Meinung

Migration als mediale Fata Morgana

04:38 Minuten
Alexander Gauland, Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion, trägt bei der Wahlparty seiner Partei eine Krawatte mit Hundemotiv.
Was passiert, wenn die Regierung durchführt, was die AfD fordert? Die AfD wird stärker - vor allem, weil sie die Themen wie Migration setzt. © picture alliance / dpa / Christoph Soeder
Von Claus Leggewie |
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Seit Wochen scheint sich die Debatte in den Medien und die politische Diskussion nur noch um eine Frage zu drehen: Wie gehen wir mit kriminellen Ausländern um? Dabei lenkt die aufgepeitschte Stimmung von den wirklichen Problemen unserer Zeit ab.
Vor klassischen Konzerten gibt meist die Oboe den Kammerton an, den sie an den ersten Geiger und der dann an den Rest des Orchesters weitergibt. Damit sind alle auf den Kammerton A eingestimmt und können auf das Zeichen des Dirigenten loslegen.
Die öffentliche Debatte ist weit ungeordneter und das Resultat oft eine Kakofonie. Doch wer Nachrichten hört, Schlagzeilen studiert und Onlineangebote durchstreift, bekommt angesichts der Aufmacher der veröffentlichten Meinung den Eindruck, jemand habe zwar nicht den Ton, aber das Thema angegeben, in das dann alle, meist kakofon und kontrovers einsteigen.

Gefährliche Schnellschüsse

Nach dem Attentat in Solingen und den Erfolgen der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen war es „das Migrationsproblem“, an dessen vermeintlich sofortiger Lösung sich Regierung und Opposition mit Gipfeltreffen, Pressekonferenzen und Onlineposts machten. Prompt etablierten Meinungsumfragen „das Migrationsproblem“ als Spitzenreiter bzw. größte Sorge Deutschlands.
Wer hier wen wie gestimmt hatte, war kaum noch auseinander zu dröseln, die Medien haben jedenfalls großen Anteil an der Engführung. Da der Migrationsgipfel scheiterte und sich eine Landtagswahl in Brandenburg anschloss, blieb „das Megathema Migration“ am Leben.
So erfüllte sich Alexander Gaulands Jubelschrei von 2015 „Etwas Besseres als die Flüchtlinge konnte uns gar nicht passieren“, und seine Drohung, die anderen Parteien mit eben diesem Thema jagen zu wollen. Nach dem Erfolg der AfD werden zweifelhafte Schnellschüsse beschlossen, um die Demokratie vor den Ultrarechten zu retten, mit dem