Mehrdeutigkeit statt Propaganda
Leonard Freed ist ein sensibler Chronist des Alltäglichen. Nicht Stars, Katastrophen oder Spektakuläres stehen im Fokus, sondern Porträts von Menschen in ihrer Umgebung. Die Fotografien sind vielseitig zu interpretieren - ganz im Sinne Leonard Freeds: "Je mehrdeutiger eine Fotografie ist, umso besser ist sie. Andererseits wäre sie Propaganda.”
1963 - der Sommer in New York ist heiß: Zwei schwarze Kinder stehen barfuss lachend vor einem Hydranten und lassen sich von dem fächerartigen Wasserstrahl nass spritzen. Das ältere Mädchen hält den Jungen vor sich fest umarmt. Die ganze Straße in Harlem ist unter Wasser. Es scheint fast so, als ob die Häuser aus dem Bild gleiten. Diese Schwarz-Weiß-Aufnahme von Leonard Freed ist eine Ikone der Fotografie. Es ist nicht nur der sorglose Moment, den Leonard Freed einfängt, es ist die elegante Komposition, die dieses Bild berühmt gemacht hat, sagt seine Frau Brigitte:
"Es ist ein Schuss und dann die Vitalität. Dieses Wasserspray. Viele Modefotografen und Reklamefotografen wollen das kopieren, die kriegen das nie so hin. Seine Bilder kann man nicht kopieren, sie sind einmalig."
Einmalig auch, weil sein Blick auf Menschen ungewöhnlich ist. 1952 reist der junge Amerikaner aus Brooklyn nach Europa. Er fotografiert Straßenszenen in Amsterdam, Rom, Neapel und den Karneval in Köln: Eine ausgelassene Menschenmenge vor dem Dom. Die Leute sind kaum verkleidet. Es wird gerempelt und geschubst, doch man scheint sich zu amüsieren. Leonard Freed ist auf der Suche nach Motiven, die ein anderes Nachkriegsdeutschland zeigen - fern von Konzentrationslagern, Ruinen und Trümmerfrauen. Brigitte Freed:
"Er sagte immer selbst in Interviews, dass man eine Krankheit überwinden muss. Am besten, wenn man sich das zum Ziel setzt, das zu überwinden. Er nannte das immer Krankheiten. Das ganze Denken über die Deutschen, und man muss das halt erleben. Man muss die Deutschen erleben, und er hat natürlich mich erlebt und die ganze Familie. Ich war die einzige Nicht-Jüdische und auch noch deutsch."
Seine Frau - eine Deutsche - heiratet Leonard Freed erst, nachdem er sich die Fotoalben der Familie Klück in Dortmund hat zeigen lassen. Die Familie besteht die private Entnazifierung. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Leonard Freed ist Jude, allerdings nicht religiös. 1958 zieht das Ehepaar nach Amsterdam. Von hier aus unternimmt Leonard Freed seine Touren durch Europa.
Er fotografiert das Grubenunglück in der belgischen Stadt Charleroi, die Beerdigung von zweihundert Bergmännern. Freed nimmt aus zwei weitgeöffneten Fenstern die Trauerzeremonie auf. Aus dem linken Fenster blickt man auf die Massen, die sich vor dem Altar versammelt haben. Aus dem rechten Fenster sieht man Menschen, die einem Lkw mit drei Särgen folgen. Eine Aufnahme, in der der Betrachter viel entdecken kann. Ein einziges Bild, das die Tragik einer Arbeitswelt wiedergibt, die in Westeuropa heute kaum noch existiert:
"Je mehr ambigeous, je mehr vielseitiger ein Bild zu interpretieren ist, um so besser ist es. Wenn es sofort etwas sagt, ist es Propaganda. Also, wenn man viele Auslegungen haben kann für ein Bild, eigene Gedanken. Das meint auch, dass man sich mehr mit dem Bild beschäftigt - anders als Modefotos, das ist die neue Mode."
