Mehr soziale Ungleichheit führt zu mehr Gewalt

Helmut Thome im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler |
Die soziale Ungleichheit habe in den letzten zehn Jahren stark zugenommen und damit auch "Versagenserlebnisse" und Demütigungen, sagt der Soziologe Helmut Thome. "Und Demütigungen sind häufig das Saatbeet für gewalttätige Äußerungen", betont Thome. Solange die soziale Ungleichheit wachse, steige auch die Gewaltkriminalität an.
Jan-Christoph Kitzler: Das sind Meldungen, die man am liebsten gar nicht hören will: Am Sonntagmorgen wurde am Berliner Alexanderplatz ein 20-Jähriger von einer Gruppe Männer brutal zusammengeschlagen, offenbar ohne besonderen Grund. Der Mann ist gestern an seinen schweren Verletzungen gestorben. Solche Meldungen schockieren regelmäßig, und dennoch: Gewalt gehört offenbar dazu in unserer Gesellschaft, Gewalt im öffentlichen Raum, nicht nur in Berlin. Und man hat das Gefühl, das wird immer mehr, die Taten werden immer brutaler.

Leben wir in einer Gesellschaft, in der die Hemmschwelle, anderen Menschen wehzutun, kontinuierlich sinkt? Und warum ist das so? Das hat der Soziologe Helmut Thome von der Universität Halle für die Zeit seit den 50er-Jahren erforscht. Er ist jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Tag!

Helmut Thome: Guten Tag!

Kitzler: Stimmt dieses Gefühl überhaupt – gibt es immer mehr, immer brutalere Gewalttaten in Deutschland?

Thome: Das kann man so eigentlich nicht behaupten. Es gibt einen Anstieg der Gewaltkriminalität seit den 50er-Jahren, aber die Schwere dieser Gewaltkriminalität hat im Allgemeinen nicht zugenommen. Gerade bei den besonders schweren Gewalttaten gibt es eher sogar tendenziell einen Rückgang, zum Beispiel bei den Tötungsdelikten allgemein gibt es einen Rückgang seit den 90er-Jahren. Auch bei Vergewaltigungsdelikten haben wir zumindest keinen Anstieg. Und bei sexuellem Missbrauch von Kindern, Tötungsdelikten bei Kindern haben wir auch heute ein niedrigeres Niveau als in den 50er-, 60er-Jahren.

Kitzler: Aber wenn die Zahl der Gewalttaten insgesamt steigend ist seit den 50er-Jahren, sagen Sie – woran liegt das? Sind wir sensibler, werden mehr Taten gemeldet?

Thome: Das ist eine Erklärung, die man häufig hört, die aber, glaube ich, nicht überzeugend ist. Es gibt einige Opferbefragungen, wo ja auch immer nachgefragt wird: Haben Sie diese Tat gemeldet oder würden Sie sie melden oder nicht melden? Und da gibt es, ja, eine gewisse Tendenz des Anstiegs, aber der ist viel geringer als der Anstieg der registrierten Gewaltkriminalität. Also kann man es damit nicht erklären.

Kitzler: Würden Sie so weit gehen und sagen, der Anstieg der Gewalt ist vor allem auch ein Medienphänomen?

Thome: Sie meinen, die Medien berichten darüber, aber wie gesagt, sie können ja immer nur über geschehene Fälle berichten. Das erzeugt dann den Eindruck oft eines Anstiegs, weil es spektakulär herausgestellt wird, aber dieser Eindruck, wie gesagt, der täuscht. Ach so, und wie gesagt: Die allgemeine Gewaltkriminalität, die ist in der Tat angestiegen, da gibt es auch bei Körperverletzungsdelikten keinen Rückgang in den letzten zehn Jahren, bei Raubdelikten ja, aber nicht bei Körperverletzungsdelikten. Also es gibt diesen Anstieg, aber wie gesagt, die Schwere der Gewaltkriminalität hat nicht zugenommen, allgemein nicht zugenommen.

Kitzler: Wie würden Sie das klassifizieren? Kann man sagen, unsere Gesellschaft wird immer brutaler?

