Wie einem die documenta den Kopf verdrehen kann
Die Kasseler documenta ist politisch, keine Frage. Es wimmelt vor großen und kleinen Statements. Aber wo bleibt die ästhetische Seite der Kunst? Das fragt sich Thorsten Jantschek auf seinem Rundgang.
Documenta-Chef Adam Szymczyk hatte es bei der Eröffnungspressekonferenz angedroht, dass das Verlernen dessen, was man glaubt zu wissen, der beste Anfang ist für die Begegnung mit dieser Ausstellung. Und der Prozess des Verlernens beginnt schneller als erwartet. Nämlich an dem Ort, an dem große Kunst-Statements erwartet werden, dem Fridericianum, metaphorisch ein Paukenschlag: Tatsächlich knallt in der Eingangshalle ein Magnethammer des griechischen Künstlers Takis scheppernd auf ein riesiges Stahlblech.
Denn den "heiligsten" documenta-Ort überlässt Adam Szymczyk dem Athener Museum für zeitgenössische Kunst, das wegen der Finanzkrise nicht eröffnen konnte und nun in Kassel eröffnet wird.
Eine Ausstellung wird also ausgestellt, eine Sammlung oft unbekannter griechischer Künstler und internationale Positionen, die überall zu sehen sind. Ich habe das Gefühl, die documenta hat noch gar nicht begonnen. Klar, ein starkes politisches Statement, aber ich halte mich an eine verführerische Stimme, die aus einem Lautsprecher vor dem Fridericianum in einem fort wispert: "Ignoranz ist eine Tugend".
Horizontal Denken
Um dieser Tugend der Ignoranz nicht ausgiebig zu frönen, frage ich den documenta-Kurator Bonaventure Ndikung, was ein Besucher seiner Meinung mitbringen sollte. "Offenheit!", antwortet er sofort.
"Man muss offen sein für Neues und für Altes. Horizontal sein, horizontal denken, horizontale Beziehungen schaffen, das ist die Haltung. Und nicht hierarchisch, nicht denken, das ist Kunst und das ist keine Kunst. Oder: das habe ich schon mal gesehen, hab ich noch nicht gesehen. Oder: der passt nicht in unser Schema. Das ist vertikales Denken, das ist todlangweilig."
Okay. Ich versuche es horizontal, bin sogleich heillos verloren, überflutet von Themen aus der globalisierten Welt: Armut, Migration, Flucht und Gewalt, Körperpolitik und Genderfragen. Ich lasse mich von Klängen und Bewegungen anziehen.
Die Welt als Seife
Plötzlich stehe ich vor einem Performer, Victor von Boltenstein, der Teil eines Kunstprojekts ist und mich in ein Gespräch verwickelt: über Seife! "Die Seife wurde in Athen hergestellt von der Künstlerin Otobong Nkanga. Das sind sieben verschiedene Inhaltsstoffe, die kommen aus Südamerika, aus Afrika und aus Europa und auch aus Griechenland." Und klar, es geht um Produktionsbedingungen, Ausbeutung, Handel. Ein einfaches, politisch hoch aufgeladenes Konsumgut, so eine Seife.
Die Ausstellungskoje der nigerianischen Künstlerin, das ist kaum mehr als der Beipackzettel zu diesem kleinen wohlriechenden Klötzchen, das ich aus vollster Überzeugung für 20 Euro kaufe. Gut angelegtes Geld, wie mir der junge Mann mit seinem Bauchladen erklärt:
"Und das Geld, das wir mit der Seife verdienen, das verwendet Otobong dann dafür, um Workshops zu gründen und Schulen, in denen über nachhaltige Produkte informiert wird - und wie macht man Seife."
Und wo bleibt die Ästhetik?
Hinter jedem Werk steckt eine reale Welt, meist eine bedrohliche politische Konstellation. Und ich werde mobilisiert, sie mir zu erschließen, mich dem eigenen Nichtwissen zu stellen, es zu ändern. Diese Documenta zündet im Kopf. Aber ästhetisch berührt sie mich nur selten. Und da ist sie wieder, diese verführerische Stimme, diesmal begegne ich ihr in der Neuen Galerie. Übrigens eine Flüsterkampagne des amerikanischen Künstlers Pope.L: "Ignoranz ist eine Tugend".
Zarte Zeichnungen, harte Fragen
An diesem Ort packt die Documenta mich dann doch, voll und ganz. Vor dem Hintergrund des spektakulären Gurlitt-Kunstfundes wird hier nicht nur die Kunstgeschichte der Familie Gurlitt aufgeblättert, sondern auch in einem sehr intensiven Raum der Künstlerin Maria Eichhorn Fragen der Enteignung, des unrechtmäßigen Besitzes und der Restitution von Büchern und Kunstwerken aufgeworfen.
Zwei Räume weiter treffe ich den amerikanischen Maler und Zeichner David Schutter. Er sei zu Max Liebermann auch über den Gurlitt-Fall gekommen, sagt er, habe intensiv recherchiert. Es sei möglich, dass alle Liebermann-Zeichnungen der Gurlitt-Sammlung aus demselben Skizzenbuch stammen. Ein Papierfachmann hat für ihn ein solches Skizzenbuch hergestellt, mit Papier wie im 19. Jahrhundert.
"Ich habe" – so David Schutter mit feiner Zurückhaltung – "Liebermanns Zeichnungen nachvollzogen, habe dieselbe Kreide wie er verwendet, versucht herauszubekommen, wie seine Hand gearbeitet hat, mich in seine Weise zu sehen eingefühlt. Und dieser Nachvollzug ist eine Art Zeichnungsperformance: Etwas aus dem Nichts zeichnen."
Und dann ist man plötzlich umgeben von zarten Zeichnungen. Manchmal scheint sich schemenhaft ein Gegenstand, ein Gesicht, eine Landschaft herauszubilden, um sich sofort wieder in die Vielfalt möglicher Bedeutungen aufzulösen. Man steht, staunt und ist - glücklich.