Mehr Bewegungsfreiheit für Asylbewerber?
Die sogenannte Residenzpflicht regelt die Bewegungsfreiheit in Deutschland lebender Ausländer. Genauer: Sie schränkt die Bewegungsfreiheit von Asylbewerbern und Geduldeten ein. So dürfen beispielsweise Asybewerber nicht den Bezirk oder Landkreis verlassen - in dem die für sie zuständige Ausländerbehörde liegt. Flüchtlingsorganisationen fordern seit Langem die Aufhebung dieser - europaweit einmaligen - Regelung.
Die rot-rote Regierung in Brandenburg plant, die Umsetzung der Regel landesintern zu lockern - und fordert bundesweit die Abschaffung der Residenzpflicht. Ähnliche Töne kommen von den Grünen sowie SPD und SSW aus Schleswig-Holstein. Kommt damit Bewegung in die eingeschränkte Bewegungsfreiheit? Ein Länderreport aus Brandenburg und Schleswig-Holstein.
Welche Assoziationen kommen bei dem Wort "Residenz"? Vielleicht der Regierungssitz eines Königs? Oder dessen Sommerresidenz? Vielleicht auch an ein Seniorenheim, die Seniorenresidenz? Oder ein Hotel, das sich durch den Beinamen 'Residenz' einen edlen Klang zu geben versucht? Für viele Asylbewerber in Deutschland hat das Wort einen negativen Beigeschmack. Denn für sie gilt die sogenannte Residenzpflicht – oder wie der Gesetzgeber es nennt: die räumliche Beschränkung. So wird eine Regelung des Asylverfahrensgesetzes bezeichnet – eine Regelung, die die Bewegungsfreiheit von Asylbewerbern und von Ausländern im Status der Duldung einschränkt.
So dürfen beispielsweise Asylbewerber nicht den Bezirk oder Landkreis verlassen - in dem die für sie zuständige Ausländerbehörde liegt. Flüchtlingsorganisationen fordern seit Langem die Aufhebung dieser - europaweit einmaligen - Regelung.
Das Ganze ist ein Bundesgesetz - in einigen Bundesländern aber scheint nun etwas Bewegung in die Sache zu kommen, zumindest scheint der politische Wille vorhanden zu sein, etwas zu ändern. Erstes Beispiel: Schleswig-Holstein. Dort fordern die Grünen eine Abschaffung der Residenzpflicht. Darüber – und über die Schwierigkeiten, die Asylbewerber durch die Regelung haben, berichtet Matthias Günther.
Die Residenzpflicht in Schleswig-Holstein
Wulf Jöhnk ist Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein – zuständig für die Belange von derzeit etwa 3700 Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen. Klagen von Asylbewerbern über die sogenannte Residenzpflicht gehören bei ihm zum Alltag.
Jöhnk: "Mir werden immer wieder Fälle vorgetragen, wo Betroffene, Flüchtlinge, mit Bußgeldbescheiden belegt werden oder auch vor Gericht gezerrt werden."
Im Asylverfahrensgesetz des Bundes ist geregelt, dass Asylsuchende sich bis zum Abschluss ihres Verfahrens in einem eingeschränkten Gebiet aufhalten müssen: in dem Bereich der für ihren Wohnort zuständigen Ausländerbehörde. Sie dürfen den Landkreis oder die Stadt nicht ohne Genehmigung verlassen.
Wulf Jöhnk ärgert sich darüber. Ohne diese Vorschrift wäre Vieles leichter - für die Behörden und die Asylbewerber, sagt der Flüchtlingsbeauftragte:
"Sie könnten im Sommer beispielsweise mal an den Strand fahren, der
außerhalb ihres Einschränkungsbereiches liegt, sie könnten günstiger einkaufen, wenn der Supermarkt, also der Discounter, außerhalb ihres Beschränkungsgebietes liegt. Das wäre alles vernünftig und wäre im Übrigen völlig unbürokratisch.
Jetzt müssen sie für jede Überschreitung außerhalb ihres Einzugsbereichs eine Genehmigung beantragen. Das setzt ein Verwaltungsverfahren voraus, eine Entscheidung, die ist dann im Übrigen auch noch anfechtbar – notfalls sogar vorm Verwaltungsgericht. Also ein völlig unmögliches Verfahren."
Auch den Flüchtlingsberatungsstellen des Diakonischen Werks Schleswig-Holstein bereitet die Residenzpflicht viel Arbeit. Das Land sollte daher Spielräume im Asylverfahrensgesetz des Bundes nutzen, fordert die Vorsitzende des Diakonischen Werks, Landespastorin Petra Tobaben:
"Bundesrecht kann so umgesetzt werden, dass man sagt, die Bewegungsfreiheit dieser Menschen wird auf das Bundesland Schleswig-Holstein ausgedehnt, oder sie können auch sagen: beschränkt auf das gesamte Gebiet des Bundeslandes Schleswig-Holstein. Und ich wage auch zu bezweifeln, dass über eine solche Großzügigkeit innerhalb eines Bundeslandes sogenannte Sicherheitsrisiken entstehen.
Die öffentliche Sicherheit und Ordnung wäre dadurch überhaupt nicht gefährdet. Wenn ich das unter Gastfreundschaftsaspekten theologisch auch wahrnehme, dann heißt es: wenn ich mein Land öffne, dann muss ich auch so gastfreundlich sein, dass die Menschen mit am Tisch der Herren sitzen und nicht nur auf 'nem Höckerchen daneben."
Die Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag haben einen Gesetzesentwurf vorgelegt, danach sollen sich Asylbewerber in ganz Schleswig-Holstein frei bewegen können. Die Grünen-Abgeordnete Luise Amtsberg:
"Wir von den Grünen sind der Ansicht, dass Menschen sich frei bewegen müssen, um eben auch die Möglichkeit zu haben, sich besser hier zu integrieren, die Integrationsangebote nutzen zu können, und sich auch ein Stück weit zu identifizieren und zuhause zu fühlen."
Serpil Midyatli von der SPD sieht durch die derzeitige Regelung große Nachteile vor allem für Asylbewerber, die auf dem Lande wohnen:
"Das heißt, sie sind eigentlich sehr abgeschnitten von den Angeboten, die es in größeren Städten oder Gemeinden dann gibt. Und sie können also dann viele Angebote gar nicht wahrnehmen. Sie sind auch eingeschränkt darin, sich mit ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe zu treffen, zu kommunizieren."
