Medizinhistoriker: Placeboeffekt sollte bei jeder Therapie genutzt werden
Den größten Erfolg haben medizinische Behandlungen, wenn Ärzte "mit Anweisungen zur Veränderung des Lebensstils" arbeiten. Dann könnten auch Pillen ohne medizinisch wirksame Stoffe helfen, sagt Medizinhistoriker Robert Jütte.
Dieter Kassel: Über die Hälfte der Ärzte in Deutschland setzt bei der Behandlung von Patienten Placebos ein, also zum Beispiel Pillen, die bloß Zucker enthalten und keine medizinisch wirksamen Substanzen. Unter gewissen Umständen wird eine solche Behandlung von der Bundesärztekammer inzwischen ausdrücklich empfohlen, weil sie oft sehr erfolgreich ist. Aber wie genau kann in Deutschland, wo doch alles so reguliert ist, eine solche Behandlung überhaupt ablaufen?
Beitrag von Stephanie Kowalewski
Stephanie Kowalewski über die Behandlung mit sogenannten Placebos. Dass eine solche Behandlung unter konkreten Bedingungen allerdings von der Bundesärztekammer inzwischen ausdrücklich empfohlen wird, das geht zurück auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Kammer. Federführend daran beteiligt und Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe war Professor Dr. Robert Jütte. Er ist wie gesagt Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats und er ist außerdem auch der Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, und ich begrüße ihn heute Morgen im Studio der Kollegen vom SWR in Stuttgart. Schönen guten Morgen!
Robert Jütte: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Professor Jütte, kann es denn rein theoretisch sein, dass auch mein Arzt mir schon mal ein Placebo verschrieben hat, oder würde ich das wissen?
Jütte: Das würden Sie nicht unbedingt wissen. Also die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, wir wissen, dass je nach Untersuchung 50 bis 80 Prozent der Ärzte weltweit Placebos verschreiben. Natürlich nicht regelmäßig, manche haben das nur gelegentlich gemacht, manche machen das aber doch eher häufiger, es hängt immer von dem Patient ab und von einem guten Arzt-Patient-Verhältnis. Weil ohne das werden Sie also keinen Erfolg auch mit dieser Therapie haben, weil sonst entdecken Sie das und verlieren das Vertrauen, und dann ist es weg.
Kassel: Aber ist nicht, wenn – nehmen wir mal ein Beispiel, bei dem die Ärztekammer das grundsätzlich empfiehlt unter den Voraussetzungen, über die wir gleich noch reden –, wenn ich zum Beispiel wegen Kopfschmerzen zum Arzt gehe und ich glaube, der verschreibt mir ein Schmerzmittel, und es ist ein Placebo, hat mich der Arzt dann nicht im Grunde genommen hintergangen?
Jütte: So einfach ist es nicht. Es muss ja erst mal eine Diagnose gemacht werden. Und wenn der Arzt also feststellt, dass es sich um einen Kopfschmerz handelt, der vielleicht eine organische Ursache hat, muss er sie auch entsprechend behandeln. Wir wissen aber, dass es bei 240 Kopfschmerztypen also auch solche gibt, wo wir wissen, dass also die normalen Therapien, die wir kennen, ob Sie nun jetzt ein Aspirin nehmen oder ein, was es auch immer dann auch an schwereren Mitteln gibt, wenn das nicht wirkt, dann können Sie überlegen, ob man nicht ein Placebo einsetzt, weil dann ist die Grundbedingung erfüllt, nämlich, dass es keine wirksame Standardtherapie gibt, die geprüft ist.
Und wenn Sie dann noch den Patienten also grundaufklären, ihm nicht gleich sagen, er bekommt ein Placebo, aber ihm die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten aufzeigen, wobei die eine Möglichkeit ist, Sie bekommen etwas, was schulmedizinisch ist, was auch wirksam in einigen Studien war, aber nicht in Ihrem Fall besonders hilfreich sein kann, versuchen Sie es mit einer unspezifischen Therapie, wo wir wissen, dass Studien gezeigt haben, dass das in Einzelfällen auch hilft. Sie müssen da nicht das Zauberwort Placebo sagen, Sie können das umschreiben und haben trotzdem Ihrer Aufklärungspflicht Genüge getan.
