Mehr als ein nostalgisches Relikt

Von Michael Opitz |
Die Literaturgeschichte kennt sie zuhauf: Schriftstellerzirkel wie den Göttinger Hainbund oder den George-Kreis. Sie schätze vor allem das poetische Gespräch mit anderen Autoren, sagte die Schriftstellerin Ulrike Draesner im Deutschlandradio Kultur. Sie nimmt an dem Dichtertreff "Tunnel über der Spree" im Literarischen Colloqium Berlin teil.
Dass Dichtung im Elfenbeinturm entsteht, wo der Poet zurückgezogen vom Trubel der Zeit und in sich versunken gebeugten Hauptes über einem Blatt Papier sitzt und nach Sätzen sucht, die es verdienen, aufgeschrieben zu werden - klingt gut.

Das Bild taugt allerdings schon seit Flauberts bissiger Bemerkung nicht mehr, er habe "immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben, aber es brandet eine solche Flut von Scheiße gegen seine Mauern, dass er einzustürzen droht."

Auch wenn die Literatur aus ihrer unmittelbaren Gegenwart fliehen wollte und den Kontakt mit längst vergangenen Zeiten herstellt, die Zeit, in der sie entsteht, wird sie nicht los. Dichtung, so Durs Grünbein, entsteht zwar im Abseits, aber dennoch mittendrin.

Allerdings haben Dichter zu ganz verschiedenen Zeiten stets auch einen gewissen Überdruss an ihrem Dasein im Abseits gespürt und sich gelegentlich mit Gleichgesinnten zu geselligen Dichterzirkeln zusammengeschlossen. Sie haben Dichterbünde ins Leben gerufen, um in einem Forum darüber debattieren zu können, wie denn eine der Zeit gemäße Dichtung auszusehen hat. Von welchen Themen sie handeln müsse, worüber sie tunlichst schweigen solle, was es zu preisen gelte und ob sie – und wenn ja wie – auch Kritik formulieren und Anklage erheben dürfe.

Es scheint dem Mythos vom Schriftsteller, der die Einsamkeit liebt und nur seiner eigenen Poetik verpflichtet ist, zu widersprechen, denn Dichterkreise und Dichterbünde sind in der deutschen Literatur keine Seltenheit.

Als sich Ende des 18. Jahrhunderts junge Göttinger Studenten zum Göttinger Hainbund zusammenschlossen, verpflichteten sie sich mit einem Eid, ihr Leben zukünftig in den Dienst der Tugend zu stellen und dem Vaterland und der Freiheit zu dienen. Neben diesen hehren Absichtserklärungen waren die Hainbündler im Bereich der Literatur ganz dem Schaffen von Friedrich Gottlieb Kloppstock verpflichtet und verachteten heftig den in ihren Augen höfisch-galanten Schriftsteller Christoph Martin Wieland.

Für die Gründung von Dichtervereinen und Schriftstellerzirkeln war und ist stets auch ein gewisses Ungenügen an der zeitgenössischen Literatur ausschlaggebend. Aus der Unzufriedenheit über den Zustand der existierenden Literatur resultierte der Wunsch nach literarischer Erneuerung.

So wollte sich der 1827 gegründete Literarische Sonntagsverein Tunnel über der Spree, dem Theodor Fontane angehörte, zunächst aus allen politischen und religiösen Beziehungen heraushalten. Und der berühmte George-Kreis fühlte sich ausschließlich der "reinen Kunst" verpflichtet und schwor dem herrschenden Literaturbetrieb mit tiefer Verachtung ab.

Während es nicht an Versuchen fehlte, die Dichtung von jedem Dienst und jeder Indienstnahme zu befreien, gab es aber immer auch wieder Gruppierungen, die es als eine notwendige Aufgabe der Literatur ansahen, sich politisch einzumischen und Position zu beziehen.

Allerdings sind Absichtserklärungen das eine und ein Bekenntnis, engagierte Literatur zu schreiben, wie es die Gruppe 47 artikulierte, konnte dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine Gruppe handelte, die keine Gruppe war.

Das Gespräch zum Thema mit der Schriftstellerin Ulrike Draesner, die an dem Dichtertreffen "Tunnel über der Spree" im LCB beteiligt ist, können Sie bis zu acht Wochen nach der Sendung in unserem Audio-On-Player hören.

Service:

Der "Tunnel über der Spree" wird wieder belebt. Im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) geben am 16. Dezember 2005 Einblick in ihre Werkstatt: Marcel Beyer, Nico Bleutge, Ulrike Draesner, Elke Erb, Daniel Falb, Matthias Göritz, Hendrik Jackson, Monika Rinck, Hendrik Rost, Kathrin Schmidt, Volker Sielaff, Ulf Stolterfoht, Raphael Urweider, Anja Utler und Jan Wagner.