Mehr als nur Sex

Catherine Nichols im Gespräch mit Liane von Lillerbeck |
Leidenschaft habe eine sehr komplexe und reiche Geschichte, sagt Catherine Nichols, Kuratorin der am Samstag in Dresden beginnenden Ausstellung "Leidenschaften - ein Drama in fünf Akten". Natürlich sei das Thema Sex naheliegend, aber auch Hobbys oder starke Emotionen wie Neid oder Zorn würden in der Ausstellung behandelt.
Liane von Billerbeck: Leidenschaften - geben Sie es zu, Sie haben jetzt auch zuerst an Sex gedacht, oder nicht? Oder doch an all die anderen Leidenschaften, die einen so übermannen können? Leidenschaften für Bilder, für Käfer, fürs Gärtnern oder die Modelleisenbahnen - was dabei rauskommt, wenn ausgerechnet das Deutsche Hygiene-Museum eine Ausstellung macht, die "Leidenschaften" heißt, das wollen wir jetzt erfahren von Cathrine Nichols, sie hat die Ausstellung kuratiert, und mit ihr haben wir vor unserer Sendung gesprochen. Frau Nichols, ich grüße Sie!

Cathrine Nichols: Guten Tag!

von Billerbeck: Leidenschaften als vehemente Gefühle, da dachten wir zuerst, dass man ja darunter auch alles mögliche Andere verstehen kann - Passionen also für Gartenzwerge oder Nachtfalter oder von mir aus auch Sadomaso-Sex. Was für Leidenschaften hatten Sie im Blick?

Nichols: Ich muss ja zugeben, dass ich zuallererst auch an Sex gedacht habe. Und als ich mich umgehört habe, als ich angefangen habe, diese Ausstellung zu recherchieren und zu planen, dann kam das auch bei ganz, ganz vielen Menschen raus, dass sie an solche Dinge dachten: ich bin leidenschaftliche Gärtnerin, ich stricke leidenschaftlich gern - also ganz viel mit Hobbys und so weiter. Sobald man allerdings da so ein bisschen tiefer in die Geschichte eingeht, dann merkt man relativ schnell, dass die Leidenschaft eine ganz komplexe und eine ganz reiche Geschichte haben. Und zwar geht es den meisten Philosophen um eben diese Gefühle, die sie heutzutage eher als Basisemotionen oder Grundemotionen oder Affekte bezeichnen, und zwar Gefühle wie Angst und Zorn, diese ganz heftigen Gefühle, die wir alle kennen, Scham und Freude, Euphorie, Begierde, solche Gefühle.

von Billerbeck: Nun sagt man ja, man sei von Liebe übermannt oder vom Neid zerfressen. Also wir sprechen von positiven wie negativen, wenn auch irrationalen Gefühlen. Wie aber stellt man so was in einer Ausstellung dar?

Nichols: Das haben wir da insbesondere in dem Höhepunkt thematisiert, und zwar das ist da ...

von Billerbeck: Dem Orgasmus?

Nichols: Tatsächlich, und zwar haben wir da einen wunderbaren Film gefunden - das ist natürlich wirklich so der Höhepunkt der Freude, und auch der Ausstellung vielleicht -, und zwar diesen berühmten, aber nicht so wahnsinnig bekannten in unserer Zeit gewesen, Film von Gustav Machatý, "Symphonie der Liebe", oder auch als "Ekstase" bekannt, mit der wunderbaren Schauspielerin Hedy Lamarr. Und in den 30er-Jahren hat man diesen Film gesehen, Anfang der 30er, und es hat Furore gemacht natürlich, weil da hat man nicht nur einen Orgasmus gesehen, sondern auch einen weiblichen Orgasmus, und eben diesen Ausschnitt zeigen wir in unserer Ausstellung.

von Billerbeck: Auch im Märchen tauchen ja solche Gefühle auf. Ich erinnerte mich gestern bei der Vorbereitung sofort an die böse Königin im Schneewittchen, im Grimmmärchen, die ja mit den Worten charakterisiert wird, als Schneewittchen in den Apfel gebissen hat und scheinbar tot ist, dann steht da: "Und endlich hatte ihr neidisches Herz Ruhe, wie ein neidisches Herz Ruhe haben kann." Haben Sie auch solche märchenhaften und doch sehr irdischen Leidenschaften in der Ausstellung?