Kassel: Aber wenn der Patient den Verdacht hat, vielleicht auch in Zukunft, weil er dieses Gespräch hier gehört hat, das könnte ein Placebo sein, macht das dann die Wahrscheinlichkeit, dass der positive Placeboeffekt eintritt, also dass es wirkt, macht das diese Wahrscheinlichkeit dann geringer?
Jütte: Es gibt leider noch viel zu wenig Studien, die mit einem offenen Placeboansatz arbeiten. Und wir haben aber im letzten Jahr, Ende letzten Jahres eine amerikanische Studie zum ersten Mal bekommen, die zeigt, dass bei Patienten mit Reizdarmsyndrom, wenn man sie in eine Wartegruppe einteilt und die andere Gruppe dann sagt, sie bekommen ein Placebo und es steht sogar auf der Packung offen drauf Placebo, man sagt aber, das hilft, weil wir entsprechende Studien haben – nach 21 Tagen war die Heilungsrate oder die Symptombesserungsrate in der offenen Placebogruppe sehr viel höher als in derjenigen, die überhaupt nichts bekommen haben. Und das regt zum Nachdenken an, ob diese Verheimlichung, die Täuschung wirklich unbedingt den Placeboeffekt verhindert. Wenn der Arzt überzeugend rüberkommt und sagt, auch wenn ich Ihnen jetzt ein Placebo verschreibe, hilft das – ich meine, ich habe es jetzt sehr salopp ausgedrückt und sehr knapp –, kann das durchaus einen Placeboeffekt auslösen.
Kassel: Bei Untersuchungen, die andere durchgeführt haben, die Sie sich angeschaut haben, aber auch bei eigenen haben Sie ja noch ganz andere Dinge festgestellt, zum Beispiel dass zumindest in Deutschland – können wir auch gleich noch drüber reden, das ist nicht in jedem Land gleich –, aber dass zumindest in Deutschland zum Teil teure Placebos besser wirken als billige?
Jütte: Die Studie ist übrigens in den USA gemacht worden, wo die Arzneimittel auch nicht sehr viel billiger sind …
Kassel: … durchaus teurer glaube ich zum Teil …
Jütte: … ja, also das ist ein interessanter Effekt und das hat natürlich auf unser deutsches System folgende Auswirkung, weil man muss sich dann fragen – und Ärzte erfahren das immer wieder in der tagtäglichen Praxis: Patienten, die plötzlich nicht mehr ein ihnen bekanntes Arzneimittel verschrieben bekommen haben, sondern ein Nachahmerpräparat, sagen dann plötzlich, es wirkt nicht.
Und warum wirkt es nicht in ihren Augen, weil es billiger ist – deswegen verschreiben ja das die Krankenkassen oder bezahlen es die Krankenkassen – als das andere Medikament. Wenn aber der Arzt weiß, dass dahinter ein Placeboeffekt, wie die amerikanische Studie gezeigt hat, steckt, dann kann man den Patienten auch vielleicht davon überzeugen und sagen, versuchen Sie es trotzdem, also das kann einfach nicht anders sein. Und wenn man das vernünftig macht, so zeigen zumindestens die Studien, kann man den Patienten davon überzeugen, dass auch ein Generikum, also ein Nachahmerpräparat, vielleicht doch genau so wirksam ist, weil es der gleiche Wirkstoff ist wie in dem Präparat, was er kennt.
Kassel: Wie erklären Sie sich denn kulturelle Unterschiede zwischen den Nationen? Es gibt ja zum Beispiel Länder, in denen grundsätzlich der Placeboeffekt seltener einzutreten scheint als zum Beispiel in Deutschland.
