Mehr als nur eine One-Woman-Show

Von Michael Laages |
Stefan Pucher hat sich bei der Inszenierung von "Struwwelpeter" in Wien nicht damit zufriedengegeben, die Sängerin Birgit Minichmayr zu bebildern. Er bringt vielmehr die dunkle Pädagogik des Kinderbuchs von Heinrich Hoffmann auf die Bühne des Burgtheaters.
Die Geschichten vom "Struwwelpeter" gelten als Bibel der "schwarzen" Pädagogik, Erziehung zieht in den Heinrich Hoffmanns Fantasien fast immer mörderisch zu Felde – und doch ist die Sammlung bis heute das deutsche Kinderbuch überhaupt.

Mitte der 90er-Jahre stellte die britische Kultband "Tiger Lillies" die Geschichten vom Hans-guck-in-die-Luft, vom Suppenkaspar und vom fliegenden Robert als Song-Sammlung vor; daraus kreierten Phelim McDermott und Julian Crouch den "Shockheaded Peter", einen Dauerbrenner zur Jahrtausendwende im deutschsprachigen Theater. Eine neue Fassung findet sich nun im Premierenreigen am Wiener Burgtheater zu Beginn der Intendanz von Matthias Hartmann.

Zum Glück ist keine One-Woman-Show daraus geworden; das stand ja zu befürchten nach den Jubelposaunen, die der Intendant "seinem" Superstar Birgit Minichmayr vorausgeschickt hatte. Seit die singende Schauspielerin im Frühjahr mit "Berlinale"-Filmbären ausgestattet wurde, gilt sie ja als neue Ikone der Szene, und ihre immerhin auch schon fast zehn Theaterjahre zuvor, an der Ostberliner Volksbühne etwa oder eben in Wien an der "Burg", zählen kaum noch. Dabei blieb sie, was sie war – noch immer eine äußerst vielseitige, zum Schrillen und Grenzgängerischen neigende junge Schauspielerin, nicht weniger, aber auch nicht viel mehr. Dass sie nun auch singt, hat auch daran nichts geändert.

Mit ihr und den "Struwwelpeter"-Songs allein wäre, das ist zu ahnen, kein Ereignis möglich gewesen – Lieven Brunckhorsts Band hat der Musik all den schrägen Zirkuscharme ausgetrieben, der ehedem mit den "Tiger Lillies" die Bühne schier überwuchert hatte und eine "Story" im engeren Sinne fast vergessen ließ. Ohne diesen Sound allerdings sind nur eine Handvoll musikalisch mäßig aufregender Liedchen übrig geblieben, und Birgit Minichmayr fügt die leicht raunende, leicht säuselnde Jungmädchenstimme dazu; ein bisschen klingt das nach - pardon! - junger Nena. Aber dabei bleibt es halt nicht in Wien – und darum kann sich die Produktion dann doch sehen lassen; während der Hörreiz schnell schwindet.

Der Regisseur Stefan Pucher hat sich nämlich vernünftigerweise nicht damit zufriedengegeben, die Sängerin Minichmayr zu bebildern; das hat er der Kostümbildnerin Marysol del Castillo überlassen, die der Protagonistin für jeden Song ein neues, schickes Outfit anmessen durfte. Pucher und die deutschen Texte von Andreas Marber sorgen sich darüber hinaus um das soziale Umfeld der finstren Familiengeschichten im "Struwwelpeter" - die Vorbühne dient überwiegend Minichmayrs Show, aber auf der Rückwand, die sich zuweilen zum Minizimmer öffnet, in der nur ein Familiensofa Platz hat, flimmern Ausschnitte von vielen Filmen, in denen das ungeklärte Verhältnis von Kindern und Eltern thematisiert wird; etwa in Andy Warhols "Flesh" aus den frühen 70er-Jahren. Auch die lieblich-bedrohliche Filmmusik von Krysztof Komeda zu Roman Polanskis Gruselklassiker um "Rosemaries Baby" haben Pucher und die Band entliehen. Links am Bühnenrand ein Familiensonntagsmittagstisch, rechts ein Bett – und dazwischen ein beispielhaft fürchterliches Vater-und-Mutter-Paar - Petra Morzé und Michael Masula -, schließlich der aus der Mitarbeit im Hamburger "Studio Braun" vertraute Musikclown Jacques Palminger als Geschichtenerzähler, Conférencier, Jägersmann und "Großer Nikolas", der "Die bösen Buben" hier nicht nur ins Tintenfass tunkt, sondern ihnen wie alten Puppen die Köpfe am Schlagzeugbecken zerhaut.

Pucher zeigt ein Schlachtengemälde der Generationen. Und wenn im Schlussbild Birgit Minichmayr die Fabel vom "Fliegenden Robert" haucht, ist das vor allem ein Traumgespinst von Flucht aus diesem ewigen Panoptikum des Familienschreckens.

Fünf Kinder sind dabei, sehr ordentlich in Schuluniformen gesteckt, und sie sprechen zuweilen altklug die Texte der Erwachsenen, die mit ihnen nichts anfangen können; sie kübeln eimerweise Totenackererde aus der Tiefe der Bühne und bauen den Eltern ein Grab mit ganz viel Blumen drauf. Ohne Bilder wie dieses wäre ein Abend nur für und mit der sicher auch eindrucksvollen Birgit Minichmayr nicht einmal die Hälfte wert gewesen – eben nichts als eine One-Woman-Show.