"Meine Mutter ist Estin"
Sofi Oksanen schildert die Geschichte von Anna, einer Finnin mit estnischer Mutter, die aufgrund ihrer Herkunft zahlreiche Probleme hat. Sie flüchtet sich in Bulemie - trotzdem ist das Buch nicht trostlos und traurig.
Sie wirkt recht grell: Rastalocken über runder Brille, der Lidschatten violett, die Lippen tiefrot. Sie ist ein Paradiesvogel, und sie schreibt aufregend gute Bücher - Sofi Oksanen, geboren 1977 als Tochter einer estnischen Mutter in Finnland. Drei Romane hat Oksanen bislang verfaßt; "Stalins Kühe", jetzt auf Deutsch erschienen, war 2003 ihr Debüt. Die Ich-Erzählerin heißt Anna, sie lebt in Helsinki, der Vater ist Finne, die Mutter Estin, und diese doppelte Identität wird zum Problem. Eine Estin in Finnland - was ist so schlimm daran? Schlimm ist, kurz gesagt, die Engstirnigkeit in engen Universen. Schlimm ist das verdrehte Bild, das man sich in der Enge von der Weite macht.
Anna monologisiert. Immer tiefer steigt sie in die Biographie ihrer estnischen Familie, auf gleich vier Zeitebenen kreist die Erzählung um schmerzhafte Themen. Die erste Ebene, die Ebene von Annas Großeltern, umfaßt Estlands Nachkriegszeit - die Stalinisierung und Russifizierung. Die zweite ist die Geschichte von Katariina, Annas Mutter. 1971 lernt die Ingenieurin in Tallinn "ihren Finnen" kennen. Sie heiratet und geht in die finnische Provinz, in ein böses "Kapland". Daheim wird sie deshalb geächtet, in der Fremde bleibt sie die Fremde, Katariina, ein ewig zerrissenes Wesen. Auf der dritten Ebene erzählt die Autorin von Annas Werdegang, von der anerzogenen Zwiegespaltenheit.
Die Kleine muss als Finnin funktionieren, vor allem muss sie schweigen, die Schande der falschen Herkunft verschweigen. Sie lebt, glaubt sie, "im falschen Land in der falschen Sprache im falschen Körper". Als Jugendliche aber flüchtet Anna - in ein Stück Ich, das niemand sonst kontrollieren kann: Anna hat Bulimie.
Die vierte Ebene gehört Annas Gegenwart, einem von Freß- und Brechorgien dominierten Alltag. Bis ins schaurige Detail schildert Sofi Oksanen die Sucht: wie gierig die Studentin auf Nahrungsmittel reagiert und woran sie erkennt, dass sie wirklich alles, alles erbrochen hat. "KZ-Mädchen mit stinkendem Atem" nennt Anna die anderen Magersüchtigen.
Traurig klingt, was Sofi Oksanen berichtet, aber das Buch ist ganz und gar nicht traurig. Denn Oksanen erzählt mit Schwung und Eleganz, sie zeigt das Komische im Bizarren, und an den tragischen Stellen wird sie kurz, hart, pointiert. Der Roman mit seiner Fülle packender Geschichten ist soziologisch, historisch und literarisch von Wert, seine Protagonistin trotz der schrägen Erscheinung obendrein eine sympathische Figur.
Nach dem Ende der Sowjetmacht 1991 fährt Anna regelmäßig nach Estland. Sie hortet dort Sauerkraut und saure Sahne, sie trauert in Tallinn um jedes Holzhaus, sie erobert sich die eigene Geschichte. Ja, fast gibt es ein Happyend. Ein Freund erhält Raum in Annas Leben (sofern er, wehe!, nicht versucht, ihr die Sucht zu nehmen), und irgendwann, hoffentlich, gelingt es der jungen Frau sogar, ein Gespräch in Finnland nicht mit dem immer selben Satz zu beginnen, mit einer Entschuldigung für die eigene verquere Existenz: "Meine Mutter ist Estin."
Sofi Oksanen:"Stalins Kühe"
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012
489 Seiten, 22,99 Euro
Anna monologisiert. Immer tiefer steigt sie in die Biographie ihrer estnischen Familie, auf gleich vier Zeitebenen kreist die Erzählung um schmerzhafte Themen. Die erste Ebene, die Ebene von Annas Großeltern, umfaßt Estlands Nachkriegszeit - die Stalinisierung und Russifizierung. Die zweite ist die Geschichte von Katariina, Annas Mutter. 1971 lernt die Ingenieurin in Tallinn "ihren Finnen" kennen. Sie heiratet und geht in die finnische Provinz, in ein böses "Kapland". Daheim wird sie deshalb geächtet, in der Fremde bleibt sie die Fremde, Katariina, ein ewig zerrissenes Wesen. Auf der dritten Ebene erzählt die Autorin von Annas Werdegang, von der anerzogenen Zwiegespaltenheit.
Die Kleine muss als Finnin funktionieren, vor allem muss sie schweigen, die Schande der falschen Herkunft verschweigen. Sie lebt, glaubt sie, "im falschen Land in der falschen Sprache im falschen Körper". Als Jugendliche aber flüchtet Anna - in ein Stück Ich, das niemand sonst kontrollieren kann: Anna hat Bulimie.
Die vierte Ebene gehört Annas Gegenwart, einem von Freß- und Brechorgien dominierten Alltag. Bis ins schaurige Detail schildert Sofi Oksanen die Sucht: wie gierig die Studentin auf Nahrungsmittel reagiert und woran sie erkennt, dass sie wirklich alles, alles erbrochen hat. "KZ-Mädchen mit stinkendem Atem" nennt Anna die anderen Magersüchtigen.
Traurig klingt, was Sofi Oksanen berichtet, aber das Buch ist ganz und gar nicht traurig. Denn Oksanen erzählt mit Schwung und Eleganz, sie zeigt das Komische im Bizarren, und an den tragischen Stellen wird sie kurz, hart, pointiert. Der Roman mit seiner Fülle packender Geschichten ist soziologisch, historisch und literarisch von Wert, seine Protagonistin trotz der schrägen Erscheinung obendrein eine sympathische Figur.
Nach dem Ende der Sowjetmacht 1991 fährt Anna regelmäßig nach Estland. Sie hortet dort Sauerkraut und saure Sahne, sie trauert in Tallinn um jedes Holzhaus, sie erobert sich die eigene Geschichte. Ja, fast gibt es ein Happyend. Ein Freund erhält Raum in Annas Leben (sofern er, wehe!, nicht versucht, ihr die Sucht zu nehmen), und irgendwann, hoffentlich, gelingt es der jungen Frau sogar, ein Gespräch in Finnland nicht mit dem immer selben Satz zu beginnen, mit einer Entschuldigung für die eigene verquere Existenz: "Meine Mutter ist Estin."
Sofi Oksanen:"Stalins Kühe"
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012
489 Seiten, 22,99 Euro