Meer

Die Gejagten

Von Udo Schmidt |
Sechs Menschen sind in den vergangenen beiden Jahren allein in Westaustralien durch Haie umgekommen. Das hat die Region in zwei Lager gespalten - die einen sind für, die anderen gegen die Jagd auf Haie. Doch es gibt bessere Wege, Surfer und Badende zu schützen, sagen Experten.
Michael aus Italien wandert mit seinem Surfbrett am Smith Beach nahe Yallingup entlang. Er muss bald wieder zurück nach Europa und will deshalb keine Welle verpassen.
"Ich habe nur noch eine Woche in Australien, deswegen ist jede Welle für mich toll. Bald muss ich wieder nach Italien, dann lieber eine kleine Welle als gar keine."
Michael kennt die Gefahr durch Haie, nimmt sie allerdings nicht allzu ernst:
"Alle hier sagen, es ist gefährlicher, unter einer Kokosnusspalme zu arbeiten als mit Haien zu surfen. Wenn es Zeit ist, dann passiert es. Es macht nichts."
Crystal Wallace ist Surflehrerin in Yallingup, einem kleinen Strandort nahe Margaret River in Western Australia. Crystal lebt schon immer in Yallingup und sie ist schon sehr lange Surflehrerin. Surfen ist ihr Leben:
"Es ist der Grund, dass ich hier lebe und das tue, was ich tue. Ich komme aus einer Surfer-Familie, ich selber surfe, seit ich zehn bin, seit ich mich sicher genug fühle, um alleine ins Wasser zu gehen."
Jeden Morgen gibt Crystal Wallace Surfunterricht am Smith Beach, einem endlos langen, breiten und leeren Strand. Crystal kennt die Hai-Gefahr draußen im Meer, sechs Tote hat es in den vergangenen beiden Jahren allein in Western Australia gegeben - und einige der Opfer hat Crystal gekannt. Trotzdem gibt sie keine Verhaltenstipps, was Haie angeht. Das, meint die 31-Jährige, würde den Surfschülern nur unnötig Angst machen. Dennoch ist sie überzeugt, dass etwas passieren muss:
"Wir haben ganz offensichtlich ein Problem mit dem Weißen Hai, der Menschen frisst. Früher sind wir einfach ins Meer gesprungen, jetzt denken die Kinder, die Surfen lernen, die ganze Zeit an die Haie."
Umsatzeinbruch in der Tourismusindustrie
George Simpson ist Fischer in Margaret River - seit 50 Jahren. Natürlich müsse man etwas gegen die Haie unternehmen, sagt auch er:
"Haie, gerade Weiße Haie, treten zu bestimmten Zeiten vermehrt auf, dann gibt es viele Hai-Angriffe. Das Problem teilt die Menschen hier in der Gegend in zwei Lager. Die, die die Haie töten wollen und die, die dagegen sind. Es ist gerade eine dramatische Entwicklung, sie hat sich zugespitzt."
Es ist klar, zu welchem Lager George gehört. Er ist Surfer und traut sich inzwischen kaum noch aufs Meer:
"Spaß und Freude mit meinen Kindern zu haben, das geht nicht mehr, zumindest nicht mehr so, wie wir es gewohnt waren. Ich surfe deswegen seit einiger Zeit nicht mehr."
Der Schutz für Wale etwa, sagt Fischer George, habe das Problem mit den Haien überhaupt erst entstehen lassen, schließlich stünden Wale ganz oben auf dem Speiseplan der Raubfische.
"Seit die Zahl der Wale wieder ansteigt, steigt auch die der Haie, so einfach ist das. Und deshalb haben wir das Problem. Dazu kommt, dass wir Menschen immer häufiger ins Meer gehen, und warum sollten wir auch nicht? Solange wir uns verantwortungsvoll verhalten, ist doch alles gut. Wenn es allerdings Tiere gibt, die Menschen fressen, dann müssen wir etwas dagegen tun."
Die Regierung von Western Australia hat reagiert und lässt seit einem Monat die Jagd auf Haie zu. Vor der Küste werden Köder ausgelegt, 66 Haie wurden so bisher gefangen und getötet. Die australischen Umweltschützer sind entsetzt. Die Hai-Jagd, sagt Jeff Hanssen von den Sea Shepherds, sei ökologisch bedenklich und unsinnig, wenn es darum geht, das Leben der Surfer zu schützen:
"Wir werden das Risiko, von einem Hai getötet zu werden, niemals ganz ausschalten können. Wenn wir alle Haie töten würden, dann hätten wir bald ein totes Meer."
