Meg Jay: "Die Macht der Kindheit. Wie negative Erfahrungen uns stärker machen"
Übersetzt von Anabelle Assaf und Hainer Kober
Hoffmann und Campe, Hamburg 2018
464 Seiten, 24 Euro
Trotz verkorkster Kinderjahre glücklich werden
Mobbing, Gewalt, Scheidung der Eltern: Einer Studie zufolge erleben zwei Drittel der Menschen eine unglückliche Kindheit – trotzdem können sie später glücklich werden. Über den Weg dorthin hat die Psychologin Meg Jay ein Buch geschrieben, das Mut machen soll.
Helen erlebte als Kind den Tod ihres Bruders und die Verzweiflung ihrer Eltern. Als ihr Vater starb, stützte sie die Mutter – und heuerte dann bei großen Hilfsorganisationen an, weltweit engagiert für soziale Gerechtigkeit.
In ihrem Buch "Die Macht der Kindheit" verdichtet die Psychologin Meg Jay ihre therapeutischen Erfahrungen mit auffallend widerstandsfähigen Klientinnen und Klienten zu packenden Fallgeschichten und Analysen. "Ganz gleich, was es war", schreibt die Autorin, "Helen ist sofort aktiv geworden. Stark und bestimmt, mitfühlend und tapfer." Doch dahinter gab es eine zweite Wahrheit. Niemand in Helens Umfeld ahnte davon: Sobald sie die Wohnungstür hinter sich schloss, fiel Helens Stärke wie ein Kartenhaus in sich zusammen. So kam sie dann auch in die Therapie: hilflos, erschöpft und allein.
Schwerer Start ins Leben
In ihrem Buch arbeitet Meg Jay die ganze Zwiespältigkeit des zeitweise in der Psychologie naiv gehypten Resilienzbegriffs heraus: Denn Helen ist kein Einzelfall. Laut Studien erleben zwei Drittel der Kinder in den USA und weltweit das, was man eine "schwere" oder gar "unglückliche" Kindheit nennt.
Sie haben mit gravierenden Problemen zu kämpfen, oft mit mehreren gleichzeitig: Tod eines Elternteils, Scheidung, körperliche, sexuelle oder emotionale Misshandlungen durch Eltern oder – ein massives und oft übersehenes Phänomen – durch Geschwister, psychisch kranke, drogenabhängige oder kriminelle Familienmitglieder. Andere Kinder leiden unter Mobbing in der Schule oder darunter, dass Brüder oder Schwestern, wegen einer Behinderung die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen und schließlich auch unter Armut, Hunger, mangelnder Hygiene und Gesundheitsversorgung.
Zahllose Kinder bekommen keine Hilfe
Kapitel um Kapitel arbeitet die Autorin diese Themen in einer anteilnehmenden und oft erstaunlich abwechslungsreichen Sprache durch, unterfüttert mit zahlreichen Studien und Zitaten aus der psychologischen Fachliteratur. Dabei kommt sie immer wieder auf ihr Grundanliegen zurück: Zahllose Menschen mussten in ihrer Kindheit solche Schwierigkeiten verarbeiten, ohne Hilfe zu erhalten und ohne später im Leben auszusteigen aus den Anforderungen eines normalen bürgerlichen Lebens: Familiengründung, Berufstätigkeit, Übernahme von Verantwortung für sich und andere. Meg Jay möchte ihnen eine Metageschichte geben, die der Komplexität ihrer Resilienzerfahrung Rechnung trägt.
Resilienz ist lebenslange Arbeit
In ihren wendungsreichen, individuellen Fallgeschichten – oft am Beispiel von Prominenten wie Viktor Frankl, Johnny Cash, Andy Warhol, Andre Agassi, Oprah Winfrey oder Jay Z – lässt die Autorin hautnah spüren: Resilienz ist keine endlos dehnbare "Gummiband-Persönlichkeit", sondern lebenslange harte Arbeit, die Kreativität erfordert, Beharrlichkeit, viel Mut und die Bereitschaft, immer wieder aufzustehen.
Das Buch soll starken Menschen auch eine Ermutigung sein, sich selbst vielleicht noch mehr Liebe und Anteilnahme zu schenken als bisher: Denn niemand, der als Kind geschlagen oder gedemütigt wurde, die Mutter in Depressionen versinken sah oder den Vater in Prügelorgien und Alkohol, kam ohne bleibende Verwundungen davon.