Thome: Nein, das kann man sicherlich nicht sagen. Ich glaube, dass die Ächtung der Gewalt weiterhin wirksam ist, und das zeigt sich eben darin, dass gerade bei den schweren Gewaltverbrechen kein Anstieg seit den 90er-Jahren zu beobachten ist, sondern, wie gesagt, eher sogar tendenziell ein Rückgang. Also, dass die Gesellschaft immer brutaler wird, trifft sicherlich nicht zu.

Kitzler: Gewalt ist ja möglicherweise irgendwie auch menschlich, kann man vielleicht sagen. Kann es sein, dass in unserer heutigen Gesellschaft auch vielleicht gerade bei Männern Möglichkeiten zum Abbau von Aggressivität fehlt?

Thome: Da, ja, gibt es einige Spekulationen. Ich glaube, ein wichtiger Punkt ist der, dass in den letzten 20 Jahren insgesamt in fast allen westlichen Ländern und auch in Deutschland – mit etwas Verzögerung, aber jetzt hier in den letzten zehn Jahren auch besonders stark – die soziale Ungleichheit zugenommen hat. Es haben also Versagenserlebnisse zugenommen, Demütigungen auch. Gerade weil wir mehr Chancengleichheit haben als früher, ist natürlich das nicht erfolgreiche Handeln, das Versagen, wie es dann gekennzeichnet wird, besonders schwerwiegend und führt zu besonders schweren Demütigungen. Und Demütigungen sind häufig das Saatbeet für gewalttätige Äußerungen.

Kitzler: Das heißt also mit anderen Worten: Die Chancengerechtigkeit – dass Menschen, die auf die Schule gehen, theoretisch alles erreichen können –, die ist offenbar keine Lösung gegen die Gewalt?

Thome: Nein. Dieses Problem wird durch vermehrte Bildungsexpansion, vermehrte Bildung nicht gelöst, denn das bedeutet auch, dass es immer mehr Bildungsverlierer geben wird – das haben auch die Bildungsforscher so festgestellt –, und vor allem: Wer jetzt Verlierer ist, dem wird dies als individueller Makel zugerechnet.

Das heißt, er leidet darunter ganz anders als die Gruppe der Arbeiterkinder, die früher nur Volksschule gemacht haben. Sie blieben in der Gruppe und in der Gruppensolidarität drin, und es war nicht verachtenswert, nur die Volksschule abgeschlossen zu haben, man hatte auch andere Berufszugänge, die hat man heute nicht. Heute kann man mit Mittelschulabschluss keine Banklehre mehr erfolgreich bestreiten, man wird gar nicht reingelassen. Das heißt, es verschiebt sich.

Also: Individueller Wettbewerbsdruck verstärkt sich, und die Verlierer stehen heute schlechter da als früher, individuell. und das führt natürlich zu vermehrten Demütigungserfahrungen: Die Abwertung derer, die das nicht geschafft haben, die nimmt zu.

Kitzler: Wäre das auch der richtige Ansatz, wenn man sich darum kümmert: Wie kann man künftig solche Gewaltentwicklungen verhindern?

Thome: Ja, also ich glaube, das ist eine ziemlich sichere Prognose: Wenn die soziale Ungleichheit weiterhin zunimmt, wird das auch weiterhin zu einem Anstieg der Gewaltkriminalität führen. Und da gibt es natürlich dann bestimmte Gegenmaßnahmen, die man auch bei bestehender Ungleichheit ergreifen kann: Man kann in den Schulen Präventionsprogramme laufen lassen, die Polizei kann geschickter vorgehen, auch in Kooperation zum Beispiel mit Schulen. Das hat auch schon gewisse Erfolge gezeitigt. Also einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Körperverletzungen in den Schulen bei Raufereien und so weiter nachgelassen haben in den letzten 10, 15 Jahren, na ja, eher 10 Jahren. Das ist auch sicherlich ein gewisser Effekt von Präventionsprogrammen.

Aber damit wird ja nicht das grundsätzliche strukturelle Potenzial für Gewaltkriminalität beseitigt, sondern wenn diese soziale Ungleichheit weiter zunimmt, dann wird dieses Potenzial eben auch damit zunehmen.

Kitzler: Der Soziologe Helmut Thome über Gewalt im öffentlichen Raum. Haben Sie vielen Dank!

Thome: Bitte sehr!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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