Urban Wiesing: "Heilswissenschaft. Über Verheißungen der Medizin"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
160 Seiten, 20 Euro
Warum uns Wissenschaft und Medizin nicht erlösen werden
11:03 Minuten
Urban Wiesing diagnostiziert in seinem neuen Buch völlig überzogene Erwartungen an die Medizin. Er sieht Parallelen zu Religionen und warnt: Auch wenn es eine Impfung gegen Covid-19 gibt, werden keine paradiesischen Zustände eintreten.
Die Menschen hängen in der Coronakrise an den Lippen von Virologen und Medizinern, Wissenschaftler können sicher sein, von der Politik gehört zu werden. Eine Impfung oder ein Medikament werden als Zielpunkte gesehen, die die Lage der Menschheit wieder grundlegend verändern wird.
Urban Wiesing schreibt in seinem neuen Buch nicht über den Fortschritt in der Medizin, sondern über Geschichten über den Fortschritt in der Medizin geschrieben – also von Narrativen, die geschaffen werden und die bestimmte Funktionen haben. Der Professor für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen sieht die darin vermittelte Fortschrittsgläubigkeit kritisch.
Bestätigung durch die Erfahrung mit Corona
Er habe das Manuskript zu seinem Buch zwar schon im November abgegeben, aber er sehe seine Thesen durch die Erfahrungen mit dem neuartigen Coronavirus und der Reaktion darauf bestätigt, sagt Wiesing:
"Was man jetzt sieht, welche Rolle die Wissenschaft einnimmt, welche Rolle interessanterweise dann auch die Wissenschaftler einnehmen, und was man sich dann von der Wissenschaft erhofft, scheint mir einmal mehr überzeichnet zu sein und tatsächlich Erlösungscharakter zu haben."
Selbst wenn es gelinge, eine Impfung gegen Corona zu entwickeln, sei es doch eine Illusion, dass dann paradiesische Zustände einträten. Die Menschheit werde noch eine ganze Zeit mit ähnlichen Epidemien und Problemen zu tun haben. "Da kann man einmal mehr sehen, wie überzogen die Erwartungen an die Wissenschaft und die Medizin sind."
Das habe wahrscheinlich mit der conditio humana zu tun, mit der Sterblichkeit und Kränklichkeit des Menschen, vermutet Wiesing. "Mein Eindruck ist, dass viele Elemente, die früher die Religion übernommen hat, jetzt von der Medizin übernommen werden." Das führe dazu, dass sie in Sphären gedrängt werde, die sie gar nicht anbieten könne. Wiesing nennt Heilung, Glück, Erlösung, dass eine neue Stufe der Menschheit erreicht werde, wie es beispielsweise Facebook-Gründer Mark Zuckerberg formuliert habe.
Die Sehnsucht nach Erlösung
Die spannende Frage sei, wie es dazu kommt, dass sich solche Erwartungen an die Medizin richteten. Wiesing, auch Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, sagt, Wissenschaftler müssten um Drittmittel und Unterstützung werben und würden dabei auch übertreiben. Er nennt ein Beispiel: "Seit den 70er Jahren wird uns regelmäßig verkündet, der Krebs werde bald besiegt, eliminiert sein." Obwohl es auch Erfolge gebe, stiegen aber die Fallzahlen.
Profitieren davon würden die Verkünder: Forscher könnten Anerkennung, Forschungsunterstützung und Gelder bekommen, aber auch Politiker würden das Narrativ vom Sieg über den Krebs bedienen und davon profitieren.
Die Frage sei allerdings, warum das niemand der Medizin übelnehme. Wiesings Antwort: Es scheine akzeptiert zu sein, dass die Medizin Heilserwartungen bediene. "Wahrscheinlich, weil man sie gerne hört, wahrscheinlich, weil man sie gerne hat, weil man gerne daran glaubt, und weil es eben kaum andere Institutionen gibt, die das verkünden." Andere Institutionen, die diese Heilsversprechungen geben könnten, hätten "offensichtlich an Popularität und Überzeugungskraft verloren".
Besinnung auf die Grundtugenden
Wiesing will, dass die Wissenschaft ihren Grundtugenden treu bleibt, er konstatiert aber zugleich, dass sie in Coronazeiten unter massivem Druck steht, die Erwartungen an sie gingen zu weit. "Wissenschaft kann beschreiben, wie die Welt ist. Das kann sie besser als alle anderen Institutionen, über die der Mensch verfügt", sagt Wiesing: "Aber sie kann nicht sagen, wie wir politisch handeln sollen. Und ich habe den Eindruck, das passiert im Augenblick in einer Vermengung, dass die Virologen zu den Entscheidern werden, als ob Herr Drosten auf einmal ein Verfassungsorgan wäre. Das ist er ja eben nicht."
Der Druck sei da und manchmal lasse sich die Wissenschaft auch hinreißen, diesem Druck nachzugeben. "Das sollte sie nicht tun", meint Wiesing – "und schon gar nicht, wenn dann - wenn man mal etwas sagt, was den Medien nicht gefällt - eine Zeitung mit großen Buchstaben eine Kampagne gegen den Virologen führt. Nur weil die Bild-Zeitung jetzt verrückt spielt gegen einen Virologen, sollte die Wissenschaft nicht von ihren Grundprinzipien abweichen, die da heißen: Skepsis, Kritik, Reflektiertheit."
(mfu)