Mehrsprachiges Aufwachsen

Wie Kinder fließend Deutsch lernen

29:50 Minuten
Eine Schüler meldet sich in einer Grundschule in Baden-Württemberg.
Um eine Sprache richtig in der Schule zu lernen, müssten Kinder sich dort vor allem auch wohl fühlen, so die Erfahrung einer Pädagogin. © picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow
Von Luise Sammann · 10.02.2020
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Jahrzehntelang galt das Credo: Zu Hause muss Deutsch gesprochen werden. Nur dann sei die Integration zugezogener Familien möglich. Aber die Forschung zeigt: Kinder müssen nicht die Sprache ihrer Eltern vergessen, um eine andere zu lernen.
"Bei uns zu Hause war es erwünscht, beziehungsweise meine Eltern haben das forciert fast schon, dass wir alle so schnell wie möglich Deutsch sprechen und auch miteinander Deutsch sprechen."
"Mein Vater hat ganz häufig zu uns gesagt, ihr müsst euch vorbildlich verhalten. Weil, wenn einer euch kennenlernt, dann seid ihr vielleicht die ersten Iraner, die sie kennenlernen. Und wenn ihr einen schlechten Eindruck macht, dann habt ihr gleich einen Eindruck für ein ganzes Volk hinterlassen."
Nani Rostamian kam mit ihren Eltern und den drei älteren Geschwistern nach Deutschland, als sie sieben Jahre alt war. 30 Jahre später sitzt sie in ihrer Berliner Neubauwohnung und erinnert sich.
"Meine Eltern hatten ja gerade andere Probleme und Sorgen, erstmal hier sich zu setteln und Fuß zu fassen. Das war mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Das heißt, sie hatten eigentlich nur einen Appell an uns. Und zwar: Lernt die Sprache jetzt so schnell wie möglich, weil wir sonst hier ein wenig aufgeschmissen sind."

Der Appell der Eltern kam an. Innerhalb kürzester Zeit lernten Nani und ihre Geschwister Deutsch, durften den Förderunterricht verlassen, den sie anfangs noch nach Schulschluss hatten besuchen müssen. Wegen ihrer Sprachbegabung ging Nani später gar auf ein bilingual englisch-deutsches Gymnasium, studierte dann Medizin. Heute arbeitet sie als Chirurgin an einem Berliner Krankenhaus.
Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft könnte die hübsche junge Frau mit den schwarzen Haaren und dem offenen Lächeln als eine Art "Vorzeigemigrantin" herhalten. Das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge in Berlin wirbt auf seiner Website gern mit Geschichten wie ihrer. Doch von dem Preis, den die heute 37-Jährige für ihren Erfolg zahlte, steht nichts in ihrem Lebenslauf.
"Ich spreche gebrochen Farsi. Das ist das abgehakelte Farsi eines Kindes. Ich kann eigentlich auch nicht richtig lesen und schreiben auf Persisch. Dadurch haben wir auch unsere Verbindung zu den Verwandten ganz schön verloren eigentlich. Ja."