Nicht nur in der schleswig-holsteinischen Opposition, auch in der schwarz-gelben Regierungskoalition sieht man Handlungsbedarf, Gerrit Koch von der FDP:
"Sie haben einen Freund in einem Nachbarkreis, der zehn Meter weiter beginnt, den dürfen sie gar nicht besuchen unter Umständen. So gelingt es ihnen gar nicht, ein soziales Umfeld zu schaffen. Sie sind immer schnell dabei, selber eine Straftat zu begehen, also der Ausländer, der sich dort hinüber begibt. Das wollen wir natürlich abbauen.
Wir müssen hier nicht künstlich die Strafzahlen hoch treiben. Und wir wollen natürlich auch, dass die Menschen sich hier letztlich integrieren, solange sie sich hier aufhalten. Und das trägt sicherlich dazu bei, wenn man die Residenzpflicht flexibel handhabt."
Astrid Damerow von der CDU macht auf ein spezielles Problem durch die Residenzpflicht aufmerksam:
"Wir haben ja auch durchaus Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden, die dann über diverse Programme den Ausstieg geschafft haben. Aber diese Frauen müssen dann die Möglichkeit haben, auch beweglich zu sein, um sich möglicher Verfolgung zu entziehen. Also das ist ein Thema, das immer wieder angesprochen wird. Das muss noch weiter überarbeitet werden."
In den nächsten Monaten soll im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags über die Residenzpflicht beraten werden. Nach Ansicht des parteilosen Justizministers Emil Schmalfuß legt das Land Schleswig-Holstein die Residenzpflicht jedoch schon jetzt sehr großzügig aus:
"Es gibt im Lande Schleswig-Holstein einen Erlass, der die Behörden schon seit vielen Jahren anhält, ihr Ermessen für Ausnahmeregelungen grundsätzlich zugunsten der Asyl- und Schutzsuchenden auszuüben. Das wird auch so praktiziert und ist meines Erachtens auch ausreichend."
Nach Ansicht der Landespastorin Petra Tobaben hingegen ist das nicht ausreichend:
"Ich halte es für absolut schwierig zu sagen, dass Menschen einen Antrag stellen müssen, um innerhalb Schleswig-Holsteins in andere Bereiche zu gehen. Das steht nach meinem Dafürhalten einem Bundesland, was die Integration und Inklusion von Menschen sich sehr groß und in guter Weise auf die Fahnen geschrieben hat, nicht gut zu Gesichte."
Und Luise Amtsberg von den schleswig-holsteinischen Grünen sieht in dem Erlass, Anträge von Asylbewerbern wohlwollend zu prüfen, keine gute Lösung:
"Der Erlass des Kieler Innenministeriums besagt, dass die Menschen, die sich wohl verhalten, die Möglichkeit bekommen können, von dieser Regelung ausgenommen zu werden. Das ist unserer Meinung nach die falsche Herangehensweise.
Wir finden, dass man Menschen es generell erlauben sollte, sich im ganzen Lande bewegen zu können, und im Falle der Verletzung bestimmter Auflagen oder Richtlinien, dass man ihnen dann vielleicht mit Beschränkungen begegnen kann im jeweiligen Einzelfall - aber nicht andersrum."
Gerrit Koch von der FDP sieht weniger das Land Schleswig-Holstein als den Bund gefordert:
Koch: "Es gibt Bundesgesetze, die diese Residenzpflicht ja grundsätzlich vorschreiben. Da können wir auf Landesebene etwas großzügiger mit umgehen. Letztlich ist aber der Bund gefordert. Es muss vorrangig der Bundestag regeln, weil alle Gesetze, die sich damit beschäftigen, Bundesgesetze sind.
Und der Koalitionsvertrag hat ja jetzt eindeutig dazu auch eine Regelung vorgegeben: Es soll die Residenzpflicht flexibel gehandhabt werden, das heißt für mich eigentlich, dass sie quasi abgeschafft wird."
Eine Regelung, nach der sich Asylbewerber im ganzen Bundesland, in dem sie wohnen, frei bewegen dürfen, wird von Vielen als wünschenswert angesehen. Manchmal führt aber auch das zu unsinnigen Ergebnissen, meint Schleswig-Holsteins Flüchtlingsbeauftragter Wulf Jöhnk. Zum Beispiel im schleswig-holsteinischen Speckgürtel um Hamburg:
Jöhnk: "Norderstedt grenzt ja an Hamburg. Wenn die eine Residenzpflicht, eine Aufenthaltsbeschränkung auf Norderstedt haben, dort eine bestimmte Einkaufsstraße besuchen, die teilweise nachher zu Hamburg gehört, dann müssen sie an einer bestimmten Stelle Halt machen, weil sie dann nicht nach Hamburg rüber gehen dürfen, um dort billiger einkaufen zu können. Das können sie nur dann, wenn sie sich eine Ausnahmegenehmigung dafür holen, und das setzt ein bestimmtes Verfahren voraus. Also im Grunde ein völlig unhaltbarer Zustand."
Die Residenzpflicht in Brandenburg
Eine ähnliche Situation, wie die zuletzt beschriebene – im schleswig-holsteinischen Speckgürtel im Norden Hamburgs – gibt es auch in Brandenburg, in den Gebieten rund um Berlin. Auch deshalb hat die rot-rote Regierung in ihrer Koalitionsvereinbarung beschlossen, die Residenzpflicht im eigenen Land zu lockern und mit dem Nachbar Berlin zu kooperieren. Axel Flemming über die Residenzpflicht in Brandenburg
Über eine landesinterne Lockerung hinaus wollen die Fraktionen von SPD und LINKE, dass sich Brandenburg beim Bund für eine Abschaffung der Residenzpflicht stark macht. Ein entsprechender Antrag wurde am 17. Dezember 2009 verabschiedet.
Fritsch: "Wir kommen zur Abstimmung über die Drucksache 5/130. Wer ihr Folge leisten möchte, den bitte ich um Handzeichen. Danke sehr. Damit ist dieser Antrag der Koalitionsfraktionen angenommen ..."
... sagt Gunter Fritsch, der brandenburgische Landtagspräsident.
Vorausgegangen war eine halbstündige Debatte im Parlament und eine seit Langem währende Diskussion um die Residenzpflicht in Brandenburg.