Modefotos hat er auch gemacht. Doch berühmt wird Leonard Freed durch seine Reportageserien, zum Beispiel über das jüdische Leben in Deutschland. Freed fotografiert in der Synagoge einen Besucher beim Gebet. Zu sehen sind nur seine Hände, die das Gebetbuch und drei Fotografien halten: Aufnahmen von ermordeten Familienmitgliedern.
Ein anderes Thema ist der Mauerbau in Berlin. Eine Fotografie zeigt einen schwarzen GI - einsam vor der Mauer stehend. Eine Schlüsselszene, die Freed veranlasst - 1963 - in die USA zurückzukehren. Hier in Deutschland verteidigt ein junger Schwarzer die Freiheit der westlichen Welt, während in seiner Heimat der Rassismus der Weißen sie verletzt, diskriminiert - ja tötet. Es ist das Jahr der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Leonard Freed dokumentiert mit seiner Leica den Kampf um Anerkennung, um Gleichberechtigung und Freiheit.
In Amerika taucht der Fotograf Leonard Freed aber auch immer tiefer in die Schattenwelten seiner Gesellschaft ein. Für das Sunday Times Magazine realisiert er eine Reportage über Gewalt und über die Polizeiarbeit in New York. Kurator Felix Hoffmann über Leonard Freeds Gespür für die Themen seiner Zeit.
"Es gibt diese Serie ‚Black In White America’. Was mich wahnsinnig fasziniert, ist beispielsweise, dass er jemanden fotografiert, einen Schwarzen auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens – und ihn aber nicht portraitiert von vorne. Man sieht nur die gefesselten Hände, die auf dem Rücken gebunden sind, die nackten Oberarme. Oder eine Leiche, zwischen den Kühlerhauben von irgendwelchen Cadillacs am Boden liegend – herausragend, das ist schon ganz große Fotografie."
In der Berliner Ausstellung wird deutlich, wie sehr Leonard Freed sich und seine Arbeit mit der Welt in Beziehung setzt: Als Jude im Nachkriegsdeutschland, als Atheist zu den Lebenswelten der jüdischen Gemeinden in Europa und Israel, als weißer US-Bürger in Beziehung zur schwarzen Community.
Er selbst sagte, dass die Kamera für ihn die Couch beim Psychiater ersetze. 2006 starb der sensible Chronist Leonard Freed an einer Krebserkrankung, im Alter von 77 Jahren. Seine letzte Fotoserie ist in der Ausstellung ebenfalls zu sehen. Fünf Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen sein Haus in Garrison, New York. Die Wäsche hängt im Wind und seine weiße Katze Diana stolziert über das Dach. Auch hier ist Leonard Freed ganz der Jäger. Auf der Lauer liegend, bis sich die Szene ereignet, die er "schießen" will.
"Es ist ein Schuss und dann die Vitalität. Dieses Wasserspray. Viele Modefotografen und Reklamefotografen wollen das kopieren, die kriegen das nie so hin. Seine Bilder kann man nicht kopieren, sie sind einmalig."
Einmalig auch, weil sein Blick auf Menschen ungewöhnlich ist. 1952 reist der junge Amerikaner aus Brooklyn nach Europa. Er fotografiert Straßenszenen in Amsterdam, Rom, Neapel und den Karneval in Köln: Eine ausgelassene Menschenmenge vor dem Dom. Die Leute sind kaum verkleidet. Es wird gerempelt und geschubst, doch man scheint sich zu amüsieren. Leonard Freed ist auf der Suche nach Motiven, die ein anderes Nachkriegsdeutschland zeigen - fern von Konzentrationslagern, Ruinen und Trümmerfrauen. Brigitte Freed:
"Er sagte immer selbst in Interviews, dass man eine Krankheit überwinden muss. Am besten, wenn man sich das zum Ziel setzt, das zu überwinden. Er nannte das immer Krankheiten. Das ganze Denken über die Deutschen, und man muss das halt erleben. Man muss die Deutschen erleben, und er hat natürlich mich erlebt und die ganze Familie. Ich war die einzige Nicht-Jüdische und auch noch deutsch."
