Mehr als ein reines Sehorgan
Im Altertum glaubte man, ein Sehstrahl würde aus den Augen dringen und die Welt abtasten. Erst im Mittelalter wurden Aufbau und Funktion des Auges entdeckt. Doch das Auge ist mehr als ein reines Sehorgan, erklärt der Schriftsteller Simon Ings in seinem Buch "Das Auge". Denn Sehen und Fühlen sind eng miteinander verbunden.
Wir schmelzen unter dem Auge eines anderen dahin, durchbohren, vernichten und töten mit Blicken, wir blicken tief in die Seele eines Menschen, sehen mit dem inneren oder gar mit dem dritten Auge. Reich an Bildern und Metaphern rund um das Auge ist unsere Sprache - und das zeigt es schon: Hinter dem Sehen des Menschen steckt weit mehr als ein simples, bildgebendes Verfahren.
Sehen und Fühlen sind eng miteinander verknüpft, erklärt Simon Ings in seinem neuen, 400 Seiten dicken Buch "Das Auge". Sehen ist ein innerer Prozess, eine Art und Weise, sich die Welt anzueignen - es lässt sich von kulturellen Prägungen nicht trennen. Der altgriechische Roman Äthiopica hat 60.000 Worte - nicht einmal fällt das Wort rot, grün oder blau. Ganze Kulturen interessieren sich nicht für Farben. Völker in Polynesien kennen zahllose Schattierungen von braun - aber wenn man den Menschen einen blauen Holzklotz gibt, sind sie fünf Minuten später nicht in der Lage, ihn aus andersfarbigen Holzklötzen wieder heraus zu fischen. In einem anderen Experiment, hier im Westen, so erzählt der Autor, wurden Testpersonen dazu aufgefordert, die Ausstrahlung eines Fußballspiels zu beobachten. Dabei sollten sie mitzählen, wie oft die beiden Mannschaften einander den Ball abjagten. Sie zählten hervorragend mit - was sie nicht sahen, war ein riesiger Gorilla, der die ganze Zeit mitten auf dem Spielfeld auf und ab spazierte. Was lässt sich daraus schließen? Wir sehen keineswegs "die" Welt, sagt Simon Ings, wir sehen, was wir erwarten, hoffen, fürchten zu sehen.
Eine "Promenadenmischung" nennt Simon Ings sein neues Buch über das Auge - das trifft es gut. Von einer Lehrbuch-Gliederung weit entfernt folgt er beim Schreiben seinen persönlichen Leidenschaften, seinen eigenen Fragen und Assoziationen rund ums Auge. Die Kapitelüberschriften versprechen, es werde von der "Chemie des Sehens" die Rede sein, von "Theorien des Sehens", von "Sichtbaren und unsichtbaren Farben", vom "Sehen und Denken". Doch immer wieder lockert der Autor sein Programm auf, lässt seinen Schreibstrom von Wissenschaft zu Seltsamkeiten mäandern, von wenig bekannten biografischen Details berühmter Forscher zu philosophischen und persönlichen Reflexionen. Wie nebenbei lernen wir dabei etwas über Evolution, Chemie, Optik, Farbenlehre, Psychologie, Anthropologie und Bewusstsein. Riesenkalmare, Insekten, Quallen, Vögel und verrückte Schriftstellerinnen ziehen an uns vorüber. Und sollte das den Leser noch nicht genug involvieren, locken Vorschläge für Selbstexperimente, bei denen man mit dem Kuli hinterm Buchrücken hin und her wedeln muss oder eine Grafik im Buch anschielen, bis sich ein 3D-Effekt ergibt.
Simon Ings Sprache ist ein Genuss, poetisch, kraftvoll, assoziativ, sensibel. Schon im ersten Kapitel spürt man den Romanautor, wenn der Autor von seiner Tochter Natalie erzählt, der sein Buch auch gewidmet ist. Mit einer Augenhöhle mitten auf der Stirn begann ihr Leben, erzählt Ings. Diese Höhle entwickelte sich bereits eine Woche nach der Empfängnis eines Kindes. Der Embryo wächst mit zusammen gewachsenen Augenlidern heran, entwickelt Pupille und Netzhaut, blinzelt das erste Mal. Wie nebenbei - und auf anspruchsvoll populärwissenschaftlichem Niveau - lernen wir am Beispiel Natalies Anatomie, Genetik, Entwicklungsphysiologie des Auges. Bei ihrer Geburt hatte die Tochter himmelblaue, noch nicht eingefärbte Augen und sah eine verschwommene, in geometrische Formen aufgelöste Welt. Sollte ich einmal alt werden, sagt Ings - was wenig wahrscheinlich sei, da alle in seiner Familie früh starben - werde er dort wieder anlangen und mit den ausgeblichen, müde gewordenen Augen des alten Mannes auf seine verschwommene Tochter blicken. Das ist ergreifend zu lesen und hervorragend ins Deutsche übertragen von Übersetzer Hainer Kober.