Ein Beispiel aus dem Jahr 2007:
Fortunato: "Als Serge Kemno sein polizeiliches Führungszeugnis erhält, das er für eine Stellenbewerbung braucht, erfährt er, dass er vorbestraft ist. Der Flüchtling aus Kamerun wurde im Aufnahmeverfahren für Asylsuchende dem Landkreis Barnim in Brandenburg zugewiesen. Einmal musste er zum Rechtsanwalt nach Potsdam. Er sollte Freitag kommen, die Ausländerbehörde ist geschlossen.
Er fährt also ohne Genehmigung nach Potsdam. Im Zug fährt auch die Bundespolizei mit. Die erforderliche Verlassenserlaubnis kann er nicht vorweisen. Eine Anzeige wegen Verstoßes gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung allgemein Residenzpflicht genannt folgt."
Auch auf dem Rückweg wird Serge Kemno aufgegriffen und angezeigt. Monate später bekommt er einen Strafbefehl: 90 Tagessätze Geldstrafe. Ironie der Geschichte: 2008 wird Kemno der brandenburgische Bürgerpreis "Band für Toleranz und Verständigung" verliehen, weil er in Schulklassen und Jugendprojekten Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit entgegentrat. Verstöße gegen die Residenzpflicht werden als Ordnungswidrigkeit, im Wiederholungsfall als Straftat geahndet.
Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg kritisiert, dass dadurch Asylbewerber und geduldete Ausländer kriminalisiert werden und Vorurteile geschürt. Nach seiner Ansicht machen Verstöße gegen die Residenzpflicht einen Großteil dessen aus, was man als "Ausländerkriminalität" bezeichnet:
Wendel: "Genaue Statistiken darüber liegen allerdings nicht vor. Es dürfte aber so sein, dass ungefähr die Hälfte der Delikte, die Asylbewerbern zugerechnet werden, auf das Konto von Residenzpflicht gehen, also einfach nur, weil sie den ihnen zugewiesenen Landkreis verlassen haben."
Ein Grund dafür, dass Brandenburg sich jetzt beim Bund gegen die räumlichen Beschränkungen für Asylbewerber einsetzen will. Nach Ansicht der Fraktionen von SPD und LINKE sollte die Landesregierung außerdem alle eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Residenzpflicht zu lockern.
SPD und Linke begründeten ihren Antrag damit, dass Flüchtlinge schon für einen Besuch des Nachbarkreises eine Genehmigung brauchten. Das betrifft in Brandenburg 900 Asylbewerber und etwa 2600 geduldete Flüchtlinge. Bettina Fortunato von der Partei DIE LINKE:
"Die Residenzpflicht schränkt also so die sozialen Rechte, die Religionsausübung, kulturelle Rechte, aber auch politische ein und führt so zu einer Diskriminierung der Betroffenen, die meines Erachtens nach nicht gerechtfertigt ist. Für die Koalition gibt es zu diesem Thema eine eindeutige Auffassung und damit eine im Sinne der Betroffenen anzustrebende Lösung: Dazu müssen die Verantwortlichen mit den unmenschlichen Folgen der Residenzpflicht konfrontiert werden, angefangen von den lokalen Ausländerbehörde, den Landkreisen bis hin zu den Länderparlamenten und dem Bundestag."
AUT Bislang gibt es in Brandenburg nur zwischen wenigen Kommunen Ausnahmen von der grundlegenden Einschränkung der Freizügigkeit. Nach dem Willen der Fraktionen von SPD und LINKE sollte die Landesregierung auch prüfen, ob durch eine länderübergreifende Verwaltungsvereinbarung mit Berlin eine Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen in beiden Ländern möglich wäre.
Berlin und Brandenburg würden mit einer solchen Initiative als erste Länder die Residenzpflicht in einem sehr weiten Gebiet aufheben. Der neue Innenminister, der SPD-Politiker Rainer Speer, erklärte, man habe bereits mit dem Berliner Innensenator Ehrhart Körting, ebenfalls SPD, über Neuregelungen gesprochen.
Speer: "Kollege Körting hat auch schon einen Brief von mir, wo drin steht, dass ich der Auffassung bin, wir könnten auf der Grundlage einer Verwaltungsvereinbarung beide eine parallele Rechtsvereinbarung erlassen, die die Möglichkeit hervorruft, dass auch ein hier lebender Asylbewerber durch Berlin mit der S-Bahn nach Bernau fahren kann.
In Berlin wird diese Rechtssicht, die Brandenburg da hat, geprüft und ich hoffe, dass wir zu dem Ergebnis kommen, es so machen zu können."
Die Grünen in Brandenburg haben dem Antrag von SPD und LINKE zugestimmt, sie fordern schon seit Jahren eine Abschaffung der Residenzpflicht. Es sei "allerhöchste Zeit", sagte Marie Luise von Halem und bezeichnete die derzeitige Regelung als "eine der finstersten Seiten unseres Rechtsstaates".
Halem: "Was wir uns da ausgedacht haben, sucht europaweit seinesgleichen und ist nichts anderes als eine Fußfessel, die des Mittelalters würdig wäre. Von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern erwarten wir nach ihrer Anerkennung aktive Integrationsbemühungen. Völlig richtig!
Integration kann nur funktionieren, wenn von Seiten aller Beteiligten Schritte aufeinander zu gemacht werden. Und in diesem Sinne könnten wir ruhig mal darüber nachdenken, was wir mit der Residenzpflicht, der diese Menschen oft Jahre lang unterliegen, ihnen gegenüber für Zeichen setzen."
Die FDP hat sich für die Abschaffung der Residenzpflicht ausgesprochen, sich jedoch bei der Abstimmung enthalten.
Die CDU hat den Antrag abgelehnt. Innenexperte Sven Petke wies darauf hin, dass auch Missbrauch mit dem Asylrecht betrieben werde.
Petke: "Da geht es um Mehrfachmeldungen, verschiedene Identitäten, Verschleierung der Identität und anderes. Und dennoch haben wir in Brandenburg in der Vergangenheit Wege gefunden, die es dem Einzelnen eben nicht unmöglich gemacht haben, nach Berlin zum Arzt zu gehen, in Berlin eine Weiterbildung wahrzunehmen, in Berlin auch Freunde, Bekannte, Familienangehörige zu besuchen."
Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, Kirchen und Gewerkschaften hingegen kritisieren, die per Bundesgesetz festgeschriebene Residenzpflicht hindere Asylbewerber daran, Kontakt mit Landsleuten, Freunden oder ihrer Familie aufzunehmen, sich an - in ländlichen Gebieten dünn gesäte - Beratungsstellen oder Fachanwälte zu wenden oder auch einfach nur das Land kennenzulernen, von dem sie hoffen, dass es ihre neue Heimat wird. Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg:
"Die Ausnahmen sind, wenn zwingende Gründe vorliegen, beispielsweise eine Vorladung zu Gericht oder zu einer Behörde, oder wenn unbillige Härten dadurch geschaffen würden. Allein schon die Tatsache, dass ein Mensch für Reisen, auch private Reisen hier eine Erlaubnis beantragen muss, die ihm eventuell verweigert wird, allein schon so eine Kontrolle sehen wir als eine Verletzung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit."
Die Position des Bundes
In Brandenburg planen SPD und Linke also, die Residenzpflicht landesintern zu lockern, überlegen mit Berlin zu kooperieren – und sie wollen sich stark machen für eine Abschaffung der Regelung auf Bundesebene. Ähnliche Töne, das haben wir eingangs gehört, kommen auch aus Schleswig-Holstein. Dort hieß es von Seiten der FDP allerdings auch: erstmal ist der Bund gefragt. Wir wollten wissen, wie denn die Politiker auf Bundesebene zu dem Thema Stellung beziehen – Jens Rosbach hat nachgefragt und herausgefunden, dass die Residenzpflicht auch im Deutschen Bundestag ein heißes Thema ist - im Regierungslager wie auch bei der Opposition.
Die Regierungsfraktionen planen, die Residenzpflicht zu lockern. Union und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, "eine hinreichende Mobilität" zu ermöglichen "insbesondere in Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme" Die Formulierung ist allerdings ein Kompromiss - die Liberalen hätten sich mehr gewünscht.
Hartfrid Wolff: "Wir sehen die Residenzpflicht durchaus kritischer als unser Koalitionspartner, und das ändert aber nichts daran, dass wir innerhalb einer Koalition sind und alleine nichts durchsetzen können."
Hartfrid Wolff ist migrationspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag. Wolff will nicht nur mehr Mobilität für Flüchtlinge auf Jobsuche, sondern auch für Flüchtlinge mit sozialen Problemen.
"Wenn es darum geht, dass ich Fachberatung bekomme, die es vielleicht nur außerhalb des Residenzbereiches gibt. Wenn es darum geht, beispielsweise auch Schutz zu finden bei Frauen, die darunter leiden, dass sie zu Hause vielleicht geschlagen werden, dass das Frauenhaus aber beispielsweise nicht in dem Residenzbereich liegt - also es gibt durchaus sowohl Arbeitsmarktthemen als aber auch eben humanitäre Gründe, um an der Residenzpflicht das ein oder andere in Frage zu stellen."
Der Bundestagsopposition gehen diese Vorschläge allerdings nicht weit genug. So fordert der migrationspolitische Sprecher der SPD, Rüdiger Veit, die komplette Streichung des Reiseverbotes.
Veit: "Die Residenzpflicht ist ein Relikt aus der Zeit, wo man versucht hat, mit jedem denkbaren Repressionselement zu verhindern, dass noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen – die würde ich gerne ganz abschaffen wollen."
Veit hält die geplante Lockerung der Residenzpflicht für überflüssig, weil es bereits jetzt Härtefallregeln gebe - etwa für die Arbeitsaufnahme.
Veit: "Es gibt also heute schon die Möglichkeit, das vor Ort flexibler zu
handhaben. Man kann die entsprechenden Ausnahmen auch nach der geltenden Rechtslage zulassen."
CDU/CSU und FDP – grundsätzlich pro Residenzpflicht, SPD – contra
Residenzpflicht. Allerdings verfolgen die bundespolitischen Gegner auch ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die bestehenden Wohn-Auflagen für Flüchtlinge beibehalten. Denn nach geltendem Recht unterliegen viele Ausländer nicht nur einer Reisebeschränkung, sondern auch einer "Wohnsitzbindung".
Das heißt: Ein Ausländer, der überall hinfahren kann, darf noch lange nicht überall wohnen. Der FDP-Politiker Hartfrid Wolff etwa will durch eine Wohnsitzbindung sicher stellen, dass die Behörden jederzeit Migranten ohne Aufenthaltsrecht erreichen – und notfalls abschieben können.
Wolff: "Im Notfall heißt das auch eine Rückführung, ja."
Anders die Begründung der SPD für das Festhalten an der Wohnsitzbindung. Migrationsexperte Rüdiger Veit erklärt, eine freie Adress-Wahl sei aus kommunalpolitischen Gründen nicht möglich.
Veit: "Sonst würden sich bestimmte Flüchtlingsströme oder auch Asylbewerber bevorzugt in wenigen Bereichen Deutschlands aufhalten. Die Konsequenz wäre, dass es möglicherweise zu sozialen Unverträglichkeiten in der Unterbringung, in der Integration kommen könnte und natürlich auch, was die Frage von Sozialleistungen angeht, einzelne Kommunen stärker belastet wären als andere."
Allerdings ist sich auch die Opposition im Bundestag nicht einig: So verlangen die Bündnisgrünen nicht nur die Abschaffung der Residenzpflicht, sondern auch der Wohnsitzbeschränkungen. Sie verweisen dabei auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2008.
Demnach darf zumindest Asylberechtigten kein Wohnort vorgeschrieben werden, nur um einem anderen Bundesland die Sozialhilfe-Zahlungen zu ersparen. Josef Winkler, der migrationspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, fordert einen Lastenausgleich.
Winkler: "Dann ist es den an den Bundesländern, dafür zu sorgen, dass eben gemessen wird, wo die entsprechenden Ausgaben entstehen und dass dann eben nicht die Asylbewerber umverteilt werden oder die Anerkannten oder die Geduldeten, sondern dass eben dann die Kosten umverteilt werden."
Genauso wie die Grünen, plädieren auch Vertreter der Linkspartei für eine Streichung von Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen. Wie geht es weiter? Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hält - trotz der Kritik - an der Wohnsitzbeschränkung fest, will aber die Residenzpflicht liberalisieren, vor allem für eine Arbeitsaufnahme. Das Bundesinnenministerium befragt derzeit die einzelnen Landesregierungen, wo genau "Regelungsbedarf" bestehe. In einem zweiten Schritt soll das Asylverfahrensgesetz überarbeitet werden.
Nach Ansicht des Oppositionspolitikers Josef Winkler reichen die vorgesehenen Änderungen allerdings nicht aus. Nur in Deutschland gebe es so strenge Adress- und Residenzauflagen für Flüchtlinge, klagt der Grüne.
