Meditation über die menschliche Existenz
Leben und Tod, Liebe und Lust, Erfindung und Wirklichkeit: Diese existenziellen Themen verhandelt der russische Schriftsteller Gaito Gasdanow in seinem bei uns bislang unbekannten Meisterwerk "Das Phantom des Alexander Wolf". Nun erscheint das Buch erstmals auf Deutsch.
Ein rasanter Anfang: Ein junger Weißgardist, der Ich-Erzähler, sieht im russischen Bürgerkrieg 1917 einen "apokalyptischen" Reiter auf einem weißen Hengst auf sich zureiten. Sein eigenes Pferd ist ihm von diesem Reiter unterm Sattel weggeschossen worden, mühsam rappelt er sich auf, zieht seine Pistole, erschießt den Angreifer und galoppiert auf dessen Hengst vor herannahenden weiteren Feinden davon. Dieser "einzige Mord" seines Lebens, wie er es nennt, obwohl es nach dem Kriegsrecht keiner ist, verfolgt ihn von Stund an.
Es ist ein Kennzeichen des Romans, dass diese Passage, die trotz ihrer Rasanz wie in Zeitlupe an uns vorbeizieht, die einzige Actionszene bleibt. In diesem Buch passiert wenig, nur so viel: Der Ich-Erzähler liest Jahre später ein englisches Buch, in dem die geschilderte Szene minutiös wiedergegeben ist, Autor ist ein gewisser Alexander Wolf. Ist sein Gegner damals etwa doch nicht gefallen? Wo ist der Mann? Gab es ihn? Und vor allem: Was ist hier eigentlich Sache?
Der Roman, 1947/48 in einer Exilzeitschrift in New York auf Russisch erschienen, ist eine große Meditation über die menschliche Existenz, die auf den beiden Säulen Liebe & Tod beruht; zwei feindlichen Geschwistern sozusagen. Rätselhaft ist hier alles, allein schon deshalb, weil sämtliche Ereignisse und Begegnungen auf einem "unglaublichen Zusammentreffen von Umständen" beruhen. Den Heiligen Abend verbringt der Erzähler mit einem Mann, der Wolfs Buch dabei hat und sich als sein einstiger Mitkämpfer entpuppt. Und bei einem Boxkampf lernt er die anziehende, rätselhafte Jelena kennen, der er sofort verfällt, die aber wiederum einen einstigen Geliebten hat, der sie offenbar nicht freigeben will ... Manchmal ist man sich fast sicher, Paul Auster zum Beispiel müsse Gasdanows Roman, der schon 1950 auf Englisch erschien, gelesen haben.
Gasdanow selbst wiederum bezieht sich erkennbar auf die nicht-realistische, unheimliche Tradition des 19. Jahrhunderts. Man spürt den Hauch von E.T.A. Hoffmann, vermutlich aber über den Umweg über einen großen Amerikaner, der selbst von Hoffmann beeinflusst ist: Die letzten Seiten sind reinster Edgar Allan Poe. Aber Gasdanows Gabe, Angst- und Schuldzustände, scheinbar unerklärliche Verhaltensweisen seiner Figuren, atmosphärische Stimmungen so suggestiv, glaubwürdig und spannend zu schildern – diese Gabe bewahrt ihn davor, zum Epigonen zu werden.
Der Streit zwischen Erfindung und Wirklichkeit wird nirgendwo interessanter ausgefochten als in der Literatur. Lange vor der sogenannten Autofiktion zeigt uns Gasdanow, "wie fiktiv alles ist", wie irreal die Realität. Das Emigrantendasein spielt dabei eine Rolle, aber eine untergeordnete. Es geht um Allgemeinmenschliches, um Leben und Tod, um Liebe und Lust. Und über allem steht – in den heutigen Zeiten des autobiografischen Romans absolut verblüffend und fesselnd – das Fiktive jeder Wirklichkeit.
Besprochen von Peter Urban-Halle
Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
Hanser Verlag, München 2012
191 Seiten, 17,90 Euro
Es ist ein Kennzeichen des Romans, dass diese Passage, die trotz ihrer Rasanz wie in Zeitlupe an uns vorbeizieht, die einzige Actionszene bleibt. In diesem Buch passiert wenig, nur so viel: Der Ich-Erzähler liest Jahre später ein englisches Buch, in dem die geschilderte Szene minutiös wiedergegeben ist, Autor ist ein gewisser Alexander Wolf. Ist sein Gegner damals etwa doch nicht gefallen? Wo ist der Mann? Gab es ihn? Und vor allem: Was ist hier eigentlich Sache?
Der Roman, 1947/48 in einer Exilzeitschrift in New York auf Russisch erschienen, ist eine große Meditation über die menschliche Existenz, die auf den beiden Säulen Liebe & Tod beruht; zwei feindlichen Geschwistern sozusagen. Rätselhaft ist hier alles, allein schon deshalb, weil sämtliche Ereignisse und Begegnungen auf einem "unglaublichen Zusammentreffen von Umständen" beruhen. Den Heiligen Abend verbringt der Erzähler mit einem Mann, der Wolfs Buch dabei hat und sich als sein einstiger Mitkämpfer entpuppt. Und bei einem Boxkampf lernt er die anziehende, rätselhafte Jelena kennen, der er sofort verfällt, die aber wiederum einen einstigen Geliebten hat, der sie offenbar nicht freigeben will ... Manchmal ist man sich fast sicher, Paul Auster zum Beispiel müsse Gasdanows Roman, der schon 1950 auf Englisch erschien, gelesen haben.
Gasdanow selbst wiederum bezieht sich erkennbar auf die nicht-realistische, unheimliche Tradition des 19. Jahrhunderts. Man spürt den Hauch von E.T.A. Hoffmann, vermutlich aber über den Umweg über einen großen Amerikaner, der selbst von Hoffmann beeinflusst ist: Die letzten Seiten sind reinster Edgar Allan Poe. Aber Gasdanows Gabe, Angst- und Schuldzustände, scheinbar unerklärliche Verhaltensweisen seiner Figuren, atmosphärische Stimmungen so suggestiv, glaubwürdig und spannend zu schildern – diese Gabe bewahrt ihn davor, zum Epigonen zu werden.
Der Streit zwischen Erfindung und Wirklichkeit wird nirgendwo interessanter ausgefochten als in der Literatur. Lange vor der sogenannten Autofiktion zeigt uns Gasdanow, "wie fiktiv alles ist", wie irreal die Realität. Das Emigrantendasein spielt dabei eine Rolle, aber eine untergeordnete. Es geht um Allgemeinmenschliches, um Leben und Tod, um Liebe und Lust. Und über allem steht – in den heutigen Zeiten des autobiografischen Romans absolut verblüffend und fesselnd – das Fiktive jeder Wirklichkeit.
Besprochen von Peter Urban-Halle
Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
Hanser Verlag, München 2012
191 Seiten, 17,90 Euro