Mehr als ein Fotograf der Nacht

Von Marc-Christoph Wagner |
Mit den Bildern aus dem Pariser Nachtleben der dreißiger Jahre wurde der aus Ungarn stammende Fotograf Brassai berühmt. Sie lohnen noch heute einen Besuch der Kopenhagener Ausstellung im Louisiana-Museum. Es ist die erste Brassai-Schau in Skandinavien, die neben Fotografien auch Zeichnungen und Skulpturen zeigt.
Es ist diese Stimmung, die man aus den Bildern Brassais kennt – lebenslustig, verraucht, verrufen. Die Flirtenden in den Cafés. Die jungen Herren in feinen Anzügen und mit viel Pomade im Haar. Junge Frauen – oder sind es Prostituierte? – vor halbleeren Gläsern und glühender Zigarette in der Hand. Es ist das Paris der dreißiger Jahre, das den aus Ungarn stammenden Brassai faszinierte. Er verewigte es in seinen Bildern. Es schenkte ihm dafür Berühmtheit.

" Was Brassais Arbeiten interessant macht, ist, dass er die Fotografie als ein Medium, als eine Technik benutzt. Die Fotografie ist seiner Ästhetik stets unterworfen, sie allein ist für ihn nichts – und diese Tatsache macht ihn für mich zu einem Künstler. Hinzu kommt, dass all seine Motive zu Ikonen werden, dass sie bestimmte Typen, bestimmte universelle Charaktere repräsentieren sollten."

Allain Sayag verwaltet den Nachlass Brassais und war der Mann hinter der großen Brassai-Ausstellung am Pariser Centre Pompidou vor fünf Jahren. Jetzt hat er die Schau am Kopenhagener Louisiana-Museum für Moderne Kunst künstlerisch beraten. Zusammen mit Kuratorin Helle Crenzien hat er versucht, dem Publikum den Gesamtkünstler Brassai zu präsentieren. Neben Fotografien werden seine Zeichnungen, Skulpturen, Akt- und Graffitistudien gezeigt.

Helle Crenzien: " Er war eine zentrale Gestalt im Pariser Kunstmilieu der dreißiger Jahre. Kaum eine der Persönlichkeiten, die wir heute so bewundern, die nicht Umgang mit ihm pflegte. Ich denke, Brassai war eine sehr anregende Persönlichkeit, mit der man intensive Gespräche führen konnte. Mit Picasso etwa verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Aber auch Giacometti, Sartre, ja einem breiten Spektrum an Philosophen, Musikern, Komponisten, Bildhauern stand er nahe."

Tatsächlich eröffnet die Kopenhagener Ausstellung neue Perspektiven auf das Werk Brassais. Da sind zum einen seine architektonischen Studien, die auch bekannte Orte der französischen Hauptstadt in scharfkonturierendem Tageslicht erscheinen lassen. Da sind zum anderen Brassais soziale Studien, die die Schattenseiten der Großstadt darstellen. Manche Bilder gar – etwa die Serie über die Schlafenden oder diejenige, die den Tod eines Mannes und die Reaktion der Passanten festhält – lassen Brassais dokumentarisches Talent erahnen, das dieser selbst stets zurückwies, von dem er sich zumindest distanzierte. Denn die meisten seiner Bilder, die auf den Zuschauer einen solch spontanen Eindruck machen, sind minutiöse Inszenierungen.

Kuratorin Helle Crenzien: Er ist seiner Zeit voraus. Die inszenierte Fotografie, die wir heute von Cindy Sherman und anderen kennen, fängt mit ihm an. Schon seine Technik erlaubte ihm nicht, mal eben einen Schnappschuss zu machen – er musste sein Stativ aufstellen, die Platten präparieren, ein einzelnes Foto konnte so 20 bis 30 Minuten dauern. Das Motiv hat er sicherlich im Vorbeigehen gesehen – dadurch die augenscheinliche Spontaneität. Die Beteiligten aber musste er dann oft zur Nachstellung überreden."

Und doch sind es die altbekannten Motive aus dem Pariser Nachtleben, von denen eine besondere Intensität ausgeht und die den Besuch der Kopenhagener Ausstellung lohnen. Brassai, der Fotograf der Nacht, ist eine Art Kontrapunkt zu dem hier im Herbst ausgestellten Matisse, dem Künstler der farbenreichen Klar- und Einfachheit. Andererseits, so Museumsleiter Poul Erik Tøjner, ist auch Brassais Dunkelheit von Fantasie und Klarheit durchzogen:

" Die Dunkelheit im Süden schafft Platz für ein anderes Licht als das Tageslicht. Das gilt nicht für das Land, aber es gilt für die Großstadt und die Kultur der Großstadt, die Brassai am Beispiel Paris ja so berühmt gemacht hat. Ohne Dunkelheit kann man das Licht der Nacht nicht hervorlocken, das von den Straßenlaternen, Neonlichtern und Varietés kommt – dieser Tag, der inmitten der Nacht plötzlich erwacht."

"Die Nacht deutet an, sie zeigt nichts. Sie ängstigt und überrascht uns mit ihrer Fremdheit. Sie setzt Kräfte in uns frei, die am Tage von der Vernunft gebändigt werden". Diese Sätze sind von Brassai überliefert. Und genau diesem Etwas ist, so Louisiana-Direktor Tøjner, die Kopenhagener Ausstellung auf der Spur:

" Es ist ein europäischer Begriff der Nacht, den zum Beispiel ein Künstler wie Goya am vornehmsten repräsentiert – wenn die Vernunft schläft, kommen die Dämonen hervor. Das heißt, diese Bilder sind von dem Gefühl beherrscht, dass die Nacht etwas anderes hervorbringt. Und dieses Andere ist ein wichtiger Teil der menschlichen Existenz. Wenn der Mensch schläft, ist nicht irgendein Stecker herausgezogen. Irgendetwas passiert – und genau nach diesem Etwas ist Brassai auf der Jagd.

Und doch ist dieses Etwas im Besonderen mit Paris verbunden. Lukrative Angebote, auch die Nacht in New York, London oder einer anderen Großstadt der Welt zu Fotografieren, hatte Brassai genügend. Bis zum Schluss aber schlug er diese stets aus. Kopenhagen zeigt Brassai als einen wahren Nostalgiker.

Service:

Die Ausstellung "Brassai - der Fotograf der Nacht" ist bis 19. März 2006 im Kopenhagener Louisiana-Museum für Moderne Kunst für Moderne Kunst zu sehen.