Nichols: Haben wir, und tatsächlich haben wir die Königin aus Schneewittchen. Und da haben wir das auch als Film tatsächlich, und da können die Besucher dort eben diese Szene sehen, wo die da den Jäger in den Wald schickt auf der Suche nach Schneewittchen, also ganz böse. Da sieht man auf jeden Fall diese Momente, wo die Leidenschaften ihre ganz, ganz bösen Seiten zeigen. Und Neid ist wirklich - man kann bei vielen Emotionen, bei vielen diesen Affekten sagen dass die wirklich so positive Seiten und negative Seiten haben, aber Neid ist wirklich etwas, was durch die Bank weg ziemlich schlecht abschneidet.

von Billerbeck: Gerade in Mitteleuropa gelten die Menschen ja doch als eher kühl, nicht so leidenschaftlich. Weshalb dachten Sie, die Leidenschaft ist gerade jetzt für uns ein Thema.

Nichols: Um ehrlich zu sein, denke ich, dass die Leidenschaft immer schon ein Thema gewesen ist für die Menschen, also man braucht nur wirklich einen kleinen Blick in die Literaturgeschichte, die Kunstgeschichte überall hineinzuwerfen, und dann sieht man, dass die Gefühle schon immer auf laufen, am werken waren. Aber gerade jetzt kann man auf jeden Fall sagen, dass wir ja wieder seit den letzten 30 Jahren eine Konjunktur in der Emotionsforschung erleben. Eine unser Katalogautorinnen, die Frau Professor Doktor Ute Frevert von dem Max-Planck-Institut in Berlin, "Geschichte der Gefühle", forscht - da sieht man, dass man wirklich versucht, jetzt zu verstehen, was die Leidenschaften mit unserer sozialen Kompetenz zu tun haben -, kann man da einfach unsere sozialen Verhältnisse wieder unter diesem Blickwinkel wieder unter die Lupe nehmen.

von Billerbeck: Nun sind ja Leidenschaften nicht nur ein individuelles Phänomen, was den Einzelnen betrifft, sondern auch ein gesellschaftliches. Diese kollektiven Leidenschaften, diese kollektiven Emotionen, welche sind da für Sie wichtig?

Nichols: Alle Gefühle, die wir in der Ausstellung thematisieren, die ich vorhin erwähnt habe - Liebe, Angst, Begierde -, haben wir alle sowohl in der individuellen Form thematisiert wie auch in der Kollektivform. Ein ganz gutes Beispiel dafür wäre wahrscheinlich der Zorn, und zwar haben wir eine Auswahl von Transparenten von dem Deutschen Historischen Museum ausgeliehen bekommen. Und das sind Transparente, die in der Demonstration vom 4. November am Alexanderplatz 1989 ...

von Billerbeck: 1989.

Nichols: ... verwendet wurden, und durch diese Häufung der Transparente kriegt man wirklich auch diese Dynamik, diese Kollektivdynamik in den Raum gestellt. Spannend dabei ist auch, dass man an der Stelle tatsächlich merkt, das, was Aristoteles schon gesagt hat, dass ein richtiges Maß von einer Leidenschaft, sei es auch Zorn, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ganz, ganz Wesentliches für unsere Gesellschaft - dadurch kann man etwas in Bewegung setzen. Jede dieser Inseln, die wir da nennen in dem Höhepunkt unserer Ausstellung, beschäftigt sich sowohl mit der individuellen Form, das sieht man dann an der Insel in Form eines Affektmords, da sieht man eine Mordwaffe, ein Beil, und dann sieht man das in einer Kollektivform. Und dann sieht man sowohl diese positiven Seiten wie auch diese negativen Seiten. Man sieht diese unüberwindbare Ambivalenz eines jeden Gefühls.

