Mein Krawínkel

Von Klaus Seifert |
Im Februar 1990, mitten in der turbulenten Wendezeit, verschlug es den Düsseldorfer Autor zum ersten Mal in das 80-Seelen Dörfchen Krawinkel im äußersten Südzipfel Sachsen-Anhalts, nahe Naumburg. In den vergangenen 16 Jahre konnte er beobachten, wie das große Experiment der Deutschen Einheit die Lebensverhältnisse dort von Grund auf verändert hat: Spiegelt die kleine Welt der Krawinkler den radikalen Umbruch im Leben von 17 Millionen ehemaligen DDR-Bürgern?
Trautmann: "Krawinkel liegt sehr idyllisch, hat keine Durchgangsstraße, also hier ist, im Prinzip, die Welt zu Ende. Krawinkel finde ich auch schön, weil hier die Orchideen sind. Es ist gut nach Leipzig, es ist nicht allzu weit weg von allen Sachen. "

Annette Trautmann lernte Krawinkel 1997 kennen und lieben.
Sie kam aus der Industriestadt Merseburg und heiratete einen alteingesessenen Krawinkler.
Ein erster Eindruck vom Dorf ist schnell gewonnen.

Vom Ortsschild Krawinkel, gegenüber dem Ententeich, sind es kaum 500 Meter bis zum Ortsende. Hier verliert sich die frisch gepflasterte Dorfstrasse in Feldwegen. Wir fahren vorbei an neu angelegten Parkbuchten und jungen Straßenbäumchen, an neuen, roten Dächern über den teils liebevoll restaurierten Fassaden alter Bauernhäuser. 79 Menschen wohnen hier hinter 32 Hausnummern. Verglichen mit der grauen Tristesse der 80er Jahre präsentiert sich 16 Jahre nach "der Wende" ein schmuckes Örtchen im Zeichen sichtbaren Wohlstands. Aber fehlt hier nicht etwas?

Zum "Dorfleben" fehlt die Landwirtschaft: Neben Hunden und Katzen gibt es ein paar Hühner, eine kleine Schafherde mit Ziegen, Reitpferde und auf der Weide am Waldrand eine einsame Kuh: Moni.

Insgesamt ist es ruhiger geworden, beobachtet die Rentnerin Gerda Heybeck.

Heybeck: "Die Dorfkneipe, die war immer besetzt, kann man sagen. Es waren immer welche drinne, nicht nur Krawinkler, auch eben... außerhalb kamen die Leute her. Und da kamen Reisebusse von Suhl, von Naumburg, von Halle und so weiter. Wenn ich hier manchmal den Konsum zugemacht habe, danach bin ich noch mit in die Gaststätte vorgegangen und habe da mit bedient."

Nimmt man die Dorfwirtschaft zum Maßstab für die Lage der Wirtschaft im Land, dann war früher manches besser.

Heybeck: "Vor Jahren, ja, da hatte jeder Arbeit. Die Meisten waren bei der LPG und was der Rest ist, die sind dann außerhalb gefahren, überall hin, ja? Alle anderen sind fast Rentner und dann viele Arbeitslose."

Wer in Krawinkel hat überhaupt noch Arbeit?
Feuerwehrchef Achim Bode geht die Reihen durch.

Bode: "Ich fange unten an. Bei Dieter seiner Nachbarschaft ist Frau Radestock, dann ist hier Herr Fischer, der ist selbständig. Mein Nachbar, Her Winziost, der ist Kraftfahrer in der Molkerei Bad Bibra, dann komme ich, das sind sieben. Herr Schmitt arbeitet in Köln, der arbeitet da irgendwie bei einem Unternehmer seit kurzem. Sein Sohn, das sind sechs. Herr Findling, Nummer 8, Ehepaar Hanger und zwei Söhne. Alle vier arbeiten. Herr Trautmann, Nummer 12, Herr Hornbogen, seine Frau, dann kommt ein junges Pärchen, Frau Ermel, Nummer 17. 17, die hier Arbeit haben. – Ich bin der älteste Arbeitnehmer!"

Zahlen die Krawinkler heute den Preis der friedlichen Revolution? Fest steht: Die sehnlichst herbeigerufene D-Mark sorgte ab 1990 für radikal neue Verhältnisse. Im ganzen Land wie im kleinsten Dorf.
Zuerst verschwanden nur die Ost-Produkte aus den Regalen. Dann die Läden. Mit ihnen versank für viele eine vertraute Welt. In Krawinkel stürzten Institutionen. Der Konsum-Laden: geschlossen. Die Dorfkneipe: für immer dicht. Selbst die Feuerwehr ist heute in ihrer Existenz bedroht, sagt ihr Chef Achim Bode.

