Meerschweinchen zum Abendmahl

Von Ana Radic |
Jedes Jahr im Oktober wird in Lima der Herr der Wunder gefeiert. Die Peruaner verehren dabei ein Jesusbild aus dem 17. Jahrhundert, das auf wundersame Weise mehreren Erdbeben standgehalten haben soll. Worin die einen Jesus Christus sehen, erkennt vor allem die indigene Bevölkerung eine vorkoloniale Gottheit wider.
Wenn am kommenden Dienstag, in Peru tausende von Menschen in violetten Kutten den "Herrn der Wunder" verehren, ist das für viele ein Zeichen für den gelebten Katholizismus im Land. Dabei ist das Fest eigentlich gar nicht kirchlichen Ursprungs: Sklaven hatten im Lima des 17. Jahrhunderts ein Jesusbild auf eine Wand gemalt. Erst als diese Wand als einzige in der Gegend zwei schweren Erdbeben standgehalten hatte, begannen die Menschen, das Bild darauf zu verehren. Auch die Kirche gab irgendwann dem Druck der Bevölkerung nach und ließ an dieser Stelle eine Kapelle bauen. Doch nicht alle sahen in dem berühmten Bild eine christliche Ikone.

"Dieser "Herr der Wunder" ist aber im Grunde auch ein Herr der Erdbeben. Und in dieser gleichen Region, in diesem Stadtviertel wohnte auch indigene Bevölkerung und das ist im Süden nicht weit entfernt von der Kultstätte Patchakamaq. Und Patchakamaq heißt unter anderem "Herr der Erdbeben" und war eine ganz wichtige Kultstätte. Über tausende von Kilometern sind die Leute da hingepilgert in vorkolonialer Zeit. Da hat sich also so ein Synkretismus ergeben, der aber von allen Bevölkerungsteilen akzeptiert wurde."

Professor Iris Gareis forscht als Ethnologin zu Religionen in Südamerika. Was sie in Lima beobachtet hat, ist typisch für ganz Peru. Obwohl über 80 Prozent der Bevölkerung katholisch ist, leben indigene Riten und Vorstellungen fort. Sie werden teilweise parallel zum katholischen Glauben praktiziert, oft aber auch innerhalb dieses Glaubens.

Besonders lebendig ist dieser Synkretismus in Cusco. Die Andenstadt zieht viele Touristen an, war sie doch das Zentrum des Inkareichs. Hier wird auch heute noch traditionsbewusster gelebt als im Tiefland. Man sieht viele Cholitas - traditionell gekleidete Frauen mit bunten Röcken und langen schwarzen Zöpfen, die oft ein Lama mit sich führen. Auf den katholischen Kirchen wird hier die indigene Flagge gehisst und die Gottesdienste werden teilweise auf Quechua gefeiert - der Sprache der Inka.

So auch in der Kathedrale von Cusco. Die spanischen Eroberer haben sie 1559 an der Stelle erbaut, wo vorher der Wiracocha-Tempel war, die Gebetsstätte des andinen Schöpfergottes. Im Innern der dunklen Kathedrale glänzt an zahlreichen Altären und Ikonen das Gold der Inka. Doch obwohl die Statuen der Inka-Kultur längst eingeschmolzen sind, ist die Kirche noch von den Vorstellungen dieser Kultur geprägt, weiß Kirchenführerin Irma Fernández:

"Hier sehen wir die heilige Familie: die Jungfrau, das Jesusbaby und den heiligen Joseph. Aber man sieht: die Jungfrau Maria ist wieder schwanger. Warum? Weil eine schwangere Frau für die Einheimischen ein Zeichen von Fruchtbarkeit war. Genauso wie die Mutter Erde, die Patchamama. So haben die Einheimischen ihre Götter in den christlichen Bildern und Statuen dargestellt. Das war ein Geheimnis. Die Katholiken haben das nie realisiert."

Auf solche Beispiele trifft man häufig in der Kathedrale von Cusco. So sitzen Jesus und seine Jünger auf einer Darstellung des letzten Abendmals nicht etwa vor Brot und Wein, sondern vor einem gegrillten Meerschweinchen - ein traditionelles Gericht. Das Gemälde stammt von dem Quechua-Künstler Marcos Zapata. In der Kunstgeschichte zählt man es zur sogenannten "Cusco-Schule", in der europäische Kirchenmalerei oft mit indigenen Vorstellungen kombiniert wurde. Die Kathedrale ist aber auch ein typisches Beispiel für die Strategie der europäischen Kirchenmänner, sagt Ethnologin Iris Gareis:

"Diese Missionare haben versucht, diesen Katholizismus zu verbreiten, indem sie an Kultstätten der vorkolonialen Religionen Kirchen, Kreuze und so weiter errichtet haben. Und diese Strategie hat zwar dazu beigetragen, dass recht schnell diese Kultstätten auch übernommen wurden, aber hat auch unter anderem dazu beigetragen, dass ein Synkretismus entstanden ist."

Die Kirchenführerin Irma Fernández ist selbst ein Beispiel für diesen Synkretismus. Sie ist zwar Katholikin, feiert aber auch Inti Raymi, das indigene Fest zur Wintersonnenwende. Jahrhundertelang war dieses Fest verboten. Seit 1944 wird es wieder mit Stolz gefeiert. In der Kathedrale bleibt die kleine Frau mit den langen schwarzen Haaren vor einer Darstellung der heiligen Familie stehen.

"Wenn man sich das Jesuskind ansieht: es hat langes Haar. Warum? Zur Zeit der Inka hatte der Hohepriester langes Haar. Die Menschen in der Regierung hatten kurze Haare oder gar keine Haare. Das heißt die Einheimischen hier aus den Anden haben das Jesuskind wie einen Hohepriester dargestellt."

Nicht nur in der Kunst wird Jesus mit vorkolonialen Gottheiten gleichgesetzt. Bis heute pilgern jährlich Tausende Peruaner zum Gletscher von Quoyllur Rity, wo schon zur Zeit der Inka eine Berggottheit verehrt wurde. Inzwischen hat die katholische Kirche dieses alte Ritual als Wallfahrt zum Herrn vom Schneestern vereinnahmt. Mit der Ankunft der Spanier hat sich für die Bevölkerung im heutigen Peru viel geändert. Eins jedoch ist gleich geblieben, sagt die Wissenschaftlerin Iris Gareis:

"Ja, in vorkolonialer Zeit war ja auch die Herrschaft religiös begründet. Der Inka war Sohn der Sonne, des Sonnengottes. Auch die Herrschaft der europäischen Könige damals war religiös begründet. Man war Herrscher von Gottes Gnaden. Also das hat sich wunderbar übertragen auf diese neu eroberten Gebiete, die kannten das ja schon. Sie hatten vorher einen Inka-Herrscher, der von Gott berufen war. Jetzt haben sie halt einen anderen Gott gehabt, aber man hat den Unterschied ja gar nicht so genau erst mal erkennen können. Und es war wieder eine religiöse Begründung dar, weshalb man von diesen Leuten regiert wird."