gezeigt. Ich glaube, das war so in der fünften, sechsten Klasse im Gymnasium. Ich konnte einfach nicht mehr einschlafen."
Clara Güll muss so 12 Jahre alt gewesen sein. Mit einem Verdacht geht die Familie zum Hausarzt. Die Diagnose 'wiederkehrende Depressionen' erfährt Clara Güll erst Jahre später - doch sie merkt damals schon: Die verordneten Therapiegespräche mit der Psychologin tun ihr gut.
Mangel an Psychotherapeuten in Deutschland
Seitdem hat sie immer wieder Phasen mit stärkeren Depressionen, sogar Suizidgedanken. "Es ist eine große Leere in einem. Es fühlt sich ganz schwer an, als würde etwas auf einem sitzen und als wäre man so abgespalten von der Welt, komplett allein fühlt man sich." Diese Gefühle verarbeitet die heute 28-Jährige künstlerisch, schreibt Songs und Gedichte. Zur Therapie geht sie weiterhin, seit etwa drei Jahren nimmt sie außerdem Antidepressiva. Zunächst hatte sie Vorbehalte:
"Oh Gott, Antidepressiva, die haben so einen schlechten Ruf. Und eigentlich möchte ich das überhaupt nicht. Ich möchte nicht abhängig werden von irgendwelchen Medikamenten und ich habe auch Angst, dass das meine Kreativität nimmt, dass es mich verändert."
Solche Reaktionen kennt Ulrich Hegerl gut. Er ist Vorsitzender der deutschen Depressionshilfe und Professor für Psychiatrie an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main. Nach jahrelanger Erfahrung mit Patienten hält er die positive Wirkung von Antidepressiva für unbestreitbar. Zumal, weil es nicht genug Psychotherapeuten in Deutschland gebe. Hier können Antidepressiva aushelfen, zum Beispiel bei der Erstversorgung. Auch wenn noch nicht ganz klar ist, wie diese wirken.
"Man weiß, dass sie die Botenstoffe beeinflussen, das Serotonin, das Noradrenalin. Das weiß man. Aber wie das jetzt genau seine Wirkung entfaltet, das hat man nicht verstanden, weil man den genauen Krankheitsmechanismus der Depression nicht kennt. Es gibt so viele Veränderungen im Gehirn in der Depression, dass man immer nicht genau weiß: was ist die Ursache und was ist die Folge der Depression?"
Entstehung von Depressionen hat mehrere Gründe
Depressionen sind ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren: Genetische Veranlagung, ein Mangel oder Ungleichgewicht bestimmter Botenstoffe im Gehirn und belastende Erlebnisse - so der aktuelle Stand der Forschung. Was davon die größte Bedeutung hat, hängt davon ab, wen man fragt.
"Die meisten Menschen glauben, dass Depression vor allem die Reaktion auf schwierige Lebensumstände ist. Aber wenn man sehr viel Erfahrung hat mit Menschen, die an Depressionen erkrankt sind, dann merkt man, dass man diese Einflüsse deutlich überschätzt. Entscheidend ist die Veranlagung."
Unumstritten ist diese Position allerdings nicht - vor allem von Forschern, die weniger praktisch mit Patienten arbeiten, sondern sich auf die Studienlage stützen.
"Warum diagnostiziert man das denn nie? Warum kann man denn in den Patienten, die diese Diagnose bekommen, nicht im Gehirn nachschauen, wie es denn wirklich um deren Serotoninspiegel bestimmt ist? Und die Antwort darauf ist eben, dass diese Unterschiede, die man im Gehirn findet, eben wahnsinnig klein sind und auch nur bei manchen Personen überhaupt aus dem Normalbereich herausragen."
Im Durchschnitt lässt sich zwar ein leicht erhöhter Serotonin-Spiegel feststellen - im Einzelfall ist das aber nicht automatisch so, erklärt Stephan Schleim. Der assoziierte Professor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen sagt: Depressionen lassen sich nicht im Gehirn diagnostizieren, sondern nur über ein diagnostisches Gespräch.
"In der Forschung hat sich eben der biologische Ansatz durchgesetzt. Und dann auch noch nicht mal ein umfassender, sondern ein sehr reduktionistischer biologischer Ansatz, der im Prinzip den ganzen Menschen auf Hirnschaltkreise, auf Moleküle reduzieren will."
Placebo-Effekt wird unterschätzt
Stephan Schleim rät deshalb zu Vorsicht beim Einsatz von Antidepressiva. Zum einen würden sie keine Psychotherapie ersetzen, zum anderen seien sie oft nur bei mittelschweren bis schweren Depressionen wirksam. Aber auch hier werde der Placebo-Effekt häufig unterschätzt, wie inzwischen mehrere Studien gezeigt haben.
"Das erste Problem ist, dass wir ja in der Zwischenzeit relativ gute Daten haben, was man von den Antidepressiva in ihrer Wirksamkeit gegen Depressionen zu halten hat, wenn ausschließlich und nur Antidepressiva verordnet werden. Dass der Unterschied zwischen einer Placebowirkung bei bestimmten Antidepressiva - insbesondere bei leichten und mittelschweren Depressionen gegenüber dem wirklichen Arzneimittel - , dass dieser Unterschied eigentlich nur zu etwa 20 Prozent festgestellt worden ist", kritisiert Gerd Glaeske, Apotheker und Gesundheitswissenschaftler von der Universität Bremen.
Zudem: "Man sollte im Übrigen aber auch die Nebenwirkungen der Medikamente stärker ins Auge fassen und die auch zum Teil starken Entzugserscheinungen, die Leute kriegen können."
Weitere Studien zur Wirksamkeit erwünscht
Auch hier, ergänzt Stephan Schleim, sei die Datenlage noch eher dünn. Dennoch: In Deutschland hat die Verschreibung von Antidepressiva in den letzten zehn Jahren um rund 40 Prozent zugenommen - das zeigen die Daten der gesetzlichen Krankenkassen. Und bei aller Kritik: Auch Stephan Schleim und Gerd Glaeske weisen darauf hin, dass Antidepressiva helfen können.
Wichtig sei jedoch eine engmaschige Überwachung und eine zusätzliche Psychotherapie. Und: weitere - von der Pharmaindustrie unabhängige - Studien zur Wirksamkeit von Antidepressiva.
Clara Güll jedenfalls möchte noch nicht darauf verzichten: "Ich könnte mir, glaube ich, eher vorstellen, das Medikament vielleicht vor der Therapie abzusetzen. Aber das ist beides noch in der Ferne, da habe ich noch keine konkreten Pläne, wann ich was aufhöre. Ich versuche es einfach so lange für mich zu nutzen, wie es möglich ist."