Bode: "Ja, wir haben 16 Mitglieder und davon sind schon sechs bis acht Kameraden, die schon älter sind als 65. Die dürfen nicht mehr Hand anlegen, ja, beim Brand oder irgendwelchen Katastrophen.
Und wenn es jetzt brennt?
Momentan können wir nicht, unser Löschteich wird saniert, er ist ja fertig, aber uns fehlt nur das Wasser.
Wir haben fünf Hydranten im Dorf, die bringen nicht die genügende Menge und der Wasserstrahl reicht bis an die Dachrinne, weiter kommt er nicht. Wir haben echt Nachwuchsprobleme hier in Krawinkel, aber wir versuchen, unsere Feuerwehr aufrecht zu erhalten und das muss bleiben. Das muss bleiben."

Erst mit einigem Abstand wird manchem Krawinkler bewusst, was er eigentlich am Leben in der alten DDR so schätzte.
Der Bürgermeister erinnert sich:

Hansche: "Es gab ein Konsum Einkaufszentrum, Poststelle, auch stundenweise, Kindergarten gab’s auch mal, weil ... die meisten in der damaligen LPG gearbeitet haben.
Jeder hatte seine Beschäftigung. Jeder Schüler wusste, dass er eine Lehrstelle bekommt, er wusste auch zum Teil schon, wo er mal arbeiten wird – das war natürlich einfach und diese Entscheidungen hat der Staat abgenommen."

Mit Vater Staat konnte man auch gute Geschäfte machen. Zwei tüchtige Krawinkler sollen es sogar zum Millionär gebracht haben. Für den kleinen Mann lief der Handel etwa so:

Glatzel: "Das hat dann zu sehr abstrusen Formen geführt, dass Leute mit ihrem großen Eierkorb in den Konsum ... kamen und die Eier zu diesen hohen, subventionierten Preisen verkauften und dann von ihren Eiern, oder überhaupt von den frischen Eiern, wieder welche mitnahmen zum niedrigen Preis. Das waren gute Geschäfte für die Leute hier."

Ristenbieter: "Mit den Kaninchen dasselbe. Die haben das Kilo aufgekauft für 16 Mark und im Laden haben sie es verkauft für die Hälfte, für acht Mark – das Kilo! Und da haben’s die Leute gemacht: Die haben ihre Kaninchen verkauft und haben sich, für den neuen Preis praktisch, eins wieder aus dem Laden geholt. Und so ein Staat, der muss ja irgendwann einmal Pleite gehen, Das kann ja nicht laufen."

Wer auf dem Gehöft einen eigenen Stall besaß, der widmete sich der einträglichen Schweine- oder, noch besser, der Bullenmast. Horst Ristenbieter, der frühere Schäfer, weiß noch was erlaubt war.

Ristenbieter: "Die ersten Jahre eine Kuh, dann wurde die Kuh aber abgeschafft, durften sie nachher nen Bullen... Und wer da mehrere Bullen später hatte, der hatte noch ein bisschen irgendwo Feld gepachtet, was die LPG nicht mitgenommen hat, zu kleine Flächen."

Tagsüber eingesparte Körperkraft ließ sich gewinnbringend vermarkten. Böse Zungen behaupten, Bauleute hätten einen Grossteil der republikweiten Arbeitsleistung abends und an Wochenenden erbracht: Für Cash, in Feierabendbrigaden. Ein Mann vom Fach berichtet aus dem Nachbarort:

Heybeck: "In Laucha gab’s da ne Truppe, da waren mehrere Leute, die haben zusammen gearbeitet. Das war, glaub ich ne Truppe von sechs Mann, war ne Feierabendbrigade.
Du hast praktisch fünf Ostmark gekriegt, die Stunde, und da haben die das Wochenende Dächer gedeckt, oder Teich saniert. Das ging auch über die Gemeinde zu machen, offiziell. Es wurde praktisch von Vater Staat gebilligt, dass Du da praktisch nach Feierabend einer Arbeit nachgehen kannst. Im Prinzip och Schwarzarbeit."

Das neue Wirtschaftssystem brachte Krawinkels blühende Schattenwirtschaft zum Einsturz.
Mit dem alten System brachen jedoch nicht nur zahlreiche Betriebe zusammen – mit dem Umbruch taten sich neue Chancen auf.

Ronald Heybeck, der heute 39-jährige Ausbaumaurer, hat es hautnah erfahren:

Heybeck: "Nach der Wende... Mein Betrieb ging Pleite. Da war ich dann kurze Zeit arbeitslos, dann kriegte ich ne ABM beim Landratsamt in Nebra. Da war ich dann ein Jahr beschäftigt und dann war ich eben bloß bei dem einen mal vier Monate, da mal ein bisschen länger - und dann hatte ich Glück: da kam ich zu ner Baufirma aus Freyburg und da war ich drei, dreieinhalb Jahre oder so. Derzeit hat eben der Bau richtig geboomt."

