Stefan Kühl, Soziologe und Historiker, ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater für Ministerien, Verwaltungen und Unternehmen. Sein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der "brauchbaren Illegalität" von Organisationen. Jüngst erschienene Bücher: "Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur" (Campus 2015) und "Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche und Aberglauben im Konzept der lernenden Organisation" (Campus 2015). www.metaplan.com
Hauptsache irgendwas 4.0
Kühlschränke, die intelligenter sind als wir, oder der "Robo-Boss" als Vorgesetzter: Viele tolle Zukunftstrends stehen angeblich kurz davor, Wirklichkeit zu werden. Hauptsache Hype und Hauptsache irgendwas 4.0. Doch wenig davon dürfte wahr werden, meint Stefan Kühl.
Man kann in den Diskussionen über künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Robotik einen neuen Erregungszustand erkennen. Da ist die Rede vom Kühlschrank, der automatisch Lebensmittel nachbestellt - von virtuellen Shopping-Assistenten, die die Bedürfnisse besser kennen als ihre Benutzer, von einer intelligenten dezentralen Energieversorgung, die sich automatisch dem Bedarf anpasst, von Teams aus Robotern, die in absehbarer Zeit Fußball-Weltmeister werden, und von Kommunikationen, die zwischen Internet-Bots abgewickelt werden, ohne dass die Menschen das überhaupt mitbekämen.
Durch die Nutzung von Big Data, klugen Algorithmen und lernenden Maschinen würde sich – so wenigstens die Annahme – die Arbeitsweise in Organisationen grundlegend verändern. Entscheidungen würden nicht mehr vorrangig von Managern getroffen werden, sondern "Robo-Bosse" würden auf der Basis von Algorithmen Geschäftsstrategien entwickeln. Organisationen, so wie wir sie kennen, lösten sich auf, weil man über die technischen Möglichkeiten verfügt, mit geringen Koordinationskosten ein Produkt oder eine Dienstleistung über Netzwerke von Ein-Personen-Unternehmern erbringen zu lassen.
Die meisten Visionen bleiben Hirngespinste
Aber wie realistisch sind solche Prognosen? Geschichtswissenschaftliche Forschungen über Zukunftsprognosen haben jedoch gezeigt, dass die meisten Visionen Hirngespinste bleiben. Die Voraussagen werden im Nachhinein zwar so zurechtinterpretiert, dass man den Eindruck bekommt, dass hier Trendforscher über hellseherische Fähigkeiten verfügt haben. Aber ein genauer Blick zeigt, dass richtige Voraussagen technischer Entwicklungen eine äußerst seltene Ausnahme sind. Die Geschichte der Trendforschung, der Technikfolgenabschätzung und der Zukunftsprognostik ist eine Geschichte von Irrungen und Wirrungen.
Das Problem ist dabei in vielen Fällen gar nicht die technische Machbarkeit, sondern die lebensweltlichen Umsetzung. Die Vision des mit einem Lieferservice kommunizierenden Kühlschranks scheitert nicht an der Technik, sondern an den wechselnden Konsumbedürfnissen der Kühlschrankbesitzer. Die Probleme einer intelligenter dezentralen Energieversorgung bestehen nicht in der Technik, sondern darin, dass eine vor über hundert Jahren eingeführte zentrale Energieversorgung kaum Raum für dezentrale Lösungen lässt. In den Sozialwissenschaften spricht man von einem Lock-in-Effekt, der die Etablierung neuer – manchmal auch überlegener – Techniken verhindert.
Science Fiction oder Journalismus
Wir brauchen in der Diskussion über künstliche Intelligenz und Robotik dringend ein Realismusgebot. Statt intensiv darüber zu spekulieren, was technisch möglich sein wird, sollten wir uns darauf konzentrieren, zu analysieren, wie die bereits existierenden neuen Techniken wirken. Konkret würde ein solches Realismusgebot bedeuten, dass Manager die Power-Point-Präsentationen konsequent um den Visionsanteil bereinigen und stattdessen konkret die neuen Techniken beschreiben. Berater dürften sich in ihren Befragungen nicht mehr darauf konzentrieren, Manager nach Trends zu befragen, die sich dann in Publikationen als Bedrohungsszenario aufbauen lassen, sondern müssten sich auf die Details der konkreten technischen Veränderungen konzentrieren. Journalisten müssten, wenn sie über "mögliche" technische Entwicklungen schreiben wollen, konsequenterweise in das Genre der Science-Fiction-Literatur wechseln.
Sicherlich, es wäre naiv davon auszugehen, dass es keine grundlegenden technischen Veränderungen gibt. Die Automatisierungstechnik sowohl im Produktions- als auch im Dienstleistungsbereich macht erhebliche Fortschritte. In einigen Branchen verändert die Digitalisierung die Geschäftsmodelle von Unternehmen erheblich. Die Geschichte des Kapitalismus ist immer schon auch eine Geschichte von durch technische Innovationen getriebenen Marktveränderungen gewesen. Aber gerade deswegen ist der Realitätsbezug in der Beschreibung der Techniken so wichtig.