Die Sea Shepherds sehen die Gefahr für Surfer und Schwimmer durch die Köder im Meer sogar wachsen. Jeff Hansen:
"Wie sollen die Strände sicherer werden, wenn man Köder für Haie auslegt? Dann kommen noch mehr Haie. Und die Gefahr für Schwimmer und Surfer steigt weiter, einmal ganz abgesehen von den ökologischen Aspekten."
Bisher wurden fast ausschließlich Tigerhaie gefangen. Für die tödlichen Attacken auf Surfer und Schwimmer waren jedoch nahezu immer Weiße Haie verantwortlich. George, der Fischer mit 50 Jahren Erfahrung auf dem Meer, sieht ein anderes Problem. Es sei, sagt der beeindruckend wettergegerbte 64-Jährige, der trotzdem noch wie ein großer Junge aussieht, ganz einfach der falsche Zeitpunkt:
"Die Köder werden jetzt ausgelegt, zur falschen Jahreszeit! Deshalb werden nur wenige Haie gefangen. Sie können ja ködern, aber dann muss es richtig sein. Im Moment fangen sie nur Tigerhaie, aber sie wollen ja den Weißen Hai. Den bekommen sie jetzt aber nicht. Das Ganze ist also nicht effektiv."
Sorgen macht sich vor allem die Tourismusindustrie an der Westküste Australiens. Sie befürchtet, dass die Urlauber aus Angst vor Haien wegbleiben. Um 20 Prozent seien die Umsätze eingebrochen, heißt es in den Restaurants in Margaret River.
Beispiel Brasilien
Am Strand von Yallingup, während des Surfkurses, ist von einer Angst vor Haien nichts zu spüren. Bree ist Australierin:
"Natürlich ist es ein Risiko, hier ins Meer zu gehen. Aber beim Surfen denkt man nicht daran, nur an die nächste Welle. Was passiert, passiert, bis dahin sollten wir Spaß haben an dem, was wir tun."
Laura Lee ist Kanadierin, sie ist Anfang 40 und lernt erst jetzt Surfen, weil sie wissen will, warum ihre Kinder vom Wellenreiten so begeistert sind. Angst vor Haien habe sie nicht, meint Laura Lee:
"Es gibt immer ein gewisses Risiko im Leben. Es ist nun mal das Gebiet der Haie, in der wir uns aufhalten. Ich stamme aus den Rocky Mountains, und wir waren dort früher immer wandern. Man musste ständig auf die Bären aufpassen. So ist das eben. Ich glaube, das Risiko eines Autounfalls ist größer als das eines Haiangriffs."
Darüber, wie gefährlich Haie und wie interessiert sie an der Beute Mensch sind, streiten sich die Experten. Jessica Meeuwig ist Meeresbiologin an der Universität von Perth. Weißen Haien sei der Mensch eigentlich egal, sagt sie:
"Würden Haie Menschen gerne fressen, dann gäbe es viel mehr Angriffe. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Haie, insbesondere Weiße Haie und Tigerhaie, den Geschmack von Menschen mögen."
Köder zur Abwehr von Haien sind nach Ansicht der Meeresbiologin wirkungslos. Im Bundesstaat Queensland werde die Köderung seit langem praktiziert – ohne jeden Erfolg. Seit 1853 haben in Queensland 71 Mal Haie tödlich zugebissen, durchschnittlich also 0,32 Attacken pro Jahr. Seit 1962, mit Beginn der Köderung vor der Küste Queenslands, liegt der Wert bei 0,37. Nicht gerade ein Erfolg.
"Weil Netze so gefährlich sind auch für andere Meeresbewohner wie Delfine und Schildkröten, bringt Queensland konsequent Köder aus. Rund 1000 Haie werden pro Jahr getötet, und die Strände sind dennoch nicht sicherer geworden!"
Mehr noch: 95 Prozent der seit 2001 gefangenen und getöteten Haie waren artengeschützt, auch die kleineren Haie unter drei Meter Länge, die eigentlich wieder freigelassen werden sollen, haben nach der Köderung kaum eine Überlebenschance. Sie sind verletzt und ein leichtes Opfer für größere Artgenossen. Und dazu kommt: 89 Prozent der vor der Küste von Queensland gefangenen Haie wurden vor Buchten geködert, in denen es noch nie eine tödliche Haiattacke gegeben hat.
Jessica, die Meeresbiologin an der Universität von Western Australia in Perth, und George, der Fischer aus dem kleinen Strandort Yallingup, sind sich wahrscheinlich noch nie begegnet, sie leben auch in sehr unterschiedlichen Welten, aber ihre Ideen, wie man dem Haiproblem Herr werden könnte, ähneln sich:
"Die Haie zu schlachten, wird das Problem nicht lösen. Man tötet sie jetzt, und nächstes Jahr sind neue da. Langfristig müssen wir die Haie kennzeichnen, um sie beobachten zu können und ihr Verhalten zu verstehen."
