Was nutzt, was schadet?
Es gibt unzählige Vorsorgeuntersuchungen – meist sind es Methoden, mit denen nach einem Krebstumor gesucht wird. Doch viele der medizinischen Tests liefern keine absolut sichere Diagnose. Experten streiten über ihre Vor- und Nachteile.
Das Ziel jeder Krebsvorsorge ist, den Tumor so früh wie möglich zu entdecken, denn dann, so heißt es, sind die Heilungschancen deutlich besser. Für fast 80 Prozent der Frauen und für 53 Prozent der Männer klingt das so überzeugend, dass sie schon einmal eine Vorsorgeuntersuchung in Anspruch genommen haben. Sie ließen sich Blut abnehmen, abtasten, röntgen oder unterzogen sich einer Darmspiegelung. Alles diagnostische Methoden, sagt Jürgen Windeler, die normalerweise durchgeführt werden, um die Ursache für bestimmte Beschwerden zu finden. Hier werden sie aber ausdrücklich nicht bei Patienten angewendet, …
"…sondern bei Menschen, die noch nix haben. Die also bezüglich der Krankheit, die man sucht, noch keinerlei Symptome und noch keinerlei Anhaltspunkte haben."
Jürgen Windeler ist Mediziner und Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, in Köln. In dieser Funktion gilt er als so etwas wie der oberste Wächter im Gesundheitswesen. Er sieht die vielen Vorsorgeuntersuchungen sehr kritisch. Schon der Begriff "Vorsorgeuntersuchung" ist falsch, sagt er:
"Weil man eben nicht eine Erkrankung vorbeugen kann durch solche Untersuchungen, sondern nur feststellen, ob man sie hat."
Vorsorge als Begriff irreführend
Doch das ist Vielen nicht bekannt. Laut einer aktuellen Umfrage glaubt etwa jede zweite Frau, dass eine Mammografie sie vor Brustkrebs schützt. Dennoch hält sich der irreführende Begriff der Vorsorgeuntersuchung hartnäckig. Auch Ärzte benutzen ihn im Gespräch mit Patienten. Das wird Gewohnheit sein, sagt Ulrich Niehland, Berater bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland:
"Und außerdem verspricht Vorsorge einfach was anderes. Es ist ein besseres Verkaufsargument als Früherkennung, die ja noch lange nicht bedeutet, dass man damit irgendwas gegen das, was man da erkannt hat oder erkannt zu haben glaubt, tun könnte."
Das meiste, was heute mit Vorsorge beschrieben wird, sind tatsächlich Früherkennungsuntersuchungen, sagt auch Ulrich Langenberg, geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein:
"Echte Vorsorge im Sinne von Prävention wäre ja beispielsweise die Vermeidung von Risikofaktoren: gesunde Ernährung, Nichtrauchen, Bewegung. Früherkennung bedeutet, ich möchte in einem möglichst frühen Stadium erkennen, dass eine Erkrankung vorliegt, beispielsweise eine Krebserkrankung, um dann eine möglichst große Aussicht zu haben, diese Erkrankung zu heilen, mit einem möglichst wenig belastenden Therapieverfahren."
Das klingt einfach und logisch und ist doch sehr kompliziert und umstritten. So betont auch die Weltgesundheitsorganisation, dass es nicht automatisch von Vorteil ist, eine Krankheit früh zu entdecken. Sinnvoll wird eine Früherkennung erst, wenn Studien belegen, dass etwa ein Krebstumor durch die frühe Entdeckung besser behandelt werden kann, als wenn man den gleichen Tumor später gefunden hätte. Andernfalls verlängert die frühe Diagnose nur die Sorge und das Leiden, sagt der IQWiG-Chef Jürgen Windeler:
"Solche Studien mit einem positiven Ausgang gibt es nur für relativ wenige Früherkennungsuntersuchungen. Dazu gehört das Brustkrebs-Screening, Mammografie, dazu gehört die Untersuchung auf Darmkrebs, jedenfalls einige davon, Gebährmutterhalskrebs. Und dann hört auch schon langsam so die überzeugende Studienlage auf."