Auch mit den eigenen Eltern, die neben der Erziehung ihrer vier Kinder und der Arbeit im neuen Land nie so gut Deutsch lernten wie Nani und ihre Geschwister, kann die Tochter heute nicht mehr über alles sprechen.
"Ich kann mit ihnen zum Beispiel nicht über Medizin sprechen richtig. Über meinen Beruf. Und wenn ich dann mal unbedingt was erklären soll, dann greife ich zu Stift und Papier oder hole meinen Anatomieatlas und zeige, was ich meine. Also wir sind kreativ geworden darin, uns zu verständigen, indem wir einfach zu Hilfsmitteln greifen. Aber am Telefon würde ich‘s jetzt meiden wollen, mit ihnen tiefgründige Gespräche zu führen."
Während Nani spricht, wiegt sie ihre zwei Wochen alte Tochter Lilou in den Armen. Weil sie selbst ihre einstige Muttersprache kaum noch beherrscht, kann sie sie nicht an ihre Kinder weitergeben. Zumindest an Traditionen aber, das hat sie sich geschworen, soll es in ihrer jungen Familie nie mangeln. Ganz gleich aus welcher Kultur sie stammen.
"Bei uns ist es tatsächlich ein sehr schleichender Prozess gewesen des sich Integrierens, beziehungsweise die eigenen Wurzeln zu vergessen, muss man eigentlich sagen. Wir haben die persischen Festtage anfangs gefeiert, und dann wurde es immer schwieriger, das aufrecht zu erhalten. Viele Festtage fielen dann auf Wochentage, die halt hier keine Feiertage sind, und irgendwann fielen immer mehr die persischen Feiertage weg, bis wir nur noch das Neujahrsfest gefeiert haben. Und irgendwann wurde das auch zu unpraktikabel."
Eine Frau steht in Berlin vor einem Haus.
Die Chirurgin Nani Rostamian in Berlindi bedauert, dass sie mit ihren Eltern zum Beispiel nicht über Medizin richtig sprechen kann.© Luise Sammann
Stattdessen stellten die Eltern eines Tages im Dezember einen Weihnachtsbaum auf. Kauften den Kindern Geschenke, damit sie gleichzeitig mit ihren Klassenkameraden beschenkt wurden. Die Traditionen, mit denen sie selbst einst groß geworden waren, spielten kaum noch eine Rolle im Leben der Familie. Den Rahmen, der ihr selbst oft gefehlt habe, will Nani ihren eigenen Kindern von Anfang an mitgeben.

"Ich denke, das ist bei uns allen, also auch bei meinen Geschwistern genauso. Wir waren schon immer auch so ein bisschen auf der Suche nach Antworten und haben versucht, uns irgendwo selbst zu finden in der Gesellschaft oder im Leben auch. Wo wir stehen, wo wir hinmöchten. Waren wir eher gezwungen, darüber nachzudenken. Vielleicht einfach, weil wir von Haus aus die Wurzeln einfach nicht hatten. Wenn man immer die gleichen Traditionen hat und Abläufe hat, dann festigt das, glaube ich, ein Kind gut. Und das haben meine Eltern nicht hinbekommen."

Sprachlosigkeit unter den Generationen

Eltern, die ihr Bestes gegeben – ihre vier Kinder in einem fremden Land groß gezogen und auf die Universität geschickt haben. Und die dabei eigentlich nur das taten, was die deutsche Mehrheitsgesellschaft von Einwanderern verlangt: Integriert euch, lernt Deutsch. Und am besten sogar: Denkt deutsch, fühlt deutsch, werdet deutsch.
Aber muss man wirklich die Sprache seiner Eltern oder auch Großeltern vergessen, um sich in einem neuen Land integrieren zu können? Traditionen aufgeben und Verbindungen kappen – wie es auch in der deutsch-türkischen Community entgegen aller Vorurteile so häufig geschieht? Die Berliner Grundschullehrerin Ilknur Geze beobachtet die Auswirkungen der Sprachlosigkeit zwischen Familienmitgliedern und unterschiedlichen Generationen seit langem.
"Es ist schwierig, natürlich. Es ist traurig. Du weißt, das ist deine Oma, und du bist elf, zwölf… Und wenn die einfach nicht kommunizieren können. Wenn die Oma nicht erzählen kann, was sie fühlt oder was sie geben möchte oder nicht verstehen kann, was das Kind haben möchte, ist natürlich traurig."

Mirvat Adwan aus Syrien will es anders machen. Die 43-jährige Journalistin lebt und arbeitet seit gut zehn Jahren in Berlin. Ihre beiden Kinder sind hier geboren, gehen hier zur Schule, sprechen akzentfrei Deutsch. Ihr Arabisch, so wünschen es sich die Eltern, sollen sie trotzdem nicht vergessen. Und wenn möglich auch eines Tages flüssig lesen und schreiben.
"Mein Sohn liest wie eine Maus, aber nur deutsche Bücher. Und ich möchte so gerne, dass er auch unsere Bibliothek, also die zu Hause ist, auch nutzt. Ich habe versucht, zu Hause ihm die Sprache beizubringen. Ich hatte so einen Plan. Ok, lass uns am Wochenende immer so 20 Minuten zu Hause sitzen usw. Nach zwei Minuten: ´Ach, Mama, mir ist langweilig. Können wir was anderes machen?`"