Jessica Meewig verweist auf Erfahrungen vor der Küste Brasiliens.
"Dort hat man die Haie nicht getötet, sondern gekennzeichnet. Sie haben damit die gefährlichen Hai-Angriffe um 97 Prozent gesenkt. Durch die Warnungen waren sich die Menschen bewusster, was sie im Wasser tun. Das Entscheidende ist aber: Im Wasser ist man auf jeden Fall sicherer als im eigenen Auto."
Und diese Sicherheit, das empfehlen die Experten, ließe sich durch gezielte Informationen erhöhen. Also zum Beispiel durch die Ansage, in bestimmten Monaten besser nicht ins Wasser zu gehen. Der Weiße Hai, so Meeresbiologin Meeuwig, sei so selten, dass allein deswegen wenig Gefahr von dem faszinierenden Tier ausgehe. Man habe mit Kameras im Meer das Verhalten der Haie studiert, einen so genannten Great White habe man so gut wie nie zu sehen bekommen:
"Ich würde sagen, die Weißen Haie sind absolut selten. Wir hatten tausende Stunden Videomaterial, und darauf waren gerade mal zwei Weiße Haie zu sehen. Sie sind an Ködern, die wir auch ausgelegt hatten, überhaupt nicht interessiert. Sie ziehen daran vorbei wie ein beeindruckendes Unterseeboot."
Meinungsumschwung durch den Surf-Tourismus
Crystal Wallace, die Surflehrerin in Yallingup, liest die Untersuchungsberichte von Jessica Meeuwig nicht. Sie verlässt sich auf ihre Erfahrung. Und sie weiß, wie es ist, einen Hai zu treffen:
"Eins meiner ersten Erlebnisse war auf dem Boot meines Vaters, ich war zwölf. Neben dem Boot schwamm ein fünf Meter langer Tigerhai. Ich konnte seine Augen sehen, er hat mich angeschaut. Er war voller Narben. Er hat immer das Boot umkreist. Meine kleinen Schwestern waren mit auf dem Boot. Wir haben die beiden dann in die Mitte des Bootes gesetzt. Es war unbeschreiblich, der Hai war so erschreckend. Und er sah sehr hungrig aus. Wir haben Gott gedankt, dass wir nicht im Wasser waren."
Haie ködern und töten, meint Crystal, sei natürlich eigentlich nicht das Richtige. Aber Hauptsache, es werde überhaupt irgendetwas unternommen, meint die Surflehrerin – und fährt wieder raus an den Strand: Der Nachmittagsunterricht wartet.
Surferin auf der Suche nach "der Welle"
Surferin auf der Suche nach "der Welle"© AP Archiv
Tim Winton ist Surfer, wie so viele in Australien. Aber Tim ist gleichzeitig auch Umweltschützer und Haifreund. Und dazu schreibt er auch noch. Sehr erfolgreich über die Einsamkeit der Menschen, aber auch über das Surfen und die Begegnung mit Haien. Eindringlich und beeindruckend tut er das in seinem Roman Breath, auf Deutsch unter dem Titel "Atem" erschienen. Tim sitzt vor dem Meeresmuseum in Fremantle, einem alten, viktorianischen Örtchen an der Westküste, jetzt Teil von Perth, der Hauptstadt des Bundesstaates Western Australia. Tim Winton schreibt viel – und redet wenig. Jetzt tut er es, weil ihn die Hai-Jagd so sehr aufregt, dass er sein Prinzip der Zurückhaltung aufgibt:
"Ich denke, dass Haie viel gefährdeter sind als Menschen. Weltweit töten wir jedes Jahr rund 100 Millionen Haie, in Australien haben wir in einem schlimmen Jahr vier Tote durch Hai-Angriffe zu beklagen, es ist doch hysterisch, da von einem Problem zu reden."
Natürlich erleide jeder Surfer, der von einem Hai gebissen oder sogar getötet werde, ein schreckliches Schicksal, sagt Tim Winton, der mit seinen 50 Jahren und den langen Haaren so ganz den Typ des älteren Surf-Freaks verkörpert. Er wolle ja nicht falsch verstanden werden. Aber irgendwie sei das ganze doch absurd:
"In einem der schlimmsten Jahre hatten wir 1300 Verkehrstote in Australien, im selben Jahr gab es drei oder vier Tote durch Haiangriffe. Das ist immer grausam, und ganz schlimm, wenn so etwas passiert, niemand will das, aber es ist doch absurd, dass man sich mit den Verkehrstoten abfindet und die wenigen Toten aufgrund von Haiattacken zum Anlass nimmt, zur Jagd zu blasen."