Jütte: So pauschal kann man das nicht sagen. Es hängt immer von der jeweiligen Krankheit, von dem jeweiligen Symptom ab, und das hat natürlich damit zu tun, dass Schmerzerfahrung zum Beispiel sehr stark kulturell geprägt ist. Also ich will jetzt hier nicht das Sprichwort "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" hier zitieren, das auch immer wieder verfälscht worden ist, aber es zeigt, dass wir auf jeden Fall ganz stark in unserer Wahrnehmung von Krankheitssymptomen durch unsere Erziehung, durch unsere Kultur geprägt sind. Und das hängt auch damit zusammen zum Beispiel, dass wir bestimmte Farben auch von Tabletten bevorzugen. Zum Beispiel im arabischen Bereich, die Farbe Blau hat eine besondere Symbolik und deswegen haben blaue Tabletten dort eine ganz andere Wirkung als zum Beispiel in Deutschland. Wir wissen, dass da neutrale Tabletten, die eher so im beigen Bereich sind – so zeigen zumindestens Studien –, eher akzeptiert werden und einen entsprechenden Effekt auslösen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Vormittag mit Professor Robert Jütte, er ist Medizinhistoriker und war federführend beteiligt an einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer über den Einsatz von Placebos in der Medizin. Weiß man denn eigentlich, Herr Jütte, ganz genau, was passiert, wenn der Placeboeffekt eintritt? Heißt das umgekehrt, wenn die Schmerzen weggehen wegen eines Placebos, dann habe ich sie mir vorher sowieso nur eingebildet?
Jütte: Nein, das ist sozusagen der Durchbruch in der Placeboforschung gewesen. Man kennt den Placeboeffekt ja schon seit über 200 Jahren, hat ihn auch sozusagen so genannt und hat ihn aber erst erforscht so in den letzten 60 Jahren. Und der Durchbruch kam Ende der 70er Jahre, als amerikanische Forscher festgestellt haben, dass da nicht irgendetwas an Einbildung passiert und das sind ganz besonders empfindliche Menschen, die darauf reagieren, sondern man konnte feststellen, dass auf Placebogabe eine Endorphinausschüttung passiert im Gehirn.
Und wir wissen heute durch die modernen bildgebenden Verfahren, dass etwas passiert im Gehirn, was auch bei einem normalen Medikament passiert, nur an einer anderen Stelle. Der Placebo wirkt sozusagen über den Hirnlappen, also sozusagen im vorderen Bereich, während die Medikamente, die Verum gaben, die wirken eben an einer anderen Stelle im Hirn, aber es passiert genau das Gleiche. Und dann ist die Frage, für den Patient ist es letztendlich gleich, welche Hirnhälfte also sozusagen das genau tut, was ich will, nämlich Schmerzlinderung zum Beispiel.
Kassel: Sie haben erzählt, seit 200 Jahren forscht man relativ ernsthaft daran oder kennt den Effekt. Man kann auch noch weiter zurückgehen, es gibt ein überliefertes Gespräch, bei dem Plato antwortet auf die Frage nach einem Kopfschmerzmittel, da gebe es ein bestimmtes Kraut, das wirke aber nur, wenn man noch den Spruch dazu liefert, und manche sagen, das ist die erste urkundliche Erwähnung des Placeboeffekts. Gibt es eigentlich einen Grund dafür, warum gerade jetzt in den letzten Jahren aber auch die westliche Schulmedizin plötzlich ein so großes Interesse daran hat?
Jütte: Es hängt damit zusammen, dass man natürlich auch weiß, wie teuer klinische Forschung ist. Und deswegen, in der klinischen Forschung muss man ja nachweisen, dass etwas besser ist zum Teil als Placebo, um es zum Markt zuzulassen. Und das kostet sehr, sehr viel Geld, und man möchte natürlich herausfinden, welche Probanden, welche Versuchspersonen besonders empfindlich sind, dann kann man die nämlich rauskicken aus der Untersuchungsgruppe, und das macht das billig. Also insofern gibt es auch von der forschenden Industrie her Interesse daran, sich mit dem Placeboeffekt, zu machen.