Dass Kinder mit Migrationshintergrund die Sprache ihrer Eltern automatisch besser sprechen als die deutsche, stimmt nur bis zu einem bestimmten Alter, weiß Adwan. Danach aber müssen die Familien bewusst daran arbeiten, dass die Muttersprache erhalten bleibt und sich auch weiter entwickelt.
"Dadurch, dass sie in der Kita, Schule mehr Zeit verbringen als zu Hause, die Mehrheit der Eltern natürlich auch arbeiten… Man hat wirklich ganz wenig Zeit mit den Kindern. Und vor allem, wenn ich jetzt die Hausaufgaben mit meinem Sohn mache, dann werde ich die auf Deutsch, nicht auf Arabisch machen."
Journalistin Mirvat Adwan
Journalistin Mirvat Adwan hat in Berlin-Kreuzberg das Institut für Arabische Sprache gegründet.© Luise Sammann

Sorge, dass die Kinder ihre Heimatsprache verlieren

Adwan machte sich gezielt auf die Suche nach Kursen oder Spielgruppen, als ihr Sohn in die Schule kam. Und merkte schnell, dass sie nicht die einzige war.
"Die Mehrheit der Araber, besonders jetzt die Syrer, weil die so geflüchtet sind, also die sind gezwungen, hierher zu kommen. Und die Sorge, dass ihre Kinder die Sprache verlieren, das ist ‘ne große Sorge."
Doch das Angebot, vor dem sie im multikulturellen Berlin stand, war klein. Und vor allem selten ideologiefrei. Adwan beschloss, selbst aktiv zu werden. Vor zwei Jahren gründete sie eine kleine Arabischschule im Herzen von Kreuzberg. Kalamon – Institut für Arabische Sprache steht an der Eingangstür.
"Wir haben jetzt zwei Kurse…"
Zwei hell gestrichene Kursräume mit Zimmerpalmen und Whiteboards, eine Küche, die zugleich als Büro dient. Die neutrale Schlichtheit der Einrichtung wirkt fast schon deutsch. Vor allem aber enttäuscht sie jeden, der hinter einer Arabischschule automatisch auch einen religiösen Zusammenhang vermutet.
"Klar, unsere Kunden hier sozusagen sind diejenigen, die keine Religion mit dabei mischen möchten. Und das ist so richtig auch. Die Sprache an sich ist eine reine Sprache. Man darf die auch nicht mit Koran oder egal was mischen oder verbinden."

Arabisch lernen soll Spaß machen

Adwan setzt syrischen Kardamomkaffee auf, schmiert dann schnell ein paar Honigbrote für die Kinder, die jetzt nach und nach zur Tür hereinkommen. Gerade einmal vier Jahre alt sind die kleinsten.
Jedes Kind wird mit Umarmung begrüßt, darf sich sein Honigbrot direkt mit an den Tisch nehmen. Oberstes Gebot bei Kalamon: Das Arabisch lernen soll Spaß machen. Denn mit Druck, das weiß Adwan von ihren eigenen Kindern, funktioniert gar nichts.

"Ich sage auch den Eltern, bitte versucht mal, so mindestens zehn Minuten am Tag nur Arabisch zu sprechen. Versucht‘s mal den Kindern beizubringen, ohne das Gefühl zu haben, ja, die sind gezwungen, das zu machen. Und ja, die Kinder, die zu uns kommen, z.B. die Eltern sagen, ja, mein Kind kann jetzt mehr verstehen, er kommuniziert mehr mit Tanten, also die Umgebung, die Arabisch spricht."
Und dennoch. Insgesamt gibt es immer weniger Kinder in Berlin, die noch wirklich fließend Arabisch sprächen, so Adwan. Stattdessen beobachtet sie in vielen Familien, dass die Eltern statt auf Arabisch in – teils gebrochenem – Deutsch mit den Kindern kommunizieren. Ein großer Fehler, wie sie selbst weiß. Adwan hat deswegen einen Traum.
"Das Ziel ist, dass die arabische Sprache auch in normalen Schulen unterrichtet wird. Und ich glaube, das ist auch nicht nur mein Ziel. Viele träumen davon, auch in normalen Schulen Arabischunterricht zu bekommen."