Tim ist Westaustralier mit ganzem Herzen. Wie fast alle hier in dieser selbst für australische Verhältnisse abgelegenen Region des riesigen Landes hat er sich nie dauerhaft aus seiner Heimat, aus seiner Welt, wegbewegt. Das kann einschränken. Aber Tim Winton liest – und schreibt. Und das öffnet den Blick. Lange Zeit, sagt Tim, seien gerade die Westaustralier, diese Wasserratten, völlig relaxt gewesen:
"Menschen, die die meiste im Wasser verbringen, sind gewöhnlich sehr locker und entspannt, was die Gefahr durch Haie angeht. In der Vergangenheit hatten eigentlich alle, wenn etwas Schlimmes passiert, wenn jemand durch einen Hai verletzt oder getötet wird, eine eher philosophische Haltung zu solchen Ereignissen, sogar die Überlebenden und die Familien der Opfer."
Aber nun habe sich das geändert. Seit etwa einem Jahr würden alle geradezu panisch aufs Meer schauen und sich vor den Haien fürchten. Der Meinungsumschwung, sagt der Surf-Schriftsteller, sei dort entstanden, wo mit dem Surfen und dem Surf-Tourismus gutes Geld verdient werde:
"Einige Leute aus der Region um Margaret River haben Dinge gesagt, die sie früher vielleicht nicht gesagt hätten, und das hat am Ende die Politik aufgegriffen."
Leckerer Fleischvorhang kurz vorm Strand
Tony Cappeluti von der Fischereibehörde Western Australias setzt die neue Linie um, zu der sich die Regierung von Western Australia entschlossen hat. Er muss das tun. Zweimal 31 Köder sind ausgebracht vor der Küste der Metropolregion Perth sowie rund um Margaret River im Südwesten, dem Surfer Hot Spot. Jeden Morgen fahre er mit seinen Mitarbeitern raus, erzählt Tony:
"Wir legen die Köder aus, wir kümmern uns jeden Tag darum, wir befreien die kleinen Haie und töten die großen mit mehr als drei Metern Länge."
Tony, der in einem kleinen feinen Büro am Yachthafen von Fremantle sitzt, gehört vielleicht nicht zum Leserkreis Tim Wintons, aber auch er sieht den engen Zusammenhang zwischen der Einstellung zum Leben, zum Hai und zur Nähe zum Wasser:
"Manche sind sehr heftig gegen die Hai-Jagd, andere sind genauso deutlich dafür, es hängt davon ab, wie viel man sich im Wasser aufhält. Wenn man nicht im Wasser ist, aber ein Tierliebhaber, dann wird man strikt dagegen sein. Wenn man viel im Wasser ist und Tiere nicht mag, dann wird man der Regierung zustimmen. Aber ich will das gar nicht kommentieren, ich habe die Maßnahmen umzusetzen."
Auch wenn es nur rund 60 Köder sind, die im Wasser vor der Küste von Western Australia hängen, sie werden die Haie anlocken, sagt Schriftsteller Tim und lacht:
"Die Köder bringen letztlich die Haie doch näher an den Strand heran. Dort hängt dann praktisch ein leckerer Vorhang aus Fleisch. Das ist keine elegante Formulierung, aber sie trifft zu."
Fleischvorhang, wirklich kein schöner Begriff, aber schön ist auch diese ganze Geschichte nicht, die sich zwischen getöteten Surfern und geschlachteten Haien bewegt. George, der Fischer, der für Vernunft, aber auch für Maßnahmen gegen die Haie plädiert, hat seine eigene Philosophie:
"Wir sind in der Position, das zu tun, was nötig ist, auch mit den Weißen Haien. Die ganze Erde ist unter der Kontrolle der Menschen, wir müssen diese Kontrolle aber verantwortungsbewusst ausüben. Das darf eben nicht heißen, Wale, Schildkröten und Haie ohne Grund zu jagen. Wir jagen sie natürlich, um Essen zu haben, wir beackern das Meer, aber wir müssen es vernünftig tun, wir müssen die Balance im Meer suchen und halten."
Die Balance im Meer suchen – dem können alle zustimmen. Und die Surfschüler von Crystal, die auf dem Board noch sehr mit der Balance kämpfen, sind durchweg bereit, den Haien ihren Lebensraum zu lassen und die Gefahr zu akzeptieren.
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