Mehr Nutzen als Schaden
Bei diesen Früherkennunguntersuchungen belegen internationale Studien, dass sie zumindest geringfügig mehr nutzen als schaden. Deshalb werden sie auch von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt:
"Dann enthalten die deutschen Kassenleistungen so zwei, drei Untersuchungen, die so in den 70er-Jahren reingekommen sind, wo man es mit der Überprüfung noch nicht so genau genommen hat. Zum Beispiel eine Untersuchung des Enddarms mit dem Finger, wo eigentlich sich alle einig sind, dass das eher eine rituelle Handlung ist. Und dann gibt es mit dem Hautkrebs-Screening zum Beispiel auch Untersuchungen die eingeführt worden sind, wo man allerdings sagen muss, dass die Datenlage nicht ganz so überzeugend ist, wie bei den anderen Untersuchungen, die ich genannt habe."
Am besten ist die Datenlage bei der Brustkrebsfrüherkennung, also beim Mammografie-Screening.
Durch die systematische Untersuchung von Frauen zwischen 50 und 69 Jahren werden fünf von 1000 Frauen vor dem Tod durch Brustkrebs bewahrt. Es werden aber auch fünf Frauen unnötig zu Brustkrebspatientinnen. Ihr Krebs wäre ohne Früherkennung nicht auffällig geworden und hätte auch nicht behandelt werden müssen. Und bei 50 von 1000 untersuchten Frauen wird im Anschluss an die Röntgenuntersuchung eine Gewebeprobe entnommen, die sich dann aber als unauffällig herausstellt.
Letztlich gibt es keinen absolut sicheren Test, sagt Ulrich Langenberg von der Ärzekammer Nordrhein:
"Jeder Test, jedes Screening-Verfahren kann ein positives Ergebnisse haben, obwohl in Wirklichkeit das negative richtig gewesen wäre. Das umgekehrte kann auch zutreffen."
Ein auffälliger Befund bedeutet also nicht zwangsläufig, dass man tatsächlich krank ist. Beim Hautkrebs-Screening zum Beispiel stellen sich die weitaus meisten verdächtigen Hautstellen bei den nachfolgenden Untersuchungen als harmlos heraus. Bis dahin leiden die Betroffenen aber unter Ängsten und müssen teilweise auch invasive Eingriffe wie Operationen über sich ergehen lassen. Andererseits kann es aber auch passieren, dass Tumore nicht entdeckt werden.
Gefahr einer Überdiagnose
Ein weiterer möglicher Schaden einer Früherkennungsuntersuchung liegt in der Überdiagnose:
"Wir wissen inzwischen auch aus großen Untersuchungen, dass Früherkennung auch bedeuten kann, dass ich Veränderungen als verdächtig identifiziere, die, wenn man nichts unternommen hätte, möglicherweise nie zu einer Belastung für den Patienten geworden wäre."
Das ist zum Beispiel häufig beim Prostatakrebs und der Früherkennung durch den PSA-Test der Fall. Dabei wird im Blut nach einem speziellen Eiweiß gesucht, dass im Falle eines Tumors erhöht ist. Aber der Test ist ungenau und längst nicht jeder Prostatakrebs ist gefährlich.
So hat fast jeder zweite 80-jährige Mann einen Prostatatumor, stirbt aber an etwas ganz anderem, sagt der IQWiG-Chef Jürgen Windeler:
"Und das bedeutet, dass ein Großteil der Diagnosen die man mit einem PSA-Test, mit einer Früherkennung findet, tatsächlich so genannte Überdiagnosen sind. Also Diagnosen, die sonst gar nicht bekannt geworden wären oder die die Männer bezüglich ihrer Lebenserwartung sonst nicht beeinträchtigt hätten."
Wird die Prostata aber wegen eines Krebsverdachtes operiert, leidet fast die Hälfte der Männer unter Inkontinenz und Impotenz. Wenn dadurch das Leben gerettet wird, nimmt man diese Folgen wohl hin. Sie sind aber ein hoher Preis bei einer Überdiagnose. Deshalb ist der PSA-Test auch keine Kassenleistung, sondern muss aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Er ist eine so genannte IGeL-Leistung.