Winkler: "Es gilt aber auch noch das europäische Recht, und auch dort gibt es ja Klagen, die anhängig sind beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, und da rechnen wir damit, dass auch diese Dinge aufgehoben werden, weil sie eben europaweit einmalig sind und nicht begründbar ist, warum es in Deutschland als einzigem Land nicht funktionieren soll, was in allen anderen Staaten funktioniert."
Welche Assoziationen kommen bei dem Wort "Residenz"? Vielleicht der Regierungssitz eines Königs? Oder dessen Sommerresidenz? Vielleicht auch an ein Seniorenheim, die Seniorenresidenz? Oder ein Hotel, das sich durch den Beinamen 'Residenz' einen edlen Klang zu geben versucht? Für viele Asylbewerber in Deutschland hat das Wort einen negativen Beigeschmack. Denn für sie gilt die sogenannte Residenzpflicht – oder wie der Gesetzgeber es nennt: die räumliche Beschränkung. So wird eine Regelung des Asylverfahrensgesetzes bezeichnet – eine Regelung, die die Bewegungsfreiheit von Asylbewerbern und von Ausländern im Status der Duldung einschränkt.
So dürfen beispielsweise Asylbewerber nicht den Bezirk oder Landkreis verlassen - in dem die für sie zuständige Ausländerbehörde liegt. Flüchtlingsorganisationen fordern seit Langem die Aufhebung dieser - europaweit einmaligen - Regelung.
Das Ganze ist ein Bundesgesetz - in einigen Bundesländern aber scheint nun etwas Bewegung in die Sache zu kommen, zumindest scheint der politische Wille vorhanden zu sein, etwas zu ändern. Erstes Beispiel: Schleswig-Holstein. Dort fordern die Grünen eine Abschaffung der Residenzpflicht. Darüber – und über die Schwierigkeiten, die Asylbewerber durch die Regelung haben, berichtet Matthias Günther.
Die Residenzpflicht in Schleswig-Holstein
Wulf Jöhnk ist Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein – zuständig für die Belange von derzeit etwa 3700 Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen. Klagen von Asylbewerbern über die sogenannte Residenzpflicht gehören bei ihm zum Alltag.
Jöhnk: "Mir werden immer wieder Fälle vorgetragen, wo Betroffene, Flüchtlinge, mit Bußgeldbescheiden belegt werden oder auch vor Gericht gezerrt werden."
Im Asylverfahrensgesetz des Bundes ist geregelt, dass Asylsuchende sich bis zum Abschluss ihres Verfahrens in einem eingeschränkten Gebiet aufhalten müssen: in dem Bereich der für ihren Wohnort zuständigen Ausländerbehörde. Sie dürfen den Landkreis oder die Stadt nicht ohne Genehmigung verlassen.
Wulf Jöhnk ärgert sich darüber. Ohne diese Vorschrift wäre Vieles leichter - für die Behörden und die Asylbewerber, sagt der Flüchtlingsbeauftragte:
"Sie könnten im Sommer beispielsweise mal an den Strand fahren, der
außerhalb ihres Einschränkungsbereiches liegt, sie könnten günstiger einkaufen, wenn der Supermarkt, also der Discounter, außerhalb ihres Beschränkungsgebietes liegt. Das wäre alles vernünftig und wäre im Übrigen völlig unbürokratisch.
Jetzt müssen sie für jede Überschreitung außerhalb ihres Einzugsbereichs eine Genehmigung beantragen. Das setzt ein Verwaltungsverfahren voraus, eine Entscheidung, die ist dann im Übrigen auch noch anfechtbar – notfalls sogar vorm Verwaltungsgericht. Also ein völlig unmögliches Verfahren."
Auch den Flüchtlingsberatungsstellen des Diakonischen Werks Schleswig-Holstein bereitet die Residenzpflicht viel Arbeit. Das Land sollte daher Spielräume im Asylverfahrensgesetz des Bundes nutzen, fordert die Vorsitzende des Diakonischen Werks, Landespastorin Petra Tobaben:
"Bundesrecht kann so umgesetzt werden, dass man sagt, die Bewegungsfreiheit dieser Menschen wird auf das Bundesland Schleswig-Holstein ausgedehnt, oder sie können auch sagen: beschränkt auf das gesamte Gebiet des Bundeslandes Schleswig-Holstein. Und ich wage auch zu bezweifeln, dass über eine solche Großzügigkeit innerhalb eines Bundeslandes sogenannte Sicherheitsrisiken entstehen.
Die öffentliche Sicherheit und Ordnung wäre dadurch überhaupt nicht gefährdet. Wenn ich das unter Gastfreundschaftsaspekten theologisch auch wahrnehme, dann heißt es: wenn ich mein Land öffne, dann muss ich auch so gastfreundlich sein, dass die Menschen mit am Tisch der Herren sitzen und nicht nur auf 'nem Höckerchen daneben."
Die Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag haben einen Gesetzesentwurf vorgelegt, danach sollen sich Asylbewerber in ganz Schleswig-Holstein frei bewegen können. Die Grünen-Abgeordnete Luise Amtsberg:
"Wir von den Grünen sind der Ansicht, dass Menschen sich frei bewegen müssen, um eben auch die Möglichkeit zu haben, sich besser hier zu integrieren, die Integrationsangebote nutzen zu können, und sich auch ein Stück weit zu identifizieren und zuhause zu fühlen."
Serpil Midyatli von der SPD sieht durch die derzeitige Regelung große Nachteile vor allem für Asylbewerber, die auf dem Lande wohnen:
"Das heißt, sie sind eigentlich sehr abgeschnitten von den Angeboten, die es in größeren Städten oder Gemeinden dann gibt. Und sie können also dann viele Angebote gar nicht wahrnehmen. Sie sind auch eingeschränkt darin, sich mit ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe zu treffen, zu kommunizieren."
Nicht nur in der schleswig-holsteinischen Opposition, auch in der schwarz-gelben Regierungskoalition sieht man Handlungsbedarf, Gerrit Koch von der FDP:
"Sie haben einen Freund in einem Nachbarkreis, der zehn Meter weiter beginnt, den dürfen sie gar nicht besuchen unter Umständen. So gelingt es ihnen gar nicht, ein soziales Umfeld zu schaffen. Sie sind immer schnell dabei, selber eine Straftat zu begehen, also der Ausländer, der sich dort hinüber begibt. Das wollen wir natürlich abbauen.