Seine Frau - eine Deutsche - heiratet Leonard Freed erst, nachdem er sich die Fotoalben der Familie Klück in Dortmund hat zeigen lassen. Die Familie besteht die private Entnazifierung. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Leonard Freed ist Jude, allerdings nicht religiös. 1958 zieht das Ehepaar nach Amsterdam. Von hier aus unternimmt Leonard Freed seine Touren durch Europa.
Er fotografiert das Grubenunglück in der belgischen Stadt Charleroi, die Beerdigung von zweihundert Bergmännern. Freed nimmt aus zwei weitgeöffneten Fenstern die Trauerzeremonie auf. Aus dem linken Fenster blickt man auf die Massen, die sich vor dem Altar versammelt haben. Aus dem rechten Fenster sieht man Menschen, die einem Lkw mit drei Särgen folgen. Eine Aufnahme, in der der Betrachter viel entdecken kann. Ein einziges Bild, das die Tragik einer Arbeitswelt wiedergibt, die in Westeuropa heute kaum noch existiert:
"Je mehr ambigeous, je mehr vielseitiger ein Bild zu interpretieren ist, um so besser ist es. Wenn es sofort etwas sagt, ist es Propaganda. Also, wenn man viele Auslegungen haben kann für ein Bild, eigene Gedanken. Das meint auch, dass man sich mehr mit dem Bild beschäftigt - anders als Modefotos, das ist die neue Mode."
Modefotos hat er auch gemacht. Doch berühmt wird Leonard Freed durch seine Reportageserien, zum Beispiel über das jüdische Leben in Deutschland. Freed fotografiert in der Synagoge einen Besucher beim Gebet. Zu sehen sind nur seine Hände, die das Gebetbuch und drei Fotografien halten: Aufnahmen von ermordeten Familienmitgliedern.
Ein anderes Thema ist der Mauerbau in Berlin. Eine Fotografie zeigt einen schwarzen GI - einsam vor der Mauer stehend. Eine Schlüsselszene, die Freed veranlasst - 1963 - in die USA zurückzukehren. Hier in Deutschland verteidigt ein junger Schwarzer die Freiheit der westlichen Welt, während in seiner Heimat der Rassismus der Weißen sie verletzt, diskriminiert - ja tötet. Es ist das Jahr der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Leonard Freed dokumentiert mit seiner Leica den Kampf um Anerkennung, um Gleichberechtigung und Freiheit.
In Amerika taucht der Fotograf Leonard Freed aber auch immer tiefer in die Schattenwelten seiner Gesellschaft ein. Für das Sunday Times Magazine realisiert er eine Reportage über Gewalt und über die Polizeiarbeit in New York. Kurator Felix Hoffmann über Leonard Freeds Gespür für die Themen seiner Zeit.
"Es gibt diese Serie ‚Black In White America’. Was mich wahnsinnig fasziniert, ist beispielsweise, dass er jemanden fotografiert, einen Schwarzen auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens – und ihn aber nicht portraitiert von vorne. Man sieht nur die gefesselten Hände, die auf dem Rücken gebunden sind, die nackten Oberarme. Oder eine Leiche, zwischen den Kühlerhauben von irgendwelchen Cadillacs am Boden liegend – herausragend, das ist schon ganz große Fotografie."
In der Berliner Ausstellung wird deutlich, wie sehr Leonard Freed sich und seine Arbeit mit der Welt in Beziehung setzt: Als Jude im Nachkriegsdeutschland, als Atheist zu den Lebenswelten der jüdischen Gemeinden in Europa und Israel, als weißer US-Bürger in Beziehung zur schwarzen Community.
Er selbst sagte, dass die Kamera für ihn die Couch beim Psychiater ersetze. 2006 starb der sensible Chronist Leonard Freed an einer Krebserkrankung, im Alter von 77 Jahren. Seine letzte Fotoserie ist in der Ausstellung ebenfalls zu sehen. Fünf Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen sein Haus in Garrison, New York. Die Wäsche hängt im Wind und seine weiße Katze Diana stolziert über das Dach. Auch hier ist Leonard Freed ganz der Jäger. Auf der Lauer liegend, bis sich die Szene ereignet, die er "schießen" will.