Viele der individuellen Gesundheitsleitungen werden als Früherkennung angeboten, schneiden in der wissenschaftlichen Einschätzung aber schlecht ab. So bewertet der renommierte IGeL-Monitor nicht eine einzige IGeL-Früherkennung positiv – im Gegenteil: Ultraschalluntersuchung zur Eierstockkrebsfrüherkennung – negativ; PSA-Test und Urinanalyse zur Früherkennung bei Blasenkrebs – tendenziell negativ; Ultraschall zur Brustkrebsfrüherkennung und Stuhltest zur Darmkrebsfrüherkennung – unklar, heißt Schaden und Nutzen halten sich die Waage.
Dennoch sind IGeL-Leistungen ein riesen Geschäft für die Ärzte. Pro Jahr setzten sie damit rund 1,5 Milliarden Euro um. Ulrich Niehland von der Unabhängigen Patientenberatung in Köln befürchtet, dass der Arzt zum Kaufmann und der Versicherte zum Kunden wird:
"Grundsätzlich sehen wir das deswegen kritisch, weil dabei der Verkaufsaspekt so stark im Vordergrund steht. Es gibt Marketingkongresse dafür, wo die Ärzte und vor allen Dingen auch das Praxispersonal geschult wird, wie sie genau auf Patienten zugehen sollen. Das passt einfach nicht zu dem, was Ärzte ihren Patienten anbieten sollten."
Der Patientenberater meint auch, dass die zahlreichen Kampagnen, wo Prominente für PSA-Test, Darmspiegelung und Mammografie werben, der Sache nicht dienlich sind:
"Man kann auf jeden Fall sagen, dass vor allen Dingen in Kampagnen von Prominenten durchaus auch so ein moralischer Druck aufgebaut wird. Das finde ich bedenklich, das finde ich keine gute Gesundheitsinformation."
Neutral über Risiken informieren
Und auf die käme es letztlich an – da sind sich alle einig. Damit Patienten abwägen können, ob sie an einer Früherkennungsuntersuchung teilnehmen möchten oder nicht, ist es zwingend notwendig, dass Ärzte neutral über Nutzen und Risiken informieren. Das fordert auch die Weltgesundheitsorganisation.
Und Ulrich Langenberg, geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein ergänzt:
"Und wenn sie uns jetzt fragen, was fehlt in dieser gesetzlichen Finanzierung, dann würde ich sagen, es ist nicht in erster Linie diese oder jene einzelne Leistung. Sondern was wirklich fehlt, ist die Zeit für das Gespräch zwischen Arzt und Patient."
Doch nach wissenschaftlicher Studienlage könne selbst in ausführlichen Gesprächen zum jetzigen Zeitpunkt kein Arzt eine klare Empfehlung für oder gegen die Früherkennung geben, meint der Leiter des IQWiG, Jürgen Windeler. Denn selbst bei den eher postiv bewerteten Früherkennungsuntersuchungen lägen Nutzen und Schaden sehr eng beieinander:
"Daher ist es sehr, sehr schwierig wirklich Empfehlungen abzugeben und klare Aussagen zu machen, das sollte man machen, das sollte man nicht machen. Es ist ein sehr individuelle Entscheidung, ob ich diesen Schaden der Überdiagnose eingehen will, für möglicherweise einen 'Hauptgewinn', nämlich länger zu leben, der nur ganz ganz Wenige betreffen wird. Oder ob ich mit der Situation - was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß – sehr viel besser zurechtkomme."
Sich nicht unter Druck setzen lassen
Der Patientenberater Ulrich Niehland betont obendrein, dass sich Früherkennungsuntersuchungen – ganz gleich ob von der Krankenkasse finanziert oder als IGel-Leistung – ausdrücklich an gesunde Menschen richtet. Es gibt also keinen Zeitdruck:
"Man kann, wenn man eine solche Leistung angeboten bekommt, auf jeden Fall bei verschiedenen Institutionen, bei den Ärzten selber, also bei den Leitlinien sich informieren, bei den Beratungsstellen, bei der Verbraucherzentrale oder eben auch bei dem neuen so genannten IGeL-Monitor. Ganz entscheidend ist wirklich, sich nicht unter Druck setzten zu lassen."
Und – ganz wichtig – die Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen ist immer freiwillig. Auch dann, wenn - wie bei dem Mammografie-Screening - alle zwei Jahre eine persönliche Einladung im Briefkasten liegt.