Mehr Wissen, mehr Handlungsfreiheit?
Die Welt ist alles, was der Fall ist. Philosophen machen es sich leicht, wenn sie dergleichen ex cathedra dekretieren. Was aber, so beschleicht einen zunehmend häufiger der Zweifel, ist der Fall?
Hat die Klimakatastrophe schon begonnen oder handelt es sich um normale Schwankungen, die sich wieder einrenken? Ist durch den Euro alles teurer geworden oder bilden wir uns das nur ein? Gibt es wirklich eine neue Armut in der Gesellschaft oder geht es allen immer besser? Sind Tomaten aus dem Supermarkt gesund, ist ein hoher Cholesterinspiegel oder ist die Nutzung von Mobiltelefonen gefährlich, soll man die Kinder studieren lassen, im Angesicht der Benzinpreise noch ein Auto kaufen, den Versprechungen des Versicherungsagenten, den Beteuerungen des Ehegatten, den Prognosen der Wirtschaftsweisen glauben? Sind die alltäglichen Zipperlein Vorboten einer ernsthaften Krankheit oder nur die normale Begleiterscheinung des Älterwerdens?
Ja, nein, weiß nicht oder ist mir egal – diese Möglichkeiten stehen zur Wahl. Was einer glaubt, für wichtig und richtig hält, wird allmählich zusehends beliebig. Dabei war es nie einfacher sich kundig zu machen, Informationen einzuholen und alle Aspekte in Rechnung zu stellen. Experten rufen die Wissensgesellschaft aus. Wissen – der neue Rohstoff, der sich selbst vermehrt, eine nie versiegende, stattdessen immer stärker sprudelnde Quelle.
Aber Wissen wozu? Führt mehr Wissen auch zu mehr Handlungsfreiheit? Wissen sei Macht, hieß es, aber nur solange ich etwas weiß, was du nicht weißt. In der Gesellschaft des inflationären Wissens stiftet jede zusätzliche Information eher Verwirrung und jede weitere Dramatisierung fördert die Empfindungslosigkeit. Was hilft es da, sich über das Weltgeschehen kundig zu machen – hat jemand eine Idee, wie die täglichen Katastrophen aus den Abendnachrichten verhindert werden können? Hunger, Bürgerkriege, Umweltzerstörung, Flüchtlingsströme, Gemetzel am anderen Ende der Welt rauschen täglich an jedem, der es sehen und hören will, folgenlos vorbei.
Das war eigentlich so nicht vorgesehen. Wissen im Zeitalter seiner industriell medialen Vervielfältigung hat mit dem, was man einmal damit bezeichnete, nicht mehr viel zu tun. Der Übergang von bloßer Meinung zu Gewissheit war der Idee nach geknüpft an den sozialen Verkehr der Menschen untereinander. Die zentralen Fragen: Was sollen wir tun, wie sollen wir leben, wofür sollen wir uns – als Einzelne und als Gesellschaft – entscheiden, sollten ihre vernünftigen Antworten im Austausch und Wettstreit der Meinungen, des argumentativen Für und Wider finden, wobei man notfalls in Reichweite der fünf Sinne anhand der Beschaffenheit der konkreten Welt das eine oder andere auch auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen konnte.
Heute ist davon keine Rede mehr. Bestenfalls wird per TED abgestimmt: macht die Große Koalition ihre Arbeit gut – ja, nein. Kein Argument, nur mehr addierte Reflexe. In anderen Bereichen haben sich smarte Experten in den entstandenen Wissens- und Gewissheitslücken eingenistet. Analysten und andere Hohepriester der Wissensgesellschaft verteilen gegen gutes Geld Zertifikate mit Wahrheitsgarantie. Für den kleinen Mann und seine Frau tun es auch die Lebensberater, die ihre Gütesiegel für richtige Erziehungspraktiken oder Beziehungsgestaltung anpreisen. Wenn man diesem Humbug nicht glauben will, warum dann nicht gleich würfeln? Ganz einfach, weil dass unter den Bedingungen einer fragmentierten Welt dem Anerkenntnis gleich käme, dass es ohnehin keinen großen Unterschied macht, was man sich denkt, bevor man handelt.