Die Aufbruchstimmung rings umher steckte auch Siegfried Hanger an. Er wurde Krawinkels erster privater Unternehmer.

Hanger: "1990, also am 2. April 1990, hatten wir einen Fuhrbetrieb gegründet. Mit meiner Frau zusammen. Gleich in der Nachwendezeit. Ich bin dadrauf gekommen, weil ich schon also Kraftfahrer, immer die ganzen Jahre zu DDR-Zeiten ... gemacht habe und ich dachte eben, das wär ein lukratives Geschäft. Wir hatten sechs LKW und fünf Angestellte, also mit meiner Frau ... waren’s sechs Angestellte – ja?"

Und wie so oft in Zeiten froher Erwartung, stellte sich 1997 in Krawinkel sogar reicher Kindersegen ein. Zu den glücklichen Müttern gehörte auch Annette Trautmann:

Trautman: "In neun Monaten sind in Krawinkel fünf Mädchen geboren, darunter meine Tochter. Das ging vom 11. im 11. los bis zum Ende Juli. Und nur Mädchen! Fünf Mädchen! Das war schon kurios, also für das kleine Dorf."

In die Erwartung erblühender Landschaften passte auch das erste große – und bis heute einzige – kommunale Investitionsprojekt der nun selbstverwalteten Gemeinde Krawinkel: forsch wurde die Lösung des Jahrzehnte alten Abwasserproblems angegangen. Doch schnell lernten die Dörfler einen neuen, bisher unbekannten Gegner kennen: Die übermächtige Bürokratie, die mit der D-Mark kam und das ganze Land in Besitz nahm.

Die Krawinkler wollten eine vernünftige und sparsame Lösung:
Ein kleines, dezentrales Bioklärwerk am Ortsende. Und beim Bau der neuen Kanalisation wollten sie erreichen, dass nicht alle Nase lang ihre neue Dorfstrasse aufgerissen wird. Doch der Teufel liegt bekanntlich im Detail, weiß Bürgermeister Ernst Handsche heute:

Handsche: "Wir hätten (also) mit Mitteln der Dorferneuerung Straßen und Fußwege gebaut, irgendwann wäre dann Telekom gekommen, hätte die Fußwege wieder aufgerissen, hätte auch ihre Leitung reingebracht, dann wäre vielleicht die Energieversorgung gekommen, hätte umgestellt, und zum Schluss auch noch Trinkwasser. – Ach, wir haben auch noch Straßenbeleuchtung gebaut!"

Kommunalaufsicht und Abwasserzweckverband, das waren laut Bürgermeister Handsche die allgegenwärtigen Gegner des kleinen Krawinkler Projekts. Vor allem dem zuständigen Abwasserzweckverband sagt man nach, er hätte – wie anderswo auch – gigantische Klärwerke am Bedarf vorbei gebaut und wolle Gemeinden nun zwingen, sich an sein teures System anschließen zu lassen. Für Krawinkel bedeutete das: Ein irrwitzig langer Abwasserkanal hätte gebaut und über Jahrzehnte per Gebühr finanziert werden müssen.

Handsche: "Wir hatten auch da wieder ein bisschen Glück gehabt… Der damalige Vorsitzende, Kommunalpolitiker aus dem Westharz, der fuhr, kurz vor Weihnachten, in Urlaub, sodass hier dann…wir Ossis entscheiden konnten: Zwei Tage vor Weihnachten ne Sondersitzung gehabt, einstimmiger Beschluss: Wir bauen - und als der Kommunalpolitiker aus dem Urlaub zurückkam, waren wir voll im Bauen."

Seit das kleine Klärwerk am Ortsrand, gleich hinter dem Ententeich, in Betrieb ist, freuen sich die Krawinkler über viele eingesparte Euros.

Handsche: "Ja, wir haben dem Verband ne ganze Menge Geld gespart und auch die Bürger haben Geld gespart. Und was Besseres gibt’s eigentlich gar nicht! Wenn ich Ihnen ne Zahl nennen darf: Die Bürger in Krawinkel zahlen für einen Kubikmeter 1 Euro 93, im großen Verband liegen wir 6,50 bis 7 Euro. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied."

In den neuen Zeiten geht es nur ums Geld, meinen viele. Und seit nur noch das Materielle zählt, hätten sich selbst die vertrauten Menschen verändert.