Aber noch mal auf das Zitat, auf den Plato-Dialog, das ist mein Lieblingszitat, das ich also auch entdeckt habe und deswegen auch bewusst dieser Stellungnahme vorangestellt habe. Es wird bestätigt durch eine neue Hamburger Untersuchung, die im Januar 2011 veröffentlicht worden ist, die genau das nämlich zeigt: Wenn sie Probanden ein starkes Schmerzmittel geben und Sie sagen, Sie bekommen jetzt ein Schmerz …, ich gebe Ihnen ein Schmerzmittel, aber wir wissen, dass bei Ihnen dieses Schmerzmittel nicht wirkt, und dann wirkt es nicht, obwohl Sie ein starkes Schmerzmittel geben, also genau das, was in dem Plato-Dialog … Es braucht immer die Aufklärung, das sprechende Wort, um die Medizin zur optimalen Wirksamkeit zu bringen. Und das ist eigentlich die Grundbotschaft, die wir rüberbringen wollen. Nicht unbedingt, Zuckerpillen zu verschreiben, sondern bei jeder Therapie den Placeboeffekt zu nutzen und das Optimale aus jeder auch geprüften Therapie herauszuholen.
Kassel: Also wenn zum Beispiel der Arzt nicht mal Zuckerpillen verschreibt, sondern sagt, gegen Ihre Rückenschmerzen gehen Sie bitte jeden Abend vor Sonnenuntergang eine halbe Stunde gemütlich spazieren, dann kann da auch ein positiver Placeboeffekt eintreten?
Jütte: Absolut, weil Sie das Gefühl haben, dass Sie selbst etwas für sich tun können und das Gefühl haben, dass der Arzt für Sie Verständnis hat und genau weiß, was in der Lebenssituation, in der Krankheitssituation für Sie das Beste ist. Und ohne Diät … also die besten Ärzte haben immer mit Diätetik, also mit Anweisungen zur Veränderung des Lebensstils gearbeitet. Dann hatten sie Erfolg.
Kassel: Professor Robert Jütte war das, er ist der Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und er war federführend beteiligt an einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, die jetzt dazu geführt hat, dass die Bundesärztekammer Placebos grundsätzlich unter gewissen Umständen empfiehlt. Herr Jütte, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen stets die richtige Substanz für alle Beschwerden!
Jütte: Ihnen auch, Herr Kassel!
Kassel: Danke!
Beitrag von Stephanie Kowalewski
Stephanie Kowalewski über die Behandlung mit sogenannten Placebos. Dass eine solche Behandlung unter konkreten Bedingungen allerdings von der Bundesärztekammer inzwischen ausdrücklich empfohlen wird, das geht zurück auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Kammer. Federführend daran beteiligt und Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe war Professor Dr. Robert Jütte. Er ist wie gesagt Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats und er ist außerdem auch der Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, und ich begrüße ihn heute Morgen im Studio der Kollegen vom SWR in Stuttgart. Schönen guten Morgen!
Robert Jütte: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Professor Jütte, kann es denn rein theoretisch sein, dass auch mein Arzt mir schon mal ein Placebo verschrieben hat, oder würde ich das wissen?
Jütte: Das würden Sie nicht unbedingt wissen. Also die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, wir wissen, dass je nach Untersuchung 50 bis 80 Prozent der Ärzte weltweit Placebos verschreiben. Natürlich nicht regelmäßig, manche haben das nur gelegentlich gemacht, manche machen das aber doch eher häufiger, es hängt immer von dem Patient ab und von einem guten Arzt-Patient-Verhältnis. Weil ohne das werden Sie also keinen Erfolg auch mit dieser Therapie haben, weil sonst entdecken Sie das und verlieren das Vertrauen, und dann ist es weg.
