Patient Nordsee
Wie steht es um die Wasserqualität in der Nordsee? - Zwölf Spezialisten untersuchen derzeit den Gesundheitszustand des Meeres. Die Wissenschaftler befinden sich auf dem Forschungsschiff "Celtic Explorer". Unser Reporter hat das Team via Satellit erreicht.
Es ist ein aufwändiger Hausbesuch bei einem uralten Patienten. Den Gesundheitszustand der Nordsee überprüft ein zwölfköpfiges Spezialisten-Team mit der "Celtic Explorer". Klar ist: eine Gesundschreibung wird es nicht geben.
Oben auf der Brücke des Forschungsschiffs steht Sieglinde Weigelt-Krenz. Die 60-jährige Meereschemikerin arbeitet für das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie, das BSH. Sie leitet die Visite, die alljährliche so genannte "Gesamtaufnahme". Sieglinde Weigelt-Krenz ist nur über eine knarzende Satellitenverbindung erreichbar. Sie erzählt, wie das Tagesprogramm der zwölf Forscher an Bord aussieht:
Weigelt-Krenz: "Die erste Station beginnt pünktlich acht Uhr. Das heißt: halb acht spätestens im Labor, Geräte vorbereiten. Damit die startklar sind, wenn wir auf Station kommen. Dann setzen wir die so genannten Kranzwasserschöpfer ein ..."
... und mit diesen Schöpfern hieven sie das Meerwasser an Bord, füllen es ab, notieren Ort und Datum der Probenahme, fahren auf dem gleichen Raster wie im letzten Jahr die Nord- und später die Ostsee ab.
Weigelt-Krenz: "Als nächstes kommen wir zur Nordsee-Boje 2. Dort werden Metalle untersucht. Nährstoffe und auch organische Schadstoffe."
Der Nordsee wird der Puls gefühlt: Temperatur, Sauerstoffgehalt und die Schadstoffe im Salzwasser werden gemessen. Immerhin pumpen die Deutschen, Franzosen, Briten und Dänen eine Menge Abfall in diesen mächtigen Organismus.
Blei, Cadmium und Quecksilber
In den achtziger Jahren waren die Geschwüre mit bloßem Auge sichtbar: die Nordseefische krepierten an tausenden Tonnen Dünnsäure, an Blei, Cadmium und Quecksilber aus der west-, vor allem aber ostdeutschen Chemieindustrie.
Dazu kamen Hektoliter an Pflanzenschutzmitteln. Radioaktiver Restmüll aus den Wiederaufbereitungsanlagen in La Hague und Sellafield.
Und die Briten versenkten ihren Atommüll im Ärmelkanal.
Gegen die Dünnsäureverklappung schickte Greenpeace 1981 die ersten Schlauchbootkämpfer auf die Nordsee. Mit Erfolg.
Und 1989 begann nicht nur die DDR unterzugehen, sondern mit ihr auch die chemische Industrie im Osten Deutschlands. Die giftigen Infusionen in die Nordsee wurden reduziert.
Heute hat sich der Patient von vielen dieser Substanzen erholt, erklärt Stefan Schmolke vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie:
"Wir haben in der Nordsee signifikant abnehmende Quecksilberkonzentrationen seit Jahrzehnten. Man kann diesen Effekt der abnehmenden Quecksilberkonzentrationen im Sediment bis in die zentrale Nordsee hinaus beobachten, wo wir also seit Jahrzehnten signifikant abnehmende Trends haben."
Und auch die Belastung mit bestimmten Pflanzenschutzmitteln, mit Atrazin, ist zurückgegangen, weil diese Stoffe seit Jahren verboten sind.
Die gute Nachricht: Giftstoffe verbieten lohnt sich, den Zustand des Patienten Nordsee können Behörden und Regierungen also messbar verbessern.
Schmolke: "Die Schadstoffkonzentration, die wir in der Nordsee finden, sind im Großen und Ganzen so, dass man keine biologischen Effekte erwarten kann. Zurzeit. Nach heutigem Kenntnisstand."
Giftige Kniffe der Bekleidungsindustrie
Die schlechte Nachricht schiebt der Wissenschaftler Schmolke aber gleich hinterher:
Schmolke: "Die chemische Industrie reagiert natürlich darauf. Indem andere Substanzen entwickelt werden, die – hoffentlich – umweltverträglicher sind. Dass in dem einen oder anderen Fall vielleicht auch sind. Manchmal aber auch einfach nur – das ist eine subjektive Einschätzung – manchmal auch einfach nur kosmetischer Art sind. Das heißt, dass die Struktur von irgendeinem Herbizid nur ein bisschen verändert wird. Damit ist es eine andere Substanz. Die aber quasi genauso wirkt wie die geregelte Substanz. Aber eben ungeregelt ist."
Also nicht verboten. Zu den kleinen Tricks der chemischen Industrie kommen die Kniffe der Bekleidungsindustrie: Die nutzen so genannte PFCs – polyfluorierte Kohlenwasserstoffe – damit wir in unsere Outdoorjacken und –hosen auch bei Starkregen unberührte Naturlandschaften durchstreifen können. Auf PFC-beschichteten Jacken perlt der Regen ab. Mit Risiken und Nebenwirkungen für die Umwelt, warnt der Greenpeace-Experte Manfred Santen:
Santen: "PFC sind zumindest teilweise fortpflanzungsschädigend. Und zum Teil eben auch hormonell wirksam. Man stellt das fest zum Beispiel an Fischen, die eine hohe PFC-Belastung haben. Die verweiblichen, deren Hormonsystem stark gestört wird. Und was das für den menschlichen Körper bedeutet, kann man nicht abschließend sagen."
Polyfluorierte Kohlenwasserstoffen bauen sich unendlich langsam ab und reichern sich in Fischen, aber auch im menschlichen Organismus an. Gut, dass die besonders giftigen PFCs in Europa mittlerweile weitgehend verboten sind. Schlecht, dass sie in asiatischen Ländern – dort, wo unsere Hightech-Outdoor-Jacken produziert werden – noch im Einsatz sind. Und nach dem ersten Regen, nach der ersten Wäsche unserer Jacken gelangen die PFCs auch in unsere Flüsse, landen am Ende in der Nordsee.
Kaum hat sich der Patient Nordsee von alten Giften erholt, gelangen neue, in ihren Wirkungen und Wechselwirkung nicht erforschte Stoffe in den alten Organismus, bringen das Gleichgewicht aufs Neue durcheinander.
Schmolke: "Es gibt weiterhin viel zu tun, würde ich sagen!"
Stefan Schmolke und seinen Kollegen vom BSH wird die Arbeit nicht ausgehen.