Rezensiert von Susanne Billig
Simon Ings: Das Auge. Meisterstück der Evolution
Übersetzt von Hainer Kober
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
398 Seiten, 23 Euro
Sehen und Fühlen sind eng miteinander verknüpft, erklärt Simon Ings in seinem neuen, 400 Seiten dicken Buch "Das Auge". Sehen ist ein innerer Prozess, eine Art und Weise, sich die Welt anzueignen - es lässt sich von kulturellen Prägungen nicht trennen. Der altgriechische Roman Äthiopica hat 60.000 Worte - nicht einmal fällt das Wort rot, grün oder blau. Ganze Kulturen interessieren sich nicht für Farben. Völker in Polynesien kennen zahllose Schattierungen von braun - aber wenn man den Menschen einen blauen Holzklotz gibt, sind sie fünf Minuten später nicht in der Lage, ihn aus andersfarbigen Holzklötzen wieder heraus zu fischen. In einem anderen Experiment, hier im Westen, so erzählt der Autor, wurden Testpersonen dazu aufgefordert, die Ausstrahlung eines Fußballspiels zu beobachten. Dabei sollten sie mitzählen, wie oft die beiden Mannschaften einander den Ball abjagten. Sie zählten hervorragend mit - was sie nicht sahen, war ein riesiger Gorilla, der die ganze Zeit mitten auf dem Spielfeld auf und ab spazierte. Was lässt sich daraus schließen? Wir sehen keineswegs "die" Welt, sagt Simon Ings, wir sehen, was wir erwarten, hoffen, fürchten zu sehen.
Eine "Promenadenmischung" nennt Simon Ings sein neues Buch über das Auge - das trifft es gut. Von einer Lehrbuch-Gliederung weit entfernt folgt er beim Schreiben seinen persönlichen Leidenschaften, seinen eigenen Fragen und Assoziationen rund ums Auge. Die Kapitelüberschriften versprechen, es werde von der "Chemie des Sehens" die Rede sein, von "Theorien des Sehens", von "Sichtbaren und unsichtbaren Farben", vom "Sehen und Denken". Doch immer wieder lockert der Autor sein Programm auf, lässt seinen Schreibstrom von Wissenschaft zu Seltsamkeiten mäandern, von wenig bekannten biografischen Details berühmter Forscher zu philosophischen und persönlichen Reflexionen. Wie nebenbei lernen wir dabei etwas über Evolution, Chemie, Optik, Farbenlehre, Psychologie, Anthropologie und Bewusstsein. Riesenkalmare, Insekten, Quallen, Vögel und verrückte Schriftstellerinnen ziehen an uns vorüber. Und sollte das den Leser noch nicht genug involvieren, locken Vorschläge für Selbstexperimente, bei denen man mit dem Kuli hinterm Buchrücken hin und her wedeln muss oder eine Grafik im Buch anschielen, bis sich ein 3D-Effekt ergibt.
Simon Ings Sprache ist ein Genuss, poetisch, kraftvoll, assoziativ, sensibel. Schon im ersten Kapitel spürt man den Romanautor, wenn der Autor von seiner Tochter Natalie erzählt, der sein Buch auch gewidmet ist. Mit einer Augenhöhle mitten auf der Stirn begann ihr Leben, erzählt Ings. Diese Höhle entwickelte sich bereits eine Woche nach der Empfängnis eines Kindes. Der Embryo wächst mit zusammen gewachsenen Augenlidern heran, entwickelt Pupille und Netzhaut, blinzelt das erste Mal. Wie nebenbei - und auf anspruchsvoll populärwissenschaftlichem Niveau - lernen wir am Beispiel Natalies Anatomie, Genetik, Entwicklungsphysiologie des Auges. Bei ihrer Geburt hatte die Tochter himmelblaue, noch nicht eingefärbte Augen und sah eine verschwommene, in geometrische Formen aufgelöste Welt. Sollte ich einmal alt werden, sagt Ings - was wenig wahrscheinlich sei, da alle in seiner Familie früh starben - werde er dort wieder anlangen und mit den ausgeblichen, müde gewordenen Augen des alten Mannes auf seine verschwommene Tochter blicken. Das ist ergreifend zu lesen und hervorragend ins Deutsche übertragen von Übersetzer Hainer Kober.
Rezensiert von Susanne Billig
Simon Ings: Das Auge. Meisterstück der Evolution
Übersetzt von Hainer Kober
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
398 Seiten, 23 Euro