Wir müssen hier nicht künstlich die Strafzahlen hoch treiben. Und wir wollen natürlich auch, dass die Menschen sich hier letztlich integrieren, solange sie sich hier aufhalten. Und das trägt sicherlich dazu bei, wenn man die Residenzpflicht flexibel handhabt."
Astrid Damerow von der CDU macht auf ein spezielles Problem durch die Residenzpflicht aufmerksam:
"Wir haben ja auch durchaus Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden, die dann über diverse Programme den Ausstieg geschafft haben. Aber diese Frauen müssen dann die Möglichkeit haben, auch beweglich zu sein, um sich möglicher Verfolgung zu entziehen. Also das ist ein Thema, das immer wieder angesprochen wird. Das muss noch weiter überarbeitet werden."
In den nächsten Monaten soll im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags über die Residenzpflicht beraten werden. Nach Ansicht des parteilosen Justizministers Emil Schmalfuß legt das Land Schleswig-Holstein die Residenzpflicht jedoch schon jetzt sehr großzügig aus:
"Es gibt im Lande Schleswig-Holstein einen Erlass, der die Behörden schon seit vielen Jahren anhält, ihr Ermessen für Ausnahmeregelungen grundsätzlich zugunsten der Asyl- und Schutzsuchenden auszuüben. Das wird auch so praktiziert und ist meines Erachtens auch ausreichend."
Nach Ansicht der Landespastorin Petra Tobaben hingegen ist das nicht ausreichend:
"Ich halte es für absolut schwierig zu sagen, dass Menschen einen Antrag stellen müssen, um innerhalb Schleswig-Holsteins in andere Bereiche zu gehen. Das steht nach meinem Dafürhalten einem Bundesland, was die Integration und Inklusion von Menschen sich sehr groß und in guter Weise auf die Fahnen geschrieben hat, nicht gut zu Gesichte."
Und Luise Amtsberg von den schleswig-holsteinischen Grünen sieht in dem Erlass, Anträge von Asylbewerbern wohlwollend zu prüfen, keine gute Lösung:
"Der Erlass des Kieler Innenministeriums besagt, dass die Menschen, die sich wohl verhalten, die Möglichkeit bekommen können, von dieser Regelung ausgenommen zu werden. Das ist unserer Meinung nach die falsche Herangehensweise.
Wir finden, dass man Menschen es generell erlauben sollte, sich im ganzen Lande bewegen zu können, und im Falle der Verletzung bestimmter Auflagen oder Richtlinien, dass man ihnen dann vielleicht mit Beschränkungen begegnen kann im jeweiligen Einzelfall - aber nicht andersrum."
Gerrit Koch von der FDP sieht weniger das Land Schleswig-Holstein als den Bund gefordert:
Koch: "Es gibt Bundesgesetze, die diese Residenzpflicht ja grundsätzlich vorschreiben. Da können wir auf Landesebene etwas großzügiger mit umgehen. Letztlich ist aber der Bund gefordert. Es muss vorrangig der Bundestag regeln, weil alle Gesetze, die sich damit beschäftigen, Bundesgesetze sind.
Und der Koalitionsvertrag hat ja jetzt eindeutig dazu auch eine Regelung vorgegeben: Es soll die Residenzpflicht flexibel gehandhabt werden, das heißt für mich eigentlich, dass sie quasi abgeschafft wird."
Eine Regelung, nach der sich Asylbewerber im ganzen Bundesland, in dem sie wohnen, frei bewegen dürfen, wird von Vielen als wünschenswert angesehen. Manchmal führt aber auch das zu unsinnigen Ergebnissen, meint Schleswig-Holsteins Flüchtlingsbeauftragter Wulf Jöhnk. Zum Beispiel im schleswig-holsteinischen Speckgürtel um Hamburg:
Jöhnk: "Norderstedt grenzt ja an Hamburg. Wenn die eine Residenzpflicht, eine Aufenthaltsbeschränkung auf Norderstedt haben, dort eine bestimmte Einkaufsstraße besuchen, die teilweise nachher zu Hamburg gehört, dann müssen sie an einer bestimmten Stelle Halt machen, weil sie dann nicht nach Hamburg rüber gehen dürfen, um dort billiger einkaufen zu können. Das können sie nur dann, wenn sie sich eine Ausnahmegenehmigung dafür holen, und das setzt ein bestimmtes Verfahren voraus. Also im Grunde ein völlig unhaltbarer Zustand."
Die Residenzpflicht in Brandenburg
Eine ähnliche Situation, wie die zuletzt beschriebene – im schleswig-holsteinischen Speckgürtel im Norden Hamburgs – gibt es auch in Brandenburg, in den Gebieten rund um Berlin. Auch deshalb hat die rot-rote Regierung in ihrer Koalitionsvereinbarung beschlossen, die Residenzpflicht im eigenen Land zu lockern und mit dem Nachbar Berlin zu kooperieren. Axel Flemming über die Residenzpflicht in Brandenburg
Über eine landesinterne Lockerung hinaus wollen die Fraktionen von SPD und LINKE, dass sich Brandenburg beim Bund für eine Abschaffung der Residenzpflicht stark macht. Ein entsprechender Antrag wurde am 17. Dezember 2009 verabschiedet.
Fritsch: "Wir kommen zur Abstimmung über die Drucksache 5/130. Wer ihr Folge leisten möchte, den bitte ich um Handzeichen. Danke sehr. Damit ist dieser Antrag der Koalitionsfraktionen angenommen ..."
... sagt Gunter Fritsch, der brandenburgische Landtagspräsident.
Vorausgegangen war eine halbstündige Debatte im Parlament und eine seit Langem währende Diskussion um die Residenzpflicht in Brandenburg.
Ein Beispiel aus dem Jahr 2007:
Fortunato: "Als Serge Kemno sein polizeiliches Führungszeugnis erhält, das er für eine Stellenbewerbung braucht, erfährt er, dass er vorbestraft ist. Der Flüchtling aus Kamerun wurde im Aufnahmeverfahren für Asylsuchende dem Landkreis Barnim in Brandenburg zugewiesen. Einmal musste er zum Rechtsanwalt nach Potsdam. Er sollte Freitag kommen, die Ausländerbehörde ist geschlossen.