Kassel: Aber ist nicht, wenn – nehmen wir mal ein Beispiel, bei dem die Ärztekammer das grundsätzlich empfiehlt unter den Voraussetzungen, über die wir gleich noch reden –, wenn ich zum Beispiel wegen Kopfschmerzen zum Arzt gehe und ich glaube, der verschreibt mir ein Schmerzmittel, und es ist ein Placebo, hat mich der Arzt dann nicht im Grunde genommen hintergangen?
Jütte: So einfach ist es nicht. Es muss ja erst mal eine Diagnose gemacht werden. Und wenn der Arzt also feststellt, dass es sich um einen Kopfschmerz handelt, der vielleicht eine organische Ursache hat, muss er sie auch entsprechend behandeln. Wir wissen aber, dass es bei 240 Kopfschmerztypen also auch solche gibt, wo wir wissen, dass also die normalen Therapien, die wir kennen, ob Sie nun jetzt ein Aspirin nehmen oder ein, was es auch immer dann auch an schwereren Mitteln gibt, wenn das nicht wirkt, dann können Sie überlegen, ob man nicht ein Placebo einsetzt, weil dann ist die Grundbedingung erfüllt, nämlich, dass es keine wirksame Standardtherapie gibt, die geprüft ist.
Und wenn Sie dann noch den Patienten also grundaufklären, ihm nicht gleich sagen, er bekommt ein Placebo, aber ihm die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten aufzeigen, wobei die eine Möglichkeit ist, Sie bekommen etwas, was schulmedizinisch ist, was auch wirksam in einigen Studien war, aber nicht in Ihrem Fall besonders hilfreich sein kann, versuchen Sie es mit einer unspezifischen Therapie, wo wir wissen, dass Studien gezeigt haben, dass das in Einzelfällen auch hilft. Sie müssen da nicht das Zauberwort Placebo sagen, Sie können das umschreiben und haben trotzdem Ihrer Aufklärungspflicht Genüge getan.
Kassel: Aber wenn der Patient den Verdacht hat, vielleicht auch in Zukunft, weil er dieses Gespräch hier gehört hat, das könnte ein Placebo sein, macht das dann die Wahrscheinlichkeit, dass der positive Placeboeffekt eintritt, also dass es wirkt, macht das diese Wahrscheinlichkeit dann geringer?
Jütte: Es gibt leider noch viel zu wenig Studien, die mit einem offenen Placeboansatz arbeiten. Und wir haben aber im letzten Jahr, Ende letzten Jahres eine amerikanische Studie zum ersten Mal bekommen, die zeigt, dass bei Patienten mit Reizdarmsyndrom, wenn man sie in eine Wartegruppe einteilt und die andere Gruppe dann sagt, sie bekommen ein Placebo und es steht sogar auf der Packung offen drauf Placebo, man sagt aber, das hilft, weil wir entsprechende Studien haben – nach 21 Tagen war die Heilungsrate oder die Symptombesserungsrate in der offenen Placebogruppe sehr viel höher als in derjenigen, die überhaupt nichts bekommen haben. Und das regt zum Nachdenken an, ob diese Verheimlichung, die Täuschung wirklich unbedingt den Placeboeffekt verhindert. Wenn der Arzt überzeugend rüberkommt und sagt, auch wenn ich Ihnen jetzt ein Placebo verschreibe, hilft das – ich meine, ich habe es jetzt sehr salopp ausgedrückt und sehr knapp –, kann das durchaus einen Placeboeffekt auslösen.
Kassel: Bei Untersuchungen, die andere durchgeführt haben, die Sie sich angeschaut haben, aber auch bei eigenen haben Sie ja noch ganz andere Dinge festgestellt, zum Beispiel dass zumindest in Deutschland – können wir auch gleich noch drüber reden, das ist nicht in jedem Land gleich –, aber dass zumindest in Deutschland zum Teil teure Placebos besser wirken als billige?