Viele Erstklässler sprechen schlecht Deutsch

In Zeiten, in denen eine Berliner Grundschulrektorin öffentlich klagt, ihre Schule sei "arabisiert", in denen CDU-Fraktionsvize Carsten Linneman vor "neuen Parallelgesellschaften" warnt und eine "Vorschulpflicht" für Kinder fordert und in denen der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes erklärt, dass inzwischen ein Fünftel bis ein Viertel der Erstklässler nur schlecht oder gar kein Deutsch können. In solchen Zeiten ausgerechnet für Arabisch- oder auch Türkischunterricht in der Schule zu plädieren, scheint auf den ersten Blick absurd.
Müsste man nicht stattdessen lieber den Deutschunterricht ausbauen, fragt sich, wer in Vierteln wie Berlin-Kreuzberg oder Köln-Chorweiler um die Mittagszeit in einen Bus voller Schulkinder steigt und ihren Gesprächen lauscht? Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive eine leicht zu beantwortende Frage:
"Neue Befunde aus den Wissenschaften die weisen einfach darauf hin, dass wir beim Erwerb von Sprachen so ganz alte lieb gewordene Denkweisen über den Haufen werfen müssen", so der Sprachwissenschaftler Heiner Böttger von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
"Dazu gehört auch, dass man zum Beispiel in Deutschland möglichst viel Deutsch lernen muss, Deutsch sprechen muss, in den Familien und in den Schulen und in der Umgebung, um auch wirklich dann Deutsch zu erwerben. Das ist nicht so. Die Rechnung, dass ein Mehr an Deutschstunden zum Beispiel auch in der Schule zu besseren Deutschnoten führen würde, die ist von Wissenschaften mittlerweile ad absurdum geführt worden."


Stattdessen gilt: Das Rezept, um möglichst gut Deutsch zu lernen, ist eine möglichst gut ausgeprägte Muttersprache.
"Wird eine Muttersprache nicht richtig gefördert, auch durch Sprechen, Lesen, Hören usw., dann baut sie sich einfach nicht richtig auf. Das passiert also immer dann, wenn der Prozess des Erwerbs der Muttersprache früh abgebrochen wird, auch durch Migration oder wenn sie vernachlässigt wird, weil die Eltern mit ihren Kindern nicht sprechen oder aber auch das Erlernen einer Zweitsprache, z.B. Deutsch in Deutschland, aufgezwungen wird. Dann kommt es dazu, dass eine Muttersprache nicht richtig gefördert werden kann. Das ist fatal. Weil das Referenzmodell der Muttersprache fehlt."
Sprachwissenschaftler Heiner Böttger. Mann mit Brille.
Werde eine Muttersprache nicht richtig gefördert, dann baue sie sich nicht richtig auf, sagt Sprachwissenschaftler Heiner Böttger.© privat

Mit einer geförderten Muttersprache zum Erfolg

Heißt im Umkehrschluss: Wenn die Muttersprache gut gefördert wird – und zwar möglichst bis zum vierten oder fünften Lebensjahr – kann ein Kind dazu problemlos Deutsch oder jede beliebige Sprache lernen. Akzentfrei und spielend. Und zwar auch, wenn es zu Hause nie zuvor damit in Berührung gekommen ist.
So war es zum Beispiel bei Elif Senel. Radio- und Fernsehmoderatorin aus Köln.
"Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass wir zu Hause nur Türkisch gesprochen haben."
"Viele Leute wundern sich darüber, dass ich Deutsch erst im Kindergarten gelernt habe. Das finden sie sehr erstaunlich. Weil sie, glaube ich, annehmen, dass eine Muttersprache, die nicht Deutsch ist, ein Problem ist. Und eher ein Startproblem mit sich bringt. Und das Gegenteil ist ja nach meinen Erfahrungen der Fall."