Vielleicht erklärt dieses Phänomen einer strukturellen Verunsicherung, einer Entwertung des eigenen Sensoriums und das damit zusammenhängende Empfinden von Ohnmacht auch die leichte Entflammbarkeit der öffentlichen Erregung. Möglicherweise wachsen auf diesem Boden die derzeit immer populärer werdenden Ideen, dass Strafe notwendig und Verbote nützlich seien, dass Ordnung einzukehren habe und man alle, die sich dieser Ordnung widersetzen, genüsslich dem Scheiterhaufen öffentlicher Missbilligung zuführen müsse. Vielleicht stammt daher die voyeuristische Lust, die sich breit macht, wenn jene, die es nicht anders verdient haben, ihr gerechtes Schicksal erleiden, wenn die Langzeitarbeitslosen und all diejenigen, die von den sozialen Zentrifugalkräften des sich immer schneller drehenden Karussells dieser Gesellschaft heruntergeschleudert werden, unter Kuratel gestellt werden. Wenn alles unübersichtlich wird, dann sucht man Halt bei denen, die so sind, wie man selbst. Vielfalt wirkt bedrohlich, Andersartigkeit ist gefährlich. Wenn die Grenzen des eigenen Horizonts durch die Nötigungen der Informationsflut und die kulturelle Unordnung zwangsweise erweitert werden, dann hilft nur eines: Schotten dicht. Anzuerkennen, dass die Dinge austauschbar, Entscheidungen nur mehr vorläufig, die eigene Zukunft unsicher ist, erfordert eine psychische Stabilität und mentale Kapazität, die nicht jedem gegeben ist. Wenn dann Sicherheiten nur mehr aus der Verneinung und Ablehnung des andersartigen Anderen erwachsen, hat die soziale Vernunft und die Besinnung auf das, was sie zu bieten hätte, wenig Chancen. Vielleicht ist aber die nostalgische Hoffnung auf ein menschliches Maß sozial vernünftigen Wissens auch nur eine Variation des alten christlichen Topos von der Vertreibung aus dem Paradies. Wir haben uns dummerweise die falschen Früchte vom Baum der Erkenntnis andrehen lassen und jetzt haben wir den Salat.
Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Kreissl lebt in München und Wien.
Ja, nein, weiß nicht oder ist mir egal – diese Möglichkeiten stehen zur Wahl. Was einer glaubt, für wichtig und richtig hält, wird allmählich zusehends beliebig. Dabei war es nie einfacher sich kundig zu machen, Informationen einzuholen und alle Aspekte in Rechnung zu stellen. Experten rufen die Wissensgesellschaft aus. Wissen – der neue Rohstoff, der sich selbst vermehrt, eine nie versiegende, stattdessen immer stärker sprudelnde Quelle.
Aber Wissen wozu? Führt mehr Wissen auch zu mehr Handlungsfreiheit? Wissen sei Macht, hieß es, aber nur solange ich etwas weiß, was du nicht weißt. In der Gesellschaft des inflationären Wissens stiftet jede zusätzliche Information eher Verwirrung und jede weitere Dramatisierung fördert die Empfindungslosigkeit. Was hilft es da, sich über das Weltgeschehen kundig zu machen – hat jemand eine Idee, wie die täglichen Katastrophen aus den Abendnachrichten verhindert werden können? Hunger, Bürgerkriege, Umweltzerstörung, Flüchtlingsströme, Gemetzel am anderen Ende der Welt rauschen täglich an jedem, der es sehen und hören will, folgenlos vorbei.