Jütte: Die Studie ist übrigens in den USA gemacht worden, wo die Arzneimittel auch nicht sehr viel billiger sind …
Kassel: … durchaus teurer glaube ich zum Teil …
Jütte: … ja, also das ist ein interessanter Effekt und das hat natürlich auf unser deutsches System folgende Auswirkung, weil man muss sich dann fragen – und Ärzte erfahren das immer wieder in der tagtäglichen Praxis: Patienten, die plötzlich nicht mehr ein ihnen bekanntes Arzneimittel verschrieben bekommen haben, sondern ein Nachahmerpräparat, sagen dann plötzlich, es wirkt nicht.
Und warum wirkt es nicht in ihren Augen, weil es billiger ist – deswegen verschreiben ja das die Krankenkassen oder bezahlen es die Krankenkassen – als das andere Medikament. Wenn aber der Arzt weiß, dass dahinter ein Placeboeffekt, wie die amerikanische Studie gezeigt hat, steckt, dann kann man den Patienten auch vielleicht davon überzeugen und sagen, versuchen Sie es trotzdem, also das kann einfach nicht anders sein. Und wenn man das vernünftig macht, so zeigen zumindestens die Studien, kann man den Patienten davon überzeugen, dass auch ein Generikum, also ein Nachahmerpräparat, vielleicht doch genau so wirksam ist, weil es der gleiche Wirkstoff ist wie in dem Präparat, was er kennt.
Kassel: Wie erklären Sie sich denn kulturelle Unterschiede zwischen den Nationen? Es gibt ja zum Beispiel Länder, in denen grundsätzlich der Placeboeffekt seltener einzutreten scheint als zum Beispiel in Deutschland.
Jütte: So pauschal kann man das nicht sagen. Es hängt immer von der jeweiligen Krankheit, von dem jeweiligen Symptom ab, und das hat natürlich damit zu tun, dass Schmerzerfahrung zum Beispiel sehr stark kulturell geprägt ist. Also ich will jetzt hier nicht das Sprichwort "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" hier zitieren, das auch immer wieder verfälscht worden ist, aber es zeigt, dass wir auf jeden Fall ganz stark in unserer Wahrnehmung von Krankheitssymptomen durch unsere Erziehung, durch unsere Kultur geprägt sind. Und das hängt auch damit zusammen zum Beispiel, dass wir bestimmte Farben auch von Tabletten bevorzugen. Zum Beispiel im arabischen Bereich, die Farbe Blau hat eine besondere Symbolik und deswegen haben blaue Tabletten dort eine ganz andere Wirkung als zum Beispiel in Deutschland. Wir wissen, dass da neutrale Tabletten, die eher so im beigen Bereich sind – so zeigen zumindestens Studien –, eher akzeptiert werden und einen entsprechenden Effekt auslösen.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Vormittag mit Professor Robert Jütte, er ist Medizinhistoriker und war federführend beteiligt an einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer über den Einsatz von Placebos in der Medizin. Weiß man denn eigentlich, Herr Jütte, ganz genau, was passiert, wenn der Placeboeffekt eintritt? Heißt das umgekehrt, wenn die Schmerzen weggehen wegen eines Placebos, dann habe ich sie mir vorher sowieso nur eingebildet?
Jütte: Nein, das ist sozusagen der Durchbruch in der Placeboforschung gewesen. Man kennt den Placeboeffekt ja schon seit über 200 Jahren, hat ihn auch sozusagen so genannt und hat ihn aber erst erforscht so in den letzten 60 Jahren. Und der Durchbruch kam Ende der 70er Jahre, als amerikanische Forscher festgestellt haben, dass da nicht irgendetwas an Einbildung passiert und das sind ganz besonders empfindliche Menschen, die darauf reagieren, sondern man konnte feststellen, dass auf Placebogabe eine Endorphinausschüttung passiert im Gehirn.
Und wir wissen heute durch die modernen bildgebenden Verfahren, dass etwas passiert im Gehirn, was auch bei einem normalen Medikament passiert, nur an einer anderen Stelle. Der Placebo wirkt sozusagen über den Hirnlappen, also sozusagen im vorderen Bereich, während die Medikamente, die Verum gaben, die wirken eben an einer anderen Stelle im Hirn, aber es passiert genau das Gleiche. Und dann ist die Frage, für den Patient ist es letztendlich gleich, welche Hirnhälfte also sozusagen das genau tut, was ich will, nämlich Schmerzlinderung zum Beispiel.
