Virtuelle Gliedmaßen
Einige Patienten mit amputierten Gliedmaßen leiden unter Phantomschmerzen. Digitale Anwendungen schaffen eine virtuelle Realität, die diese Folgen lindert - etwa indem per Display das Bild eines Beins erscheint, das eigentlich nicht mehr da ist.
Die "virtuelle Realität" des Körpers macht dem Mittdreißiger Thomas seit sechs Monaten schwer zu schaffen. Ihm wurde sein linkes Bein kurz über dem Kniegelenk amputiert. Seitdem hat er Phantomschmerzen. Sein Gehirn lässt ihn ein Phantombein fühlen, dass so nicht wirklich vorhanden ist.
"Es ist nicht so ein Gefühl, wie ein echtes Bein, das ist es nicht. Es ist aber ein echter Schmerz. (...) Mein Phantom ist aber nicht an der Stelle, an der man es erwarten würde, ich habe mein Phantom angewinkelt. Ich sitze im Prinzip, wenn ich sitze, auf meinem Fuß."
Thomas arbeitet gegen diesen Schmerz, gegen das Gefühl auf seinem nicht mehr vorhandenen Fuß zu sitzen, mit einer Therapie, die sich Spiegeltherapie nennt. Dabei stellt er einen Spiegel zwischen sich, so dass das rechte Bein auf eine Art reflektiert wird, dass es wirkt, als wäre es auch an der Stelle seines linken Beines. Mit dieser Übung schafft er es, dass sich das Phantombein beispielsweise in eine normale Sitzposition "bewegt". Thomas nutzt also ebenfalls eine Art analoge virtuelle Realität, um den Phantomschmerz zu bekämpfen. Doch auch hier gibt es bereits digitale Anwendungen, die Menschen wie ihm helfen sollen.
"Unter anderem gibt es eben auch die Tablet-Geschichte für unterwegs. Das Tablet wird benutzt als Videokamera, um dir ein linkes Bein künstlich, also virtuell, herzustellen. Nicht jeder kann immer einen Spiegel mit sich herumtragen, da ist die Idee, dies digital zu lösen, gar nicht so verkehrt."
Die körperliche Wahrnehmung wird erweitert
Mit der Tablet-App der deutschen Firma Caasa-Health erreicht Thomas zwar keine so starken Ergebnisse wie mit einem Spiegel, doch senkt es den Schmerz um rund 20 bis 30 Prozent. Das Problem: Er sieht immer noch den Ist-Zustand. Hier wäre die Wirkung über eine Monitor-Brille wie der Occulus Rift vermutlich stärker, meint Thomas. Daran geforscht wird ebenfalls schon.
Virtuelle Realität ist keineswegs nur eine Idee der Spiele-Industrie, sondern dient im Endeffekt auch der Erweiterung der körperlichen Wahrnehmung. Dadurch kann sie sogar helfen, Empathie zu entwickeln. Denn mit Hilfe von Datenbrillen ist es möglich, in den Körper eines anderen Menschen zu schlüpfen:
"Im Endeffekt ist es ein Display vor den Augen - wir nehmen die Occulus Rift, die einen sehr immersiven Effekt hat und außerdem die Bewegung des Kopfes aufzeichnet. Dieses Head-Tracking steuert dann Kameras die an einem anderen Körper angebracht sind. Du kannst dich also umschauen wie in der echten Welt, siehst aber den Körper eines anderen Menschen."
Der französische Programmierer Arthur Tres vom Künstlerkollektiv BeAnotherLab, erklärt ihre Erfindung – die Machine to be another – die Maschine um jemand anderes zu sein. Wenn zwei Menschen sich diese Apparatur aufsetzen und ihre Bewegungen aufeinander abstimmen, dann scheint es so, als hätten sie den Körper getauscht. Besonders das damit durchgeführte Experiment „Gender Swap" bekam viel Aufmerksamkeit im Netz. Hier "tauschen" ein Mann und eine Frau die Körper, tasten den eigenen ab, sehen dabei aber den des anderen Geschlechts.
"Es ist sehr verwirrend, sehr desorientierend, aber es ist auch überraschend wie schnell dein Gehirn es akzeptiert, dass der Körper den du siehst nicht wirklich dein eigener ist. Was die neurologischen Forschungen zeigen, auf denen unser Projekt aufbaut ist, das es sehr einfach ist dem Gehirn das als echt zu verkaufen, was es sieht, wenn mehrere Sinne manipuliert werden."
"Wo beginne ich, wo ende ich?"
Arthur Tres bezieht sich unter anderem auf den schwedischen Neurowissenschafler Henrik Ehrrson. Er begann schon vor einigen Jahren damit, Kameras und Bildschirmbrillen in seinen Experimenten zu nutzen. Mit einem sehr einfachen Versuchsaufbau, vermittelte er den Probanden das Gefühl hinter sich selbst zu sitzen. Er positioniert zwei Kameras wie Augen hinter einer Person, die durch die Monitor-Brille so selbst auf den eigenen Rücken schaut.
"Wir glauben, dass das Gehirn immer versucht die Frage zu beantworten 'Wo bin ich?'. Und das tut es in dem es die Daten aller Sinne auswertet. Wenn du also etwas siehst, und das Gehirn entscheidet, dass es zusammen passt, dann sitzt du plötzlich an einer anderen Stelle."
Genauso, wie die Frage "Wo bin ich?" fragt das Gehirn, "Wer bin ich, Wo beginne ich, wo ende ich?" Dieses über Jahre entwickelte Körpergefühl ist durch die Amputation bei Thomas gestört – aber unser Gehirn ist fähig, diese neue Situation als Realität zu akzeptieren.
"Du wachst auf als eine neue, fremde Person und du musst dir dein neues Leben organisieren. Und bist du dich dann akklimatisiert hast und die Situation akzeptiert hast, vergeht ne ganze Weile. Aber die Psyche spielt da ne wesentliche Rolle. Wenn man sich so akzeptiert wie man ist, ist es auch leichter mit dem Schmerz umzugehen."