Bis sie knapp vier Jahre alt war, gab es in Elifs Welt fast nur die türkische Sprache. Die Eltern sprachen untereinander und mit ihr Türkisch – genauso auch die Verwandten am Telefon oder die Stimmen im Radio.
"Ich glaube, es war einerseits eine bewusste Entscheidung, weil ihnen das wichtig war, den Kontakt zur Türkei zu halten, weil ihnen klar war, dass Sprache ein Stück Kultur und Identität bedeutet. Und ich glaube, es war auch schlicht die Sprache, in der sie sich am allerwohlsten gefühlt haben und in der sie auch ausdrücken konnten, was sie wollten."
Ein Bilderbuchspracherwerb für Wissenschaftler wie Heiner Böttger. Elif lernte Deutsch ohne Schwierigkeiten, absolvierte die Grundschule und danach eines der besten Gymnasien von Köln – ohne dass ihre Eltern je auf die Idee kamen, Deutsch statt Türkisch mit ihr sprechen zu müssen, wie es bis heute viele für richtig halten.
"Das wird ja auch zum Teil noch bei den Kinderärzten weitergegeben. Das wird auch bei den Kitas noch weitergegeben. Da, wo eben noch nicht so weit Fortbildungen zu stattgefunden haben. Und von daher wird das ja auch immer noch in die Familien gegeben. Das ist sicherlich ein Problem."
Eine junge Frau mit dunklen Haaren lächelt in die Kamera.
Radio- und Fernsehmoderatorin Elif Senel lernte Türkisch zu Hause und Deutsch ohne Schwierigkeiten in der Schule.© Luise Sammann

Bilingualität ist keine Hürde

Katrin Bergsten ist Sprachtherapeutin in einer Kita in Berlin-Wedding. Gemeinsam mit den Erziehern entwickelt sie dort Konzepte, damit Sprache spielend in den Kitaalltag integriert und gefördert werden kann. Beim Windeln wechseln genauso wie beim interaktiven Vorlesen, beim Tisch decken genauso wie beim Verstecken Spiel. Dass die Bilingualität, mit der viele Kinder in Berlin und anderswo in Deutschland aufwachsen, an sich eine Hürde ist, hält sie für einen Mythos, der nicht selten rassistische Züge hat.
"In der ganzen Welt wachsen Kinder mehrsprachig auf. Das ist eigentlich natürlich. Und wichtig ist, dass die Kinder die Sprache, die zuhause gesprochen wird, sicher sprechen können. Dann ist auch ein früher Zweitspracherwerb für ein Kind eigentlich keine Schwierigkeit, weil es dann sich erstmal an der grammatikalischen Struktur der Sprache, die es sicher sprechen kann, sich entlanghangelt und dann nach und nach die neue Sprache, abgesehen vom Wortschatz auch die Grammatik, sich dann aneignet. Das ist wie so ein Gerüst."
Bergsten rät den Eltern in ihrer Kita, mit den Kindern immer die Sprache zu sprechen, auf die sie automatisch zurückgreifen, wenn sie besonders wütend, glücklich oder traurig sind. Sie nennt es die emotionale Sprache, die jeder Mensch hat. Andere sprechen von der Mutter-, der Erst- oder der Referenzsprache. Auch Andreas Kolbe, Leiter der Rixdorfer Grundschule im migrantisch geprägten Stadtteil Neukölln, bringt diesen Rat inzwischen zu jedem Elterngespräch mit.
"Früher hieß es immer, sprechen Sie mit ihrem Kind zu Hause Deutsch. Wir sagen den Eltern bewusst mittlerweile, sprechen Sie mit dem Kind zu Hause die Muttersprache. Denn Deutsch –das machen wir hier. Alles andere kann schnell zu etwas führen, was ich gern die doppelte Halbsprachigkeit nenne. Dass weder das Deutsche vernünftig angelernt ist, noch das Türkische."

Umstrittener Begriff der doppelten "Halbsprachigkeit"

"Also die Halbsprachigkeit an sich beschreibt eine defizitäre kognitive Referenz", so Sprachwissenschaftler Böttger.
"Wer so aufwächst, kann imitieren, kann also nachmachen, was er oder sie hört, kann es auch nachsprechen. Aber wenn es dann tatsächlich um kreative eigene Sprachproduktion geht, sind die Mittel begrenzt. Kommt dann eine zweite Sprache dazu – durch Migration oder eben auch durch das Erlernen einer Fremdsprache in der Schule – dann baut sich auch diese Sprache defizitär auf. Und dann spricht man von einer doppelten Halbsprachigkeit."
Allerdings ist der Begriff in der Fachwelt umstritten. Einige Wissenschaftler lehnen ihn als diskriminierend ab, sagen, dass er Kinder mit Migrationshintergrund stigmatisiere, ihnen sprachliche Kompetenz abspreche, anstatt wertschätzend darauf hinzuweisen, dass sie mit zwei Sprachen vertraut sind und je nach Bedarf auf die jeweils andere zurückgreifen können.
"Ich habe Verständnis dafür, dass das kritisch gesehen wird. Es ist ein sehr plakativer Begriff, es ist eine verbale Illustrierung eines ganz spezifischen Sprachphänomens, das in der Regel für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund steht. Was man sagen muss, ist, dass dahinter keine Stigmatisierung steht, sondern ein hausgemachtes Sprachproblem im Deutschen beschrieben wird und der Versuch gemacht wird, ein erkennbares Defizit bei bilingual aufwachsenden Kindern und Jugendlichen zu beschreiben."

