Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen: "Das rechte Recht. Die deutsche Justiz und ihre Auseinandersetzung mit alten und neuen Nazis"
Verlag Blessing, München 2021
592 Seiten, 26 Euro
Gerechtigkeit darf nicht vom Glück abhängen
07:15 Minuten
Wie geht die deutsche Justiz mit alten und neuen Nazis um? Die Anwälte Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen ziehen eine ernüchternde Bilanz. Erst in jüngster Vergangenheit sehen sie ein Umdenken.
Es gibt keine unpolitische Justiz, das stellen Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen gleich im Vorwort klar: "Die schlichte Wahrheit ist: Jede Justiz ist politisch und damit auch die Justiz in einer Demokratie."
Wie aber reagiert die Justiz auf rechtsextremistische Straftaten? Zur Beantwortung dieser Frage haben sich die beiden Autoren entsprechende Gerichtsprozesse mehrerer deutscher Epochen angeschaut.
Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen haben in ihrem Alltag sehr viel mit Recht zu tun, beide sind Rechtsanwälte. In zahlreichen Prozessen vor deutschen Gerichten haben sie Nebenkläger vertreten, die Opfer solcher Straftaten geworden sind. Daimagüler ist insbesondere als Nebenklagevertreter im NSU-Prozess bekannt geworden.
Ehemalige NS-Juristen in beiden deutschen Staaten
Es ist ein großer Bogen, der in diesem Buch geschlagen wird. Er reicht von den Verfahren gegen die Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht über die juristische Aufarbeitung, oder besser den Versuch der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten in der Nachkriegszeit, bis hin zu aktuellen Auseinandersetzungen um den neu erstarkenden Rechtsextremismus.
An mehr als 20 exemplarisch ausgewählten Prozessen wird beleuchtet, was Strafjustiz im Kampf gegen Rechtsextremismus erreichen kann und wo sie dabei dann aber doch an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen scheitert. Die ersten wichtigen Aufarbeitungsprozesse der Bundesrepublik wie der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und der Frankfurter Auschwitzprozess 1963 werden gewürdigt.
Aber auch die juristischen Verrenkungen, die in der frühen Bundesrepublik unternommen wurden, um die noch allgegenwärtigen früheren Nazi-Funktionäre vor allzu harschen Strafen zu bewahren, werden nicht ausgespart.
So enthielt beispielsweise das Deutsche Richtergesetz von 1961 einen Paragrafen, der es ermöglichte, dass Richter und Staatsanwälte, die in der Zeit zwischen 1939 und 1945 in der Strafjustiz tätig waren, auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetzt werden konnten – bei vollen Bezügen. Das Problem zahlreicher höchstbelasteter Juristen in der Strafrechtspflege konnte so möglichst geräuschlos gelöst werden.
"Das muss man sich einmal vorstellen: Männer, die unter Hitler hungernde Menschen wegen des Diebstals von einem Laib Brot auf das Schafott geschickt hatten, durften noch volle 13 Jahre in der jungen Bundesrepublik Recht sprechen, als Berater Recht schreiben und an der Ausbildung neuer Juristengenerationen mitwirken."
Auch der Umgang der DDR mit der deutschen Vergangenheit war nur wenig dem Interesse an echter Aufarbeitung gewidmet. Hier ging es eher um Propaganda und den Kampf gegen den "Klassenfeind" im Westen. Nach offizieller Lesart gab es in der DDR keine Nazis mehr.
"Tatsächlich aber konnten in beiden deutschen Staaten ehemalige Nazis schnell Fuß fassen und prägten den Umgang mit Nazi-Verbrechen in entscheidender Weise mit. Vor diesem Hintergrund fand in keinem der beiden Rechtsregime eine durchgreifende juristische Aufarbeitung statt."
Ein Umdenken erst seit dem NSU-Prozess
Diese fehlende juristische Aufarbeitung ist möglicherweise eine der Ursachen für das schnelle Wiedererstarken des Rechtsradikalismus nach der Wiedervereinigung 1990. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit wurden allerdings auch durch eine entsprechende Rhetorik im Zusammenhang mit der damaligen Entkernung des Grundrechts auf Asyl bei der Änderung des Artikel 16 Grundgesetz befördert. Auch die Justiz, stellen Daimagüler und von Münchhausen klar, habe bei der Aufklärung der Brandanschläge von Rostock, Mölln, Solingen und Lübeck teilweise kein gutes Bild abgegeben.
In den jüngsten Jahren, auch nach den Erfahrungen mit dem NSU-Prozess, habe ein Umdenken in der Justiz begonnen, so lautet das letztendlich doch positive Resümee. Dennoch würden immer noch viele Verfahren zu rechtsextrem motivierten Straftaten von den Staatsanwaltschaften eingestellt – und wenn es doch zu Prozessen kommt, würden Opfervertreter als lästig empfunden. "Aber es sollte nicht von einer zufälligen Größe wie dem Glück abhängen, ob man vor der Justiz Gerechtigkeit findet. Es sollte selbstverständlich sein."