Krank gespielt
Einige leiden unter Kreuzschmerzen, andere bekommen verkrümmte Finger: Viele Musiker leiden unter Berufskrankheiten. Wissenschaftler der ETH Zürich wollen den Ursachen häufiger Beschwerden auf den Grund gehen.
Tobias Grosshauser stimmt seine Geige an einem ungewöhnlichen Ort: im Institut für Elektronik der Eidgenössisch-Technischen Hochschule. Dort arbeitet der Freizeit-Violinist als wissenschaftlicher Mitarbeiter und bringt seine Geige jeden Tag mit an den Arbeitsplatz. Die hat er nämlich auf wundersame Weise verkabelt:
"Also die Kabel, darin werden die Daten übermittelt, die wir mit der Sensorik messen. Man sieht hier diese Streifen, die auf dem Griffbrett unterhalb der Saiten angebracht sind. Und diese Sensoren ermitteln, wo ein Finger gedrückt wird und wie stark dieser Finger drückt."
Aufs Neue nimmt Tobias Grosshauser sein Instrument in die Hand, beginnt zu spielen. Immer wieder blickt der junge Wissenschaftler während des Spiels nach links, auf einen Rechner. Dort tauchen für den Laien unverständliche Kurven und Zahlenreihen auf - die grafische Darstellung jener Daten, die die Sensoren auf der Geige über einen Mini-Sender an den Rechner funken. Alberto Calaroni arbeitet ebenfalls am Institut für Elektronik der ETH, blickt aufmerksam mal auf seinen Chef und dessen Geige, mal auf den Rechner:
"Wir haben mit verschiedenen Sensoren experimentiert auch im Bogen zum Beispiel, um die Bewegung im Bogen zu erkennen. Es gibt Möglichkeiten, den Druck auch im Kinnhalter zu messen. Eigentlich kann man alles messen, was die Bewegungen im Instrument und vom Körper angeht."
Dem Schmerz auf der Spur
Das funktioniert sogar bei mehreren Musikern, die gleichzeitig spielen. Dabei haben die Wissenschaftler ein wichtiges Ziel vor Augen: Die Vermeidung von Beschwerden und Erkrankungen bei Berufs- und Hobbymusikern, so Tobias Grosshauser:
"Die Beschwerden sind allgemeine Schmerzen, der Hände, des Rückens, bis zu den Extremen in den Knien. Alles was muskuläre Probleme angeht, gehört dazu, auch Sehnenscheidenentzündungen, Probleme mit den Sehnen und so weiter."
Anspannungen beim Abgreifen der Saiten hier, Verkrampfungen beim Anlegen der Geige auf der Schulter dort: Das sind die Ursachen für die Schmerzen und Beschwerden - Ursachen, mit denen Tobias Grosshauser und seine Kollegen mit den neu entwickelten Sensoren auf die Schliche kommen möchte.
"Vor allem, was die Kräfte und die Druckverhältnisse angeht, ist es einfach sehr schwer, das von außen zu sehen. Also beispielsweise bei der Geige: Wie stark ist eigentlich der Druck auf das Kinn oder auf die Schulter? Gleichzeitig aber: Wie fest werden die Finger aufgelegt? Gibt es da schon erste Verkrampfungen?"
Diese Möglichkeit, die Kräfteverhältnisse beim Muszieren sichtbar zu machen, versetzt den Musiker in die Lage, mögliche Fehler zu korrigieren. Ja mehr noch: Der Rechner schlägt mit einem optischen Symbol Alarm, wenn der Musiker müde wird.
"Also bei Ermüdung treten unterschiedliche Phänomene auf. Die ersten Studien zeigen, dass nach einer bestimmten Phase des Übens die Geige nach unten zeigt, tendenziell aber auch Kräfte zunehmen. Da heißt: In der Ermüdung wendet man mehr Kräfte auf, um bestimmte Ergebnisses zu erzielen."
Ziel der Forscher ist, die Sensoren und die Kabel so in ein Instrument zu integrieren, dass sie von außen nicht mehr sichtbar sind. Ein Mini-Sender könnte die Daten an ein Smartphone senden, für das die Zürcher Wissenschaftler zurzeit eine spezielle App entwickeln. Damit würde ein Musiker auf den ersten Blick erkennen, was er falsch macht und ob er besser eine Pause einlegen sollte.
Die Folgen von Fehlhaltungen
Längst entwickeln die Zürcher Wissenschaftler ihre Sensoren auch für Blasinstrumente wie für Trompete und Posaune, erklärt Tobias Grosshauser:
"Das machen wir gerade aktuell, dass wir einen Sensor entwickelt haben, der den Anpressdruck zwischen Instrument und Lippen misst, gleichzeitig aber auch die Richtung des Drucks, gibt es eine Abweichung nach links oder rechts, wie ist das Verhältnis von Oberlippe zu Unterlippe, die Abweichung von oben zu unten, in der Hoffnung, dass wir erkennen: Wie wirken sich bestimmte Ermüdungen oder Fehlhaltungen auf diese Ansätze aus?"
Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung von Schmerzen und Beschwerden. Sind die Instrumente eines ganzen Orchesters mit den Sensoren aus Zürich ausgestattet, lässt sich beispielsweise feststellen, ob wirklich alle Geiger im selben Moment durch entsprechende Griffe die Tonhöhe verändern, oder ob einer zu früh oder zu spät dran ist.
"Im Idealfall haben wir dadurch wesentlich interessantere, vielseitigere und besser klingende Ergebnisse."
Doch ETH-Forscher Tobias Grosshauser denkt noch weiter: Mit den von ihm entwickelten Sensoren will er neue Ausdrucksformen der Musik erschießen. Mit den Daten der einzelnen Instrumente möchte er einen Synthesizer füttern.
"Es war mein Wunsch als Musiker, dass ich eine fließende Einbindung in die elektronische Musik habe mit einem beliebigen Synthesizer und ich somit synthetische Klänge direkt spielen kann mit einem Grad der Beeinflussung, wie es bisher noch nicht möglich."
Und damit würde ein stärkerer oder schwächerer Druck auf die Geigensaite völlig neue Klangteppiche generieren. Das aber ist buchstäblich noch Zukunftsmusik. Tobias Grosshauer wird noch geraume Zeit seine Geige in die Elektronik-Labors der ETH-Zürich mitbringen.