Mehr als Anthroposophie

Die vielen Welten des Rudolf Steiner

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Porträtaufnahme von Rudolf Steiner (1916)
Nicht nur Begründer der Anthroposophie, sondern Universalgelehrter: Rudolf Steiner. © picture alliance / dpa / akg
Ein Kommentar von Philip Kovce |
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Die einen verteufeln ihn, nicht nur wegen seiner Rassenlehre. Die anderen vergöttern ihn: Rudolf Steiner. Er begründete die Anthroposophie. Doch wer ihn darauf reduziert, der wird dem einflussreichen Universalgelehrten nicht gerecht.
Wer Anthroposophie sagt, der denkt an Rudolf Steiner, und wer Rudolf Steiner sagt, der denkt an Anthroposophie. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Ohne Rudolf Steiners Leben und Werk gäbe es beispielsweise keine Waldorfpädagogik und damit keinen Anlass, dieses Jahr den 100. Geburtstag der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart zu feiern.
Und es gäbe auch all die anderen anthroposophischen Jubiläen nicht, die demnächst anstehen: Bis 2025, Steiners 100. Todesjahr, werden noch die von ihm inspirierte anthroposophische Medizin, die freikirchliche Christengemeinschaft sowie die biologisch-dynamische Landwirtschaft 100 Jahre alt.

Nicht verachten oder verehren, sondern verstehen

Doch so sehr sich Rudolf Steiner auch für all diese Initiativen einsetzte, und so oft sich diese Initiativen auch heute noch auf Steiner berufen, so dringend tut es not, sie nicht länger aufeinander zu reduzieren. Denn Steiner war beileibe nicht nur Anthroposoph, und Anthroposophie ist alles andere als bloßer Steiner-Kult.
Wenn Rudolf Steiners Lebenswerk im Grunde genommen sein Lebensgang ist, dann lässt sich die philosophisch-theosophisch-anthroposophische Wandlung Steiners vom Goethe-Herausgeber zum Goetheanum-Gastgeber, vom Freiheitsphilosophen zum Sozialreformer nicht allein unter den Begriff "Anthroposophie" subsummieren. Wer den laut Peter Sloterdijk "größten mündlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts" nicht verachten oder verehren, sondern vielmehr verstehen will, der muss diese biografische Dreigliederung wirklich ernst nehmen.

Anthroposophie beginnt und endet nicht mit Steiner

Ebenso gilt es zu berücksichtigen, dass Anthroposophie keineswegs mit Steiner beginnt oder endet. In der Form, in der Steiner an sie anknüpft, ist sie ein Erbe der Weimarer Klassik und des Deutschen Idealismus, was bereits vor Steiner beispielsweise von dem Johann-Gottlieb-Fichte-Sohn Immanuel Hermann Fichte angenommen wird. Ihm geht es, ähnlich wie Steiner, im Kern darum, Welterkenntnis und Selbsterkenntnis als zwei Seiten einer Medaille zu begreifen, die jeder Einzelne als freier Geist nur je individuell erringen kann.
Zwei herausragende Beispiele, die die Selbstständigkeit sowohl Steiners als auch der Anthroposophie unterstreichen, lieferten in jüngster Zeit die Philosophen Christian Clement und Eckart Förster. Clement gibt eine inzwischen auf 12 Bände angelegte "Kritische Ausgabe" der Schriften Rudolf Steiners heraus und würdigt dabei eindrucksvoll sowohl Wandlungen als auch Kontinuitäten innerhalb von Steiners intellektueller Biografie.
Eckart Förster hat in seiner vielbeachteten Studie "Die 25 Jahre der Philosophie" detailliert aufgezeigt, dass der Deutsche Idealismus völlig unabhängig von Steiner darauf hinausläuft, sich zu einer empirischen Geisteswissenschaft im anthroposophischen Sinne zu entwickeln.

Rudolf Steiner als Persönlichkeit der Geistesgeschichte

Dass Rudolf Steiner und die Anthroposophie dennoch immer wieder in einen Topf geworfen werden, liegt an der unfreiwilligen Allianz von Steiner-Jüngern und Steiner-Gegnern, die ihn wahlweise als einzig wahren Anthroposophen vergöttern oder verteufeln. Sie unterstellen einfach den Sinn oder Unsinn von Waldorf, Weleda und Co., ohne sich für die Ansichten der anderen auch nur zu interessieren.
Dieser Glaubenskrieg, der von niemandem zu gewinnen ist, lenkt davon ab, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner als Persönlichkeit der Geistesgeschichte sowie mit der Anthroposophie als Kulturfaktor der Gegenwart längst an der Zeit ist. Wer diese kritische Auseinandersetzung verweigert, der verweigert sich der anthroposophischen Aufklärung.

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht am Basler Philosophicum sowie an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Er gehört dem Thinktank 30 des "Club of Rome" sowie dem Forschungsnetzwerk Neopolis an und gab jüngst gemeinsam mit Birger P. Priddat im Suhrkamp Verlag den Sammelband "Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte" heraus.

Philip Kovce - 1986 in Göttingen geboren, lebt als freier Autor in Berlin. Er ist Mitbegründer des Basler Philosophicums, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome. Veröffentlichungen (Auswahl): Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag); An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen (hrsg., AQUINarte Kunst- und Literaturpresse); Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität (hrsg. mit Birger P. Priddat, Metropolis Verlag).
© Ralph Boes
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