Bode: "Der Zusammenhalt ist nicht mehr so wie das mal war."
Ristenbieter: "Radikal. Die, die Arbeit haben, die machen abends ihr Tor zu, so ungefähr: Du hast ja keine Arbeit, ich will mit Dir ... nichts mehr zu tun haben."
Heybeck: "Ja, der Zusammenhang ist nicht mehr so da wie früher. Auf Deutsch gesagt, guckt da nicht mehr einer nach dem anderen ...so wie es früher war. Jeder will eben was Besseres darstellen, jetzt, sage ich."
Handsche: "Aber Hass, Neid Missgunst ist natürlich im Kommen und das bedaure ich natürlich ganz gewaltig, ja."

Im Garten seines schmucken Hauses treffen wir Siegfried Hanger, den Speditionsunternehmer. Er berichtet:

Hanger: "Wir haben unsere Spedition wieder aufgelöst. Man sagt sich, für was arbeitest Du eigentlich, es bleibt ja kaum noch etwas übrig, ja?
Das kann man nicht einsehen und warum soll man das eigentlich auch machen, ehe man sich ganz verschuldet."

Der frühere Unternehmer macht keinen unglücklichen Eindruck, jetzt wo ihn nicht mehr die ganze Verantwortung drückt…

Hanger: "Ich fahre jetzt bei der Firma Hartung – bin ich jetzt angestellt als Fahrer. – Ja, es macht mich sehr fröhlich, das können Sie wirklich glauben."

Ronald, der Maurer, ist inzwischen ein Langzeitarbeitsloser mit vielen Qualifikationen:

Heybeck: "Eine Weiterbildung als Trockenbauer, dann hatte ich mal ein Bewerbungstraining oder mal einen Schnellkurs von acht Wochen Computerlehrgang, dann hatte ich mal ne Schulungsmaßnahme, dann hatte ich mal ne Weiterbildung und wo ich hier diese Weiterbildung gemacht habe – als Praktikant, wenn Du umsonst in ne Firma arbeitest, wirst Du immer genommen. Kommst Du aber und bewirbst Dich dort, hast Du keine Chance, weil Du dann wieder Geld kostest."

Ronald erzählt, dass 1-Euro-Jobber jetzt auch nach Krawinkel kommen. Sie erledigen auch Bauarbeiten. Ronald meint, dass das seine Aussichten auf einen Job als Maurer nicht verbessern wird. Viel ist nicht geblieben von der Aufbruchstimmung der frühen 90er Jahre.

Wer meint, Krawinkel habe nichts zu feiern, der kennt die Krawinkler nicht. Sie finden immer einen Anlass. Für ein paar Jahre veranstalteten sie hier oben ein ansehnliches Reiterfest. Das gibt es nicht mehr – weil es keine Sponsoren mehr gibt.
Also feiern sie wieder das einfache Dorffest vor dem Spritzenhaus. Es gibt Bier vom Fass, Thüringer Rostbratwürste und eine zünftige Musik von den Schönburger Blasmusikanten. Die haben schon in Amerika gespielt und kommen nächsten August wieder nach Krawinkel – zum 20. Mal, versprochen.

Thomas Fischer, vollbärtiger Schaf- und Ziegenzüchter, ist Krawinkler Neubürger, kommt aus der schönen Pfalz. Er, seine Lebensgefährtin und zwei Kinder sorgen für neues Leben in einem alten Bauernhaus. Was zog ihn nach Krawinkel?

Fischer: "Krawinkel ist ein schöner Ort, weil er klein ist. Und Krawinkel liegt auf einer Hochfläche, man hat also sehr viel Licht hier, was ich sehr zu schätzen weiß, und es ist sehr ruhig hier. Krawinkel und dieser Hof hier, in dem wir nun sitzen, das war Liebe auf den ersten Blick, kann man sagen, ja."

Seit März letzten Jahres freuen sich die freundlichen Dörfler über 13 neue Nachbarn. Darunter sogar ein echter New Yorker: Der studierte Politologe von der Columbia-Universität hat zwei halb verfallene Gehöfte gekauft und möchte nun Öko-Landwirt werden.
Wie geht es den Krawinklern heute? Kann man Zufriedenheit in Wahlen messen, dann stimmt das Ergebnis der Landtagswahl vom 26. März 2006 nachdenklich.

Die 64 gültigen Stimmen im Wahlkreis Golzen-Krawinkel verteilen sich so:
CDU 37,5 %
SPD 15,6 %
Die Linke 12,5 %
FDP 7,8 %
Grüne 6,3 %
DVU 14,1 %
andere 6,3 %
Die Wahlbeteiligung verzeichnete mit 37,2 % ein Rekordtief.