Mehrsprachigkeit gilt in Deutschland oft als Makel

Vor allem aber: Es handelt sich um ein Phänomen, das vermeidbar ist. Dass es in Deutschland überhaupt zum Thema werden musste, liegt nicht etwa an den betroffenen Kindern oder gar ihrer Herkunft, sondern an einer Politik und einer Gesellschaft, die Einwanderern jahrzehntelang das Gefühl gaben, dass sie eine andere Sprache als die deutsche sprächen, sei ein Problem. Kein Mehrwert.
"Das ist für mich auch völlig unverständlich. Im Bereich Tirol und Schweiz – dort wachsen die Kinder viersprachig auf. Und wenn man das gut organisiert und die Muttersprache eben als Referenzsprache hat, dann ist das alles überhaupt kein Problem. Überall auf der Welt sind diese Vorteile von bilingualem Aufwachsen deutlich belegt."
In Deutschland aber gilt die Mehrsprachigkeit nach wie vor oft als Makel. Und zwar vor allem bei Kindern mit türkischem oder arabischem Hintergrund. Die Erfahrungen, die Moderatorin Elif Senel vor mehr als 30 Jahren an ihrem Kölner Gymnasium machte, machen Kinder mit Migrationshintergrund auch heute noch überall in Deutschland.
"Ich hatte am Gymnasium in der fünften, sechsten Klasse, hatte ich Schwierigkeiten in Deutsch, bzw. ich hatte schlechte Noten in Deutsch, und es war aber nicht so ganz ersichtlich, was jetzt eigentlich das Problem ist. Das führte dann dazu, dass mein Vater sich dann irgendwann einen Termin hat geben lassen bei meiner damaligen Deutschlehrerin an einer Kölner Schule, einem Elitegymnasium, und die dann ins Gespräch mit ihm gegangen ist und im Prinzip ihm erklärt hat, dass ich auch eigentlich gar keine Chancen hätte, gutes Deutsch zu sprechen, dass das einfach auch schwierig sei, weil ich würde ja zu Hause nur Türkisch sprechen."
Elifs Vater, ein gebildeter Mann, konnte das so nicht stehen lassen. Er sprach noch länger mit der Lehrerin. In fließendem Deutsch. Und siehe da: Kurz darauf besserten sich die Noten der Tochter. Nicht ihr Deutsch hatte sich verändert, glaubt Elif bis heute, sondern die Einstellung der Lehrerin.
"Es gibt viele Menschen, die Sprachen hierarchisieren und finden, Türkisch ist jetzt keine besonders relevante Sprache. Und ich glaube, das war damals auch so, dass man eher Türkisch als defizitär betrachtet hat, dass es eher Gastarbeitersprech ist, Unterschichtensprache ist, und dass das halt negativ gesehen wurde."