Kassel: Sie haben erzählt, seit 200 Jahren forscht man relativ ernsthaft daran oder kennt den Effekt. Man kann auch noch weiter zurückgehen, es gibt ein überliefertes Gespräch, bei dem Plato antwortet auf die Frage nach einem Kopfschmerzmittel, da gebe es ein bestimmtes Kraut, das wirke aber nur, wenn man noch den Spruch dazu liefert, und manche sagen, das ist die erste urkundliche Erwähnung des Placeboeffekts. Gibt es eigentlich einen Grund dafür, warum gerade jetzt in den letzten Jahren aber auch die westliche Schulmedizin plötzlich ein so großes Interesse daran hat?
Jütte: Es hängt damit zusammen, dass man natürlich auch weiß, wie teuer klinische Forschung ist. Und deswegen, in der klinischen Forschung muss man ja nachweisen, dass etwas besser ist zum Teil als Placebo, um es zum Markt zuzulassen. Und das kostet sehr, sehr viel Geld, und man möchte natürlich herausfinden, welche Probanden, welche Versuchspersonen besonders empfindlich sind, dann kann man die nämlich rauskicken aus der Untersuchungsgruppe, und das macht das billig. Also insofern gibt es auch von der forschenden Industrie her Interesse daran, sich mit dem Placeboeffekt, zu machen.
Aber noch mal auf das Zitat, auf den Plato-Dialog, das ist mein Lieblingszitat, das ich also auch entdeckt habe und deswegen auch bewusst dieser Stellungnahme vorangestellt habe. Es wird bestätigt durch eine neue Hamburger Untersuchung, die im Januar 2011 veröffentlicht worden ist, die genau das nämlich zeigt: Wenn sie Probanden ein starkes Schmerzmittel geben und Sie sagen, Sie bekommen jetzt ein Schmerz …, ich gebe Ihnen ein Schmerzmittel, aber wir wissen, dass bei Ihnen dieses Schmerzmittel nicht wirkt, und dann wirkt es nicht, obwohl Sie ein starkes Schmerzmittel geben, also genau das, was in dem Plato-Dialog … Es braucht immer die Aufklärung, das sprechende Wort, um die Medizin zur optimalen Wirksamkeit zu bringen. Und das ist eigentlich die Grundbotschaft, die wir rüberbringen wollen. Nicht unbedingt, Zuckerpillen zu verschreiben, sondern bei jeder Therapie den Placeboeffekt zu nutzen und das Optimale aus jeder auch geprüften Therapie herauszuholen.
Kassel: Also wenn zum Beispiel der Arzt nicht mal Zuckerpillen verschreibt, sondern sagt, gegen Ihre Rückenschmerzen gehen Sie bitte jeden Abend vor Sonnenuntergang eine halbe Stunde gemütlich spazieren, dann kann da auch ein positiver Placeboeffekt eintreten?
Jütte: Absolut, weil Sie das Gefühl haben, dass Sie selbst etwas für sich tun können und das Gefühl haben, dass der Arzt für Sie Verständnis hat und genau weiß, was in der Lebenssituation, in der Krankheitssituation für Sie das Beste ist. Und ohne Diät … also die besten Ärzte haben immer mit Diätetik, also mit Anweisungen zur Veränderung des Lebensstils gearbeitet. Dann hatten sie Erfolg.
Kassel: Professor Robert Jütte war das, er ist der Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und er war federführend beteiligt an einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, die jetzt dazu geführt hat, dass die Bundesärztekammer Placebos grundsätzlich unter gewissen Umständen empfiehlt. Herr Jütte, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen stets die richtige Substanz für alle Beschwerden!
Jütte: Ihnen auch, Herr Kassel!
Kassel: Danke!