Medizinische Versorgung in Syrien

"Man hat das Gefühl, die Hölle zu sehen"

Das zerstörte Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen im Norden Syriens.
Das zerstörte Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen im Norden Syriens. © dpa/EPA/SAM TAYLOR / MSF
Der Mediziner Oliver Rentzsch im Gespräch mit Nana Brink |
Eine medizinische Versorgung in Syrien ist kaum noch möglich. Für Oliver Rentzsch ist die Situation unerträglich. Der Mediziner, der im Auftrag der WHO in Syrien unterwegs ist, will ein mobiles Krankenhaus in Homs bauen - und hofft nun auf die notwendigen Mittel.
Der Lübecker Mediziner Oliver Rentzsch hat als Chirurg schon viel gesehen und erlebt. Doch was Rentzsch als Beauftragter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei seiner Erkundungsreise durch Syrien vorfand, hat auch den erfahrenen Arzt erschüttert: Die Krankenversorgung sei desolat, die meisten Krankenhäuser in den umkämpften Regionen seien stark beschädigt oder zerstört. Reparaturen von medizinischen Geräten seien nicht möglich. Die Situation sei verzweifelt, es fehle an allem, sagte der Professor für Internationale Gesundheitswissenschaften an der Fachhochschule Lübeck.
"Das ist eine wirklich unerträgliche Lage. Man hat das Gefühl, die Hölle zu sehen in manchen Bereichen."

Die WHO hilft

So gebe es beispielsweise vielerorts keine Krebsmedikamente mehr. Man könne jedoch helfen – die WHO tue dies bereits vorbildhaft mit Medikamenten und Medizintechnik. Rentzsch selbst engagiert sich für den Bau mobiler Krankenhäuser in Modulbauweise. Eine Architekturstudentin der Fachhochschule in Lübeck habe ein Modell dafür entwickelt, das gemeinsam mit den Menschen vor Ort gebaut werden soll. Ein erster Standort solle Homs sein, das zwar als befriedet gelte und allmählich auch wieder von Rückkehrern bewohnt werde, dessen einziges Krankenhaus jedoch komplett zerstört sei.
Das Modulkrankenhaus solle nach dem "Lego-Prinzip" gebaut werden, erläuterte Rentzsch. "Nun darf man sich da keine Container vorstellen. Das ist ein richtiges Krankenhaus mit 30 Jahren Lebensdauer und genauso qualitativ hochwertig wie ein konventionell gebautes. Aber es ist eben schnell aufzubauen, es ist günstiger aufzubauen und es ist flexibler."
Er habe das Grundstück des alten Krankenhauses zu diesem Zweck bereist begutachtet. Die Reaktion der Anwohner auf die Nachricht, es werde bald ein neues Krankenhaus geben, habe ihn "tief bewegt": Die Menschen seien in Tränen ausgebrochen.
Derzeit organisiert Rentzsch die Finanzierung des Vorhabens. Er zeigt sich zuversichtlich. Die Gespräche mit möglichen Unterstützern und Geldgebern für das Projekt seien "immer sehr gut". Es gebe Hilfstöpfe, aus denen man die nötigen Mittel bereit stellen könne.

Hören Sie dazu auch den Beitrag von Nadine Dietrich "Ein Modul-Krankenhaus aus Lübeck für Homs", vom 10. Oktober 2016 (Studio 9).
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Wer für die Menschen und die medzinische Versorgung in Syrien spenden möchte, findet im Netz zahlreiche Anlaufstellen. Eine Auswahl:
UN-Flüchtlingshilfe
SyrienHilfe e.V. 