von Billerbeck: Solche Leidenschaften werden ja auch gern benutzt - Sie haben es schon erwähnt -, in der Politik, aber auch in der Religion, oder auch in der Werbung. Haben Sie das Gefühl, dass solche emotionalen, solche hochemotionalen Gefühle verstärkt genutzt werden, um bestimmte Botschaften an die Leute zu bringen?

Nichols: Auf jeden Fall, das ist auch etwas, was wir in der Ausstellung ziemlich intensiv behandeln, und zwar im vierten Akt, wo - die Leidenschaften gewinnen die Oberhand im dritten, und dann im vierten Akt geht es andersrum, der Mensch versucht, wieder Souveränität in seinem eigenen Gefühlshaushalt zu erobern, und da schauen wir tatsächlich die Religion, die Erziehung, die Arbeit, Recht und Ordnung, Freizeit und Unterhaltung, da kommt natürlich auch die Werbung vor, und all diese Aspekte unserer Gesellschaft, in der wir versuchen, einerseits die Leidenschaften zu regulieren, so im Zaum zu halten und unter Kontrolle zu halten.

Dann darf man tatsächlich auch an der Stelle, dass sie gerade mit Leidenschaften arbeiten um das zu tun. Also was benutzt die Religion für Mittel, oder was für Strategien hat die Religion zum Beispiel, um unsere Leidenschaften im Zaum zu halten? Wir haben einerseits so Regeln, so Gebote und Verbote, und die arbeiten natürlich mit Angst, also dass man Angst davor hat, in die Hölle zu kommen, und andererseits können die unsere Ängste auch lindern. Teilweise arbeitet die Erziehung zum Beispiel in Schulen und überhaupt - sei es auch am Arbeitsplatz, da werden wir immer weiter erzogen in gewisser Hinsicht -, da merkt man auch, dass Scham so eine ganz effektive Methode ist, um Menschen da unter Kontrolle zu halten oder dass ... wir hassen das, ausgestellt zu werden, wir hassen es, entblößt zu werden, und Scham ist wirklich ein ganz, ganz mächtiges Mittel, um Menschen in bestimmte Wege zu leiten oder auch Leidenschaften zu kanalisieren.

von Billerbeck: Sie haben schon viele Bereich geschildert. Haben Sie eigentlich festgestellt, dass es bei den Leidenschaften einen Unterschied macht, ob einer Politiker ist oder, sagen wir, Wissenschaftler, ob er Künstler ist oder einfach nur so ein normaler Mensch?

Nichols: Ich glaube, ich bin auf jeden Fall extrem überzeugt inzwischen, dass es etwas ist, was alle Menschen teilen und was alle Menschen verbindet, und das ist gerade so das Spannende an der Sache. Natürlich lösen unterschiedliche Dinge Angst in unterschiedlichen Menschen aus, je nachdem, was sie für Erfahrungen gemacht haben, und dann ist es auch ein ganz wichtiger Punkt. An dieser Stelle unterscheiden wir uns als Menschen - was prägt uns. Aber trotzdem, dass jeder Angst hat, und dass jeder sich schämt, und dass jeder so zornig wird und dieses alltägliche Drama der Gefühle durchmacht - ich glaube, das ist auf jeden Fall eine menschliche Konstante.

von Billerbeck: Das sagt Cathrine Nichols, die Kuratorin der Ausstellung, "Leidenschaften - ein Drama in fünf Akten" heißt sie. Von morgen an bis zum Jahresende können Sie sie im Dresdner Hygiene-Museum sehen. Frau Nichols, ganz herzlichen Dank!

Nichols: Bitte schön.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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