Er fährt also ohne Genehmigung nach Potsdam. Im Zug fährt auch die Bundespolizei mit. Die erforderliche Verlassenserlaubnis kann er nicht vorweisen. Eine Anzeige wegen Verstoßes gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung allgemein Residenzpflicht genannt folgt."
Auch auf dem Rückweg wird Serge Kemno aufgegriffen und angezeigt. Monate später bekommt er einen Strafbefehl: 90 Tagessätze Geldstrafe. Ironie der Geschichte: 2008 wird Kemno der brandenburgische Bürgerpreis "Band für Toleranz und Verständigung" verliehen, weil er in Schulklassen und Jugendprojekten Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit entgegentrat. Verstöße gegen die Residenzpflicht werden als Ordnungswidrigkeit, im Wiederholungsfall als Straftat geahndet.
Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg kritisiert, dass dadurch Asylbewerber und geduldete Ausländer kriminalisiert werden und Vorurteile geschürt. Nach seiner Ansicht machen Verstöße gegen die Residenzpflicht einen Großteil dessen aus, was man als "Ausländerkriminalität" bezeichnet:
Wendel: "Genaue Statistiken darüber liegen allerdings nicht vor. Es dürfte aber so sein, dass ungefähr die Hälfte der Delikte, die Asylbewerbern zugerechnet werden, auf das Konto von Residenzpflicht gehen, also einfach nur, weil sie den ihnen zugewiesenen Landkreis verlassen haben."
Ein Grund dafür, dass Brandenburg sich jetzt beim Bund gegen die räumlichen Beschränkungen für Asylbewerber einsetzen will. Nach Ansicht der Fraktionen von SPD und LINKE sollte die Landesregierung außerdem alle eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Residenzpflicht zu lockern.
SPD und Linke begründeten ihren Antrag damit, dass Flüchtlinge schon für einen Besuch des Nachbarkreises eine Genehmigung brauchten. Das betrifft in Brandenburg 900 Asylbewerber und etwa 2600 geduldete Flüchtlinge. Bettina Fortunato von der Partei DIE LINKE:
"Die Residenzpflicht schränkt also so die sozialen Rechte, die Religionsausübung, kulturelle Rechte, aber auch politische ein und führt so zu einer Diskriminierung der Betroffenen, die meines Erachtens nach nicht gerechtfertigt ist. Für die Koalition gibt es zu diesem Thema eine eindeutige Auffassung und damit eine im Sinne der Betroffenen anzustrebende Lösung: Dazu müssen die Verantwortlichen mit den unmenschlichen Folgen der Residenzpflicht konfrontiert werden, angefangen von den lokalen Ausländerbehörde, den Landkreisen bis hin zu den Länderparlamenten und dem Bundestag."
AUT Bislang gibt es in Brandenburg nur zwischen wenigen Kommunen Ausnahmen von der grundlegenden Einschränkung der Freizügigkeit. Nach dem Willen der Fraktionen von SPD und LINKE sollte die Landesregierung auch prüfen, ob durch eine länderübergreifende Verwaltungsvereinbarung mit Berlin eine Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen in beiden Ländern möglich wäre.
Berlin und Brandenburg würden mit einer solchen Initiative als erste Länder die Residenzpflicht in einem sehr weiten Gebiet aufheben. Der neue Innenminister, der SPD-Politiker Rainer Speer, erklärte, man habe bereits mit dem Berliner Innensenator Ehrhart Körting, ebenfalls SPD, über Neuregelungen gesprochen.
Speer: "Kollege Körting hat auch schon einen Brief von mir, wo drin steht, dass ich der Auffassung bin, wir könnten auf der Grundlage einer Verwaltungsvereinbarung beide eine parallele Rechtsvereinbarung erlassen, die die Möglichkeit hervorruft, dass auch ein hier lebender Asylbewerber durch Berlin mit der S-Bahn nach Bernau fahren kann.
In Berlin wird diese Rechtssicht, die Brandenburg da hat, geprüft und ich hoffe, dass wir zu dem Ergebnis kommen, es so machen zu können."
Die Grünen in Brandenburg haben dem Antrag von SPD und LINKE zugestimmt, sie fordern schon seit Jahren eine Abschaffung der Residenzpflicht. Es sei "allerhöchste Zeit", sagte Marie Luise von Halem und bezeichnete die derzeitige Regelung als "eine der finstersten Seiten unseres Rechtsstaates".
Halem: "Was wir uns da ausgedacht haben, sucht europaweit seinesgleichen und ist nichts anderes als eine Fußfessel, die des Mittelalters würdig wäre. Von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern erwarten wir nach ihrer Anerkennung aktive Integrationsbemühungen. Völlig richtig!
Integration kann nur funktionieren, wenn von Seiten aller Beteiligten Schritte aufeinander zu gemacht werden. Und in diesem Sinne könnten wir ruhig mal darüber nachdenken, was wir mit der Residenzpflicht, der diese Menschen oft Jahre lang unterliegen, ihnen gegenüber für Zeichen setzen."
Die FDP hat sich für die Abschaffung der Residenzpflicht ausgesprochen, sich jedoch bei der Abstimmung enthalten.
Die CDU hat den Antrag abgelehnt. Innenexperte Sven Petke wies darauf hin, dass auch Missbrauch mit dem Asylrecht betrieben werde.
Petke: "Da geht es um Mehrfachmeldungen, verschiedene Identitäten, Verschleierung der Identität und anderes. Und dennoch haben wir in Brandenburg in der Vergangenheit Wege gefunden, die es dem Einzelnen eben nicht unmöglich gemacht haben, nach Berlin zum Arzt zu gehen, in Berlin eine Weiterbildung wahrzunehmen, in Berlin auch Freunde, Bekannte, Familienangehörige zu besuchen."
Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, Kirchen und Gewerkschaften hingegen kritisieren, die per Bundesgesetz festgeschriebene Residenzpflicht hindere Asylbewerber daran, Kontakt mit Landsleuten, Freunden oder ihrer Familie aufzunehmen, sich an - in ländlichen Gebieten dünn gesäte - Beratungsstellen oder Fachanwälte zu wenden oder auch einfach nur das Land kennenzulernen, von dem sie hoffen, dass es ihre neue Heimat wird. Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg:
"Die Ausnahmen sind, wenn zwingende Gründe vorliegen, beispielsweise eine Vorladung zu Gericht oder zu einer Behörde, oder wenn unbillige Härten dadurch geschaffen würden. Allein schon die Tatsache, dass ein Mensch für Reisen, auch private Reisen hier eine Erlaubnis beantragen muss, die ihm eventuell verweigert wird, allein schon so eine Kontrolle sehen wir als eine Verletzung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit."