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wenn die Menschen in Syrien eines brauchen, dann Lebensmittel und medizinische Versorgung. Nicht unbedingt in Damaskus, vielleicht in einigen Teilen, aber in Homs oder Aleppo. Aber diese Forderung, die klingt ja mittlerweile zynisch in einer Zeit, in der es anscheinend unmöglich ist, einen Korridor für Hilfslieferungen nach Aleppo zu organisieren und Krankenhäuser ja schon Ziele von Luftangriffen sind. In Aleppo gibt es faktisch kein Krankenhaus mehr, nicht in dem Teil, der unter Beschuss ist. Oliver Rentzsch ist Professor für Internationale Gesundheitswissenschaften in Lübeck, war oft schon in Syrien und hat im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation den Zustand des Gesundheitswesens in Syrien dokumentiert. Und wir erreichen ihn jetzt wieder in Damaskus. Ich grüße Sie!
Oliver Rentzsch: Hallo, wunderschöne Grüße aus Damaskus!
Brink: Schildern Sie uns doch bitte, wohin konnten Sie denn fahren, und was haben Sie an Krankenhäusern oder überhaupt an medizinischer Versorgung gesehen?
Rentzsch: Das sind zwei Teile gewesen. Es war ja einmal die Untersuchung des gesamten syrischen Gesundheitswesens Anfang letzten Jahres oder Ende letzten Jahres, wo wir in alle Regionen konnten bis auf eben die vom IS kontrollierten Regionen und die Regionen um Aleppo damals, weil dort gerade der Konflikt deutlich eskalierte. Das sind Sicherheitsgründe, die es dann unmöglich machen, den Raum zu betreten. Wir waren aber sonst im ganzen Land unterwegs, von Dara ganz im Süden über Damaskus bis hin nach Latakia und Tartus. Und auch in der Umgebung von Damaskus hatten wir die Gelegenheit, etliche Ausprägungen von der stationären Gesundheitsversorgung in Augenschein zu nehmen.

Schlimme Zuständen in umkämpften Regionen

Brink: Und was haben Sie vorgefunden?
Rentzsch: Es ist wirklich völlig unterschiedlich. Wir haben natürlich hier in Damaskus ganz normale Universitätsmedizinkrankenhäuser, die in einem völlig intakten Zustand sind. Die leiden natürlich auch unter gewissen Problemen, was die Infrastruktur, die technischen Geräte und auch die hohe Zahl an Patienten betrifft, die sie behandeln. Aber wir haben insbesondere in den umkämpften Regionen, in Daraa ist das entscheidende Beispiel gewesen, Kliniken gesehen, die nur noch auf die Notfallversorgung reduziert sind, wo es keine Frauenheilkunde und Geburtshilfe mehr gibt, wo es eigentlich gar keine stationäre Versorgung gibt, sondern nur noch Notfalleingriffe. Von dem ganzen achtstöckigen Krankenhaus ist nur noch das Erdgeschoss überhaupt nutzbar.
Brink: Was haben Ihnen denn die Ärzte und das Personal dort erzählt? Ich habe noch so diesen Brief einiger Ärzte aus Aleppo an Präsident Obama in Erinnerung, das war vor einigen Wochen, wo er gesagt hat, wenn jetzt nicht irgendwas passiert, dann sind wir hier am Ende.
Rentzsch: Es ist eine schier verzweifelte Situation. Man kann gar nicht doll genug den Hut ziehen vor der Leistung der, wir nennen es mal Health Worker, vor den Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen dort in einem Krieg, Pflegern, Hebammen und Ärzten, die in einer hohen Leistung unter gefährlichsten Umständen ihren Job verrichten. Ich muss immer an eine Krankenschwester in Daraa denken, die auf die Frage, was sie hier tut, sagte, ich arbeite hier, Punkt. Und das jeden Tag unter Einsatz ihres Lebens.
Das ist schlicht die Realität. Es fehlt an allem: Essenzielle Medikamente, die Geräte, die zwar vorhanden sind, auch, wenn sie nicht zerstört worden sind, sind nicht mehr in Betrieb, weil sie nicht gewartet werden können – das ist unter anderem ein Embargo-Effekt, das muss man deutlich auch sagen –, wo es keine Ersatzteile mehr gibt, keinen Service durch die Medizintechnikunternehmen mehr im Land. Die Geräte sind schlicht und ergreifend außer Betrieb. Nagelneue Kernspintomografiegeräte. Das heißt, man versucht die ganze Zeit, sich zu behelfen mit einem Endoskopiegerät in einem Universitätsklinikum, das in einem Zustand war, in dem wir es noch nicht mal mehr in ein Museum stecken können. Und trotzdem wird versucht, es zu benutzen und das Beste in der Situation wirklich herauszuholen. Es ist eine grandiose Arbeit, und im syrischen Alltag sind das wirklich Helden.
Brink: Wenn Sie dorthin fahren, das erleben, diese Geschichten, von denen Sie erzählen, was transportieren Sie dann weiter? Oder ist es nicht einfach die schiere Verzweiflung, wo man denkt, da kann man eigentlich gar nichts mehr machen?