Zweisprachig aufwachsende Kinder haben Lernvorteil

Dabei beweisen Studien schon seit vielen Jahren, dass zweisprachig aufwachsende Kinder – und zwar völlig unabhängig davon, um welche Sprachen es sich handelt – auch beim Erlernen einer dritten und vierten Sprache überlegen sind. Und nicht nur das. Selbst in Mathematik schnitten die 900 Schüler bilingualer Klassen, die Sprachwissenschaftler Heiner Böttger und seine Kollegen in Bayern für eine Studie begleiteten, überdurchschnittlich gut ab.
"Das hat damit zu tun, dass bei denen, die diese beiden Sprachen erwerben, eine kognitive Mehrleistung erforderlich ist. Und diese Mehrleistung führt wie bei einem normalen Trainingsprozess zu einer höheren Leistungsfähigkeit. Und das zeigt sich darin, dass kognitive Prozesse früher möglich sind. Zum Beispiel ein Schriftspracherwerb in zwei Sprachen. Mathematische Leistungen. Räumliche Orientierung… die verbessern sich einfach."
Böttgers Plädoyer ist aufgrund seiner jahrelangen Forschungen zu diesem Thema eindeutig: Bilingualität ist ein Mehrwert, der nicht weniger, sondern mehr Kindern ermöglicht werden sollte. Wenn nicht durch das eigene Elternhaus dann durch entsprechende Schulen.
"Die Zukunft der Schulen, vor allem dann auch der Grundschulen, und in meiner Vision sogar der Kindergärten und Kindertagesstätten, die ist zweisprachig."

Bilinguale Kindergärten und Schulen sind die Ausnahme

Doch trotz solcher Plädoyers und trotz erfolgreicher Beispiele überall in Europa: In Deutschland sind bilinguale Kindergärten und Schulen die große Ausnahme. Erst recht, wenn es nicht etwa um englisch-deutsche oder französisch-deutsche Erziehung gehen soll, sondern um türkische oder gar arabische. In Berlin, einer Stadt mit knapp 200.000 türkischstämmigen Bewohnern, bieten gerade einmal vier staatliche Grundschulen zweisprachige Erziehung in Deutsch und Türkisch an.
Eine davon ist die Rixdorfer Grundschule in Neukölln. Eine, wenn man so will, Brennpunktschule mit 90 Prozent Schülern nichtdeutscher Herkunft. Kinder, die hier in die so genannten ZwErz-Klassen für zweisprachige Erziehung eingeschult werden, erhalten in der ersten bis dritten Jahrgangsstufe zusätzlich zum regulären Unterricht fünf Stunden Türkisch pro Woche.
"Es gibt danach noch zusätzlich sieben Koop-Stunden. Das ist so Fachunterricht, zum Beispiel Sachkunde. Da sind zwei Lehrer dabei und die Lehrerin, die für Deutsch zuständig ist, sie macht ihren Unterricht in Deutsch und zwischendurch wird das gleiche Thema noch mal, also nicht als Übersetzung, sondern als Unterstützung, in Türkisch noch mal erzählt."

Ilknur Geze gehört zu den muttersprachlichen Türkischlehrerinnen der Rixdorfer Grundschule. Was für Außenstehende eine Brennpunktschule sein mag, ist für die 48-Jährige – deren eigene Kinder inzwischen an der Universität sind – ein Vorzeigemodell. Ihre Augen leuchten, wenn sie vom Schulalltag im so genannten ZwErz-Bereich erzählt, den vielen Projekten und AGs, den erstaunlichen Erfolgsgeschichten einzelner Schüler, der Zusammenarbeit im deutsch-türkischen Kollegium.
"Ich bin 72er Jahrgang. Da waren die ganzen Gastarbeiter auch neu, und es war einfach: Du bist Türke! Man zieht sich zurück, man denkt immer, es ist nichts wert, und dadurch bleiben die Kinder auch unter sich und dadurch können sie keine Entwicklung machen. Und wenn da irgendwie zwei, drei Leute sind, die auf der schiefen Bahn sind, nehmen sie die anderen halt mit."