Die Position des Bundes
In Brandenburg planen SPD und Linke also, die Residenzpflicht landesintern zu lockern, überlegen mit Berlin zu kooperieren – und sie wollen sich stark machen für eine Abschaffung der Regelung auf Bundesebene. Ähnliche Töne, das haben wir eingangs gehört, kommen auch aus Schleswig-Holstein. Dort hieß es von Seiten der FDP allerdings auch: erstmal ist der Bund gefragt. Wir wollten wissen, wie denn die Politiker auf Bundesebene zu dem Thema Stellung beziehen – Jens Rosbach hat nachgefragt und herausgefunden, dass die Residenzpflicht auch im Deutschen Bundestag ein heißes Thema ist - im Regierungslager wie auch bei der Opposition.
Die Regierungsfraktionen planen, die Residenzpflicht zu lockern. Union und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, "eine hinreichende Mobilität" zu ermöglichen "insbesondere in Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme" Die Formulierung ist allerdings ein Kompromiss - die Liberalen hätten sich mehr gewünscht.
Hartfrid Wolff: "Wir sehen die Residenzpflicht durchaus kritischer als unser Koalitionspartner, und das ändert aber nichts daran, dass wir innerhalb einer Koalition sind und alleine nichts durchsetzen können."
Hartfrid Wolff ist migrationspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag. Wolff will nicht nur mehr Mobilität für Flüchtlinge auf Jobsuche, sondern auch für Flüchtlinge mit sozialen Problemen.
"Wenn es darum geht, dass ich Fachberatung bekomme, die es vielleicht nur außerhalb des Residenzbereiches gibt. Wenn es darum geht, beispielsweise auch Schutz zu finden bei Frauen, die darunter leiden, dass sie zu Hause vielleicht geschlagen werden, dass das Frauenhaus aber beispielsweise nicht in dem Residenzbereich liegt - also es gibt durchaus sowohl Arbeitsmarktthemen als aber auch eben humanitäre Gründe, um an der Residenzpflicht das ein oder andere in Frage zu stellen."
Der Bundestagsopposition gehen diese Vorschläge allerdings nicht weit genug. So fordert der migrationspolitische Sprecher der SPD, Rüdiger Veit, die komplette Streichung des Reiseverbotes.
Veit: "Die Residenzpflicht ist ein Relikt aus der Zeit, wo man versucht hat, mit jedem denkbaren Repressionselement zu verhindern, dass noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen – die würde ich gerne ganz abschaffen wollen."
Veit hält die geplante Lockerung der Residenzpflicht für überflüssig, weil es bereits jetzt Härtefallregeln gebe - etwa für die Arbeitsaufnahme.
Veit: "Es gibt also heute schon die Möglichkeit, das vor Ort flexibler zu
handhaben. Man kann die entsprechenden Ausnahmen auch nach der geltenden Rechtslage zulassen."
CDU/CSU und FDP – grundsätzlich pro Residenzpflicht, SPD – contra
Residenzpflicht. Allerdings verfolgen die bundespolitischen Gegner auch ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die bestehenden Wohn-Auflagen für Flüchtlinge beibehalten. Denn nach geltendem Recht unterliegen viele Ausländer nicht nur einer Reisebeschränkung, sondern auch einer "Wohnsitzbindung".
Das heißt: Ein Ausländer, der überall hinfahren kann, darf noch lange nicht überall wohnen. Der FDP-Politiker Hartfrid Wolff etwa will durch eine Wohnsitzbindung sicher stellen, dass die Behörden jederzeit Migranten ohne Aufenthaltsrecht erreichen – und notfalls abschieben können.
Wolff: "Im Notfall heißt das auch eine Rückführung, ja."
Anders die Begründung der SPD für das Festhalten an der Wohnsitzbindung. Migrationsexperte Rüdiger Veit erklärt, eine freie Adress-Wahl sei aus kommunalpolitischen Gründen nicht möglich.
Veit: "Sonst würden sich bestimmte Flüchtlingsströme oder auch Asylbewerber bevorzugt in wenigen Bereichen Deutschlands aufhalten. Die Konsequenz wäre, dass es möglicherweise zu sozialen Unverträglichkeiten in der Unterbringung, in der Integration kommen könnte und natürlich auch, was die Frage von Sozialleistungen angeht, einzelne Kommunen stärker belastet wären als andere."
Allerdings ist sich auch die Opposition im Bundestag nicht einig: So verlangen die Bündnisgrünen nicht nur die Abschaffung der Residenzpflicht, sondern auch der Wohnsitzbeschränkungen. Sie verweisen dabei auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2008.
Demnach darf zumindest Asylberechtigten kein Wohnort vorgeschrieben werden, nur um einem anderen Bundesland die Sozialhilfe-Zahlungen zu ersparen. Josef Winkler, der migrationspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, fordert einen Lastenausgleich.
Winkler: "Dann ist es den an den Bundesländern, dafür zu sorgen, dass eben gemessen wird, wo die entsprechenden Ausgaben entstehen und dass dann eben nicht die Asylbewerber umverteilt werden oder die Anerkannten oder die Geduldeten, sondern dass eben dann die Kosten umverteilt werden."
Genauso wie die Grünen, plädieren auch Vertreter der Linkspartei für eine Streichung von Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen. Wie geht es weiter? Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hält - trotz der Kritik - an der Wohnsitzbeschränkung fest, will aber die Residenzpflicht liberalisieren, vor allem für eine Arbeitsaufnahme. Das Bundesinnenministerium befragt derzeit die einzelnen Landesregierungen, wo genau "Regelungsbedarf" bestehe. In einem zweiten Schritt soll das Asylverfahrensgesetz überarbeitet werden.
Nach Ansicht des Oppositionspolitikers Josef Winkler reichen die vorgesehenen Änderungen allerdings nicht aus. Nur in Deutschland gebe es so strenge Adress- und Residenzauflagen für Flüchtlinge, klagt der Grüne.
Winkler: "Es gilt aber auch noch das europäische Recht, und auch dort gibt es ja Klagen, die anhängig sind beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, und da rechnen wir damit, dass auch diese Dinge aufgehoben werden, weil sie eben europaweit einmalig sind und nicht begründbar ist, warum es in Deutschland als einzigem Land nicht funktionieren soll, was in allen anderen Staaten funktioniert."