Das war eigentlich so nicht vorgesehen. Wissen im Zeitalter seiner industriell medialen Vervielfältigung hat mit dem, was man einmal damit bezeichnete, nicht mehr viel zu tun. Der Übergang von bloßer Meinung zu Gewissheit war der Idee nach geknüpft an den sozialen Verkehr der Menschen untereinander. Die zentralen Fragen: Was sollen wir tun, wie sollen wir leben, wofür sollen wir uns – als Einzelne und als Gesellschaft – entscheiden, sollten ihre vernünftigen Antworten im Austausch und Wettstreit der Meinungen, des argumentativen Für und Wider finden, wobei man notfalls in Reichweite der fünf Sinne anhand der Beschaffenheit der konkreten Welt das eine oder andere auch auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen konnte.
Heute ist davon keine Rede mehr. Bestenfalls wird per TED abgestimmt: macht die Große Koalition ihre Arbeit gut – ja, nein. Kein Argument, nur mehr addierte Reflexe. In anderen Bereichen haben sich smarte Experten in den entstandenen Wissens- und Gewissheitslücken eingenistet. Analysten und andere Hohepriester der Wissensgesellschaft verteilen gegen gutes Geld Zertifikate mit Wahrheitsgarantie. Für den kleinen Mann und seine Frau tun es auch die Lebensberater, die ihre Gütesiegel für richtige Erziehungspraktiken oder Beziehungsgestaltung anpreisen. Wenn man diesem Humbug nicht glauben will, warum dann nicht gleich würfeln? Ganz einfach, weil dass unter den Bedingungen einer fragmentierten Welt dem Anerkenntnis gleich käme, dass es ohnehin keinen großen Unterschied macht, was man sich denkt, bevor man handelt.
Vielleicht erklärt dieses Phänomen einer strukturellen Verunsicherung, einer Entwertung des eigenen Sensoriums und das damit zusammenhängende Empfinden von Ohnmacht auch die leichte Entflammbarkeit der öffentlichen Erregung. Möglicherweise wachsen auf diesem Boden die derzeit immer populärer werdenden Ideen, dass Strafe notwendig und Verbote nützlich seien, dass Ordnung einzukehren habe und man alle, die sich dieser Ordnung widersetzen, genüsslich dem Scheiterhaufen öffentlicher Missbilligung zuführen müsse. Vielleicht stammt daher die voyeuristische Lust, die sich breit macht, wenn jene, die es nicht anders verdient haben, ihr gerechtes Schicksal erleiden, wenn die Langzeitarbeitslosen und all diejenigen, die von den sozialen Zentrifugalkräften des sich immer schneller drehenden Karussells dieser Gesellschaft heruntergeschleudert werden, unter Kuratel gestellt werden. Wenn alles unübersichtlich wird, dann sucht man Halt bei denen, die so sind, wie man selbst. Vielfalt wirkt bedrohlich, Andersartigkeit ist gefährlich. Wenn die Grenzen des eigenen Horizonts durch die Nötigungen der Informationsflut und die kulturelle Unordnung zwangsweise erweitert werden, dann hilft nur eines: Schotten dicht. Anzuerkennen, dass die Dinge austauschbar, Entscheidungen nur mehr vorläufig, die eigene Zukunft unsicher ist, erfordert eine psychische Stabilität und mentale Kapazität, die nicht jedem gegeben ist. Wenn dann Sicherheiten nur mehr aus der Verneinung und Ablehnung des andersartigen Anderen erwachsen, hat die soziale Vernunft und die Besinnung auf das, was sie zu bieten hätte, wenig Chancen. Vielleicht ist aber die nostalgische Hoffnung auf ein menschliches Maß sozial vernünftigen Wissens auch nur eine Variation des alten christlichen Topos von der Vertreibung aus dem Paradies. Wir haben uns dummerweise die falschen Früchte vom Baum der Erkenntnis andrehen lassen und jetzt haben wir den Salat.
Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Kreissl lebt in München und Wien.