Genau das will man an der Rixdorfer Grundschule von der ersten Klasse an vermeiden. Jede Kultur und jede Sprache, die ein Kind zur Einschulung mitbringt, soll gleichberechtigt wertgeschätzt werden.
"Es gibt Kinder, die beherrschen die Muttersprache sehr gut, und wenn sie mit der Schule anfangen, obwohl sie auch sehr fleißig sind, denken sie, weil die deutsche Sprache nicht ausreicht, denken sie… Wenn ein Kind etwas nicht versteht, dann soll es nicht an der Sprache liegen. Es soll einfach von sich aus kommen, die sollen einfach sich weiterentwickeln, die sollen lernen, die sollen einfach zufrieden mit sich sein, die sollen sich nicht ausgeschlossen fühlen."
Zum Wochenbeginn an einem januarkalten Montagmorgen singen die Kinder der ersten Klasse ihr Morgenlied. Eins, zwei, drei – Bir, iki, üc heißt es da. Und guten Morgen, Günaydin.
Im darauffolgenden Stuhlkreis dürfen sie erzählen, was sie am Wochenende erlebt haben. Ob auf Türkisch oder auf Deutsch, das ist erst einmal egal. Hauptsache jedes Kind bringt sich mit ein paar Sätzen ein. Jonathan hat sich als Star-Wars-Kämpfer verkleidet, Atakan war Geburtstag feiern, Zeynep in der Moschee.
"Die Kinder, die die Muttersprache besser beherrschen und die mit der deutschen Sprache weniger zu tun haben, und die kommen in so eine Klasse rein und weil da die Wertschätzung auch da ist, sind sie dann auch selbstbewusster. Weil sie dann auch was Positives sehen, dann haben sie auch ihren Spaß, und die lernen dann auch. Und da kann man nicht sagen, dass irgendwie eine deutsche Sprache mehr Wert hat oder eine Türkische. Hauptsache die Kinder haben eine Sprache, die sie richtig können, und wir unterstützen es. Und am Ende der sechsten Klasse können die Kinder beide Sprachen gut. In der Schrift und mündlich."
Eine Frau steht in Berlin-Neukölln auf einem Gehweg und schaut in die Kamera.
"Hauptsache die Kinder haben eine Sprache, die sie richtig können", sagt Lehrerin Ilknur Geze.© Luise Sammann

Psychisches Wohlbefinden hat Einfluss auf Leistungen

Das psychische Wohlbefinden der Kinder, das beobachtet Lehrerin Geze an ihrem Arbeitsplatz täglich, hat einen unmittelbaren Einfluss auf ihre schulischen Leistungen. Hätte man das früher erkannt, oder erkennen wollen, hätte sich folglich viel Unheil vermeiden lassen.
"Es war ein Fehler, dass man einfach gesagt hat, deine Muttersprache interessiert uns nicht. Es gibt Leute, die einfach da auch dann zwei Persönlichkeiten entwickelt haben. Zu Hause waren sie jemand anderes und danach in der Schule und in der Freundschaft auch anders. Und durch diese zwei Welten, die sie leben mussten, ist eine schwierige Generation auch gekommen. Und ich glaube, das haben wir durch diese zweisprachige Erziehung ganz wenig, minimal."
"Wenn wir das ernst nehmen, wenn wir Integration ernst nehmen, dann müssen wir Muttersprachen fördern", so die Schlussfolgerung von Sprachwissenschaftler Heiner Böttger, der selbst 13 Jahre lang an Mittelschulen in Bayern als Lehrer tätig war und miterlebt hat, was es mit Kindern macht, wenn ihre Herkunft nicht wertgeschätzt wird, ihre Muttersprache verkümmert, der Kontakt zu Verwandten abbricht.
"Und dann haben wir auch diese Kinder mit Migrationshintergrund, die dann auch durchaus in die Gymnasien kommen, die studieren, die akzentfrei Deutsch sprechen. Das sind diese Kinder. Die haben diese Chancen."
Doch sowohl die Realität an deutschen Schulen als auch die öffentliche Debatte zum Thema Spracherwerb sehen nach wie vor anders aus. Vor allem der Deutschunterricht müsse ausgebaut werden, fordern viele angesichts der wachsenden Zahl Schülern, die scheinbar nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Eltern, die sich auch Arabisch- oder Türkischangebote für ihre Kinder wünschen, müssen sich derweil schnell als Integrationsverweigerer beschimpfen lassen. Nicht wenige scheuen genau deswegen gar vor einer Anmeldung für muttersprachliche Angebote zurück.
"Die Kinder müssen Deutsch lernen, die leben in Deutschland, die müssen integriert sein, die müssen auch ihr Berufsleben hier aufbauen. Aber man muss auch darauf achten, dass man deren Kultur und deren Sprache auch wertschätzt, damit sie sich nicht verloren fühlen. Und wenn die Kinder nicht verloren sind, wenn man beide Kulturen irgendwie im Gleichgewicht hat und diese andere Kultur auch akzeptiert, haben es die Kinder leichter. Dieses Selbstwertgefühl, wenn sie das haben, dann werden sie auch weitere Entwicklung machen."

Autorin: Luise Sammann
Technik: Inge Görgner
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Carsten Burtke

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