Starke persönliche Betroffenheit

Rentzsch: Das ist es nicht. Es ist in der Tat so, und ich bin so als chirurgisch tätiger Mensch durchaus etwas gewohnt, aber es ist so, dass es mich persönlich stark betrifft. Es ist eine wirklich unerträgliche Lage. Man hat das Gefühl, wirklich die Hölle sehen in manchen Bereichen, und das ist nicht übertrieben. Doch, man kann helfen. Die WHO leistet exzellente Arbeit. Wir haben Listen mit essenziellen Medikamenten, die besorgt werden, die verteilt werden. Und es werden auch notwendige Medizintechnikgeräte, soweit sie überhaupt verfügbar sind und gekauft werden dürfen, zur Verfügung gestellt. Da kann man helfen in der Situation, und das wird auch getan.
Für wesentliche Medikamente, wie zum Beispiel Krebstherapie, die gibt es hier gar nicht mehr. Also, eine medikamentöse Krebsbehandlung ist nicht mehr vorhanden in diesem Land, das ist halt nicht als essenziell eingestuft. Und so sind die Ärzte immer wieder in der Notwendigkeit, und auch die Schwestern und Pfleger, Entscheidungen zu treffen, Menschen einfach nicht zu behandeln, obwohl man sie eigentlich klinisch behandeln könnte. Man lernt damit umzugehen, und man lernt das zu akzeptieren. Aber man nimmt eben immer wieder mit – das gibt einem selbst etwas zu tun, und es wird auch geholfen.
Brink: Nun haben Sie, als Sie das letzte von ihrer letzten Reise aus Damaskus zurückgekehrt sind, eine Idee gehabt, und zwar die Idee eines mobilen Krankenhauses, das man vielleicht auch in Syrien zum Beispiel in Homs entwickeln könnte und aufstellen könnte. Was ist das genau?
Rentzsch: Wir haben im Rahmen der Begutachtung einen Plan entwickelt, was man in Syrien tun muss. Und mindestens die Hälfte der Krankenhäuser sind schlicht und ergreifend neu zu bauen, weil sie nicht mehr existent sind. In Homs ist ein 600-Betten-Krankenhaus, und das ist das einzige, das es dort gab, komplett zerstört. Und da muss sofort der Gedanke in den Kopf kommen, das muss man wiederherstellen. Homs ist ein Bereich, in den die Menschen wieder einwandern, in den sie wieder zurückkehren. Homs ist als befriedet einzuschätzen. Es gibt dort aber keine stationäre Gesundheitsversorgung. Das heißt, was kann getan werden? Und mobil ist halt richtig in dem Teil. Es geht um die Möglichkeit, ein Krankenhaus schnell zu erstellen, es vor Ort zu erstellen und durch Syrerinnen und Syrer erstellen zu lassen, also etwas, was wirklich hier in diesem Land, auch von den Menschen in diesem Land, für die Menschen getan werden kann.
Und deswegen haben wir ein Krankenhaus entworfen, ein Modell gebaut, das vorgefertigt werden kann zu 90 Prozent, und gewissermaßen so wie Lego hier vor Ort zusammengesetzt werden muss. Nun darf man sich da keine Container vorstellen. Das ist ein richtiges Krankenhaus mit 30 Jahren Lebensdauer und genauso qualitativ hochwertig wie ein konventionell gebautes. Aber es ist eben schnell aufzubauen, es ist günstiger aufzubauen, und es ist flexibler.
Brink: Sie sind ja nun selbst in Homs gewesen und haben sich nach einem Ort umgesehen, wo man das Modell, das Krankenhaus, was Sie entworfen haben, bauen können. Wie war die Situation dort? Wem sind Sie begegnet?

Ein Krankenhaus für alle

Rentzsch: Es ist uns sehr wichtig, dass, wenn wir ein Krankenhaus bauen und das auch unterstützen, dass das wirklich auch für alle Menschen in der Region erreichbar ist. Und deswegen haben wir uns den Ort des zerstörten Klinikums in Homs angeschaut. Sie sind da wirklich mitten in der Region der Bilder, die wir alle kennen. Und wir haben haben uns das Haus angeschaut, wir haben das Grundstück gewissermaßen vermessen, um zu schauen, ob es passt. Und das ist auch der Ort, wo das Klinikum hin soll, nach Einschätzung der lokalen Behörden. Während wir da standen in dieser wirklich fürchterlichen Umgebung, kamen natürlich immer mehr Menschen um die Ecke und guckten, was wir dort tun, unter anderem auch Soldaten, die die Region sichern. Die fragten dann irgendwann, trauten sie sich, "was machen Sie denn da?", und dann haben wir gesagt, wir planen ein neues Krankenhaus. Und das war ein tief bewegter Moment für mich, weil die Menschen in Tränen ausbrachen und sagten, wir kriegen wieder ein Krankenhaus. Das ist die Notwendigkeit vor Ort, und das ist die Motivation, die man daraus ziehen kann.
Brink: Und welche Chancen sehen Sie, dass das auch wirklich realisiert wird, dass es so etwas wie Hoffnung gibt? Das ist ja ein Wort, was man sich ja fast nicht mehr in den Mund zu nehmen traut, wenn es um Syrien geht.
Rentzsch: Ich halte die Chance für hoch. Wir haben extrem gute Unterstützung sowohl in Deutschland als auch hier in Syrien. Einerseits von den Offiziellen, aber auch von den internationalen Organisationen. Ich mache das schon daran fest, dass wir innerhalb von wenigen Tagen beinahe zu allen relevanten Menschen Termine kriegen, um das Projekt vorzustellen. Und das Feedback ist immer sehr gut. Wir haben auch Gespräche mit Ingenieuren und Ingenieurinnen über die Möglichkeiten, es zu bauen, und gerade gestern wurden mir Stahlträger überreicht, damit ich schon mal gucken kann, was man hier herstellen kann. Also, die Motivation ist hoch. Natürlich wird man die Finanzfrage noch klären müssen, aber die Finanzfrage ist eben anders zu klären. Es gibt Hilfstöpfe, die dafür zuständig sind, die jetzt auch bereitstellen können. Es ist eine absolute Notwendigkeit, und wir machen es gemeinsam mit den Menschen hier vor Ort, sodass wir dort auch eine wirklich attraktive Kostensituation darstellen können.
Brink: Der Arzt und Professor für internationale Gesundheitswissenschaften Oliver Rentzsch. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, und alles Gute in Syrien, passen Sie auf sich auf!
Rentzsch: Mach ich. Tschüs aus Damaskus!
Brink: Das Gespräch haben wir aufgezeichnet, und wir bitten, die schlechte Tonqualität der Leitung nach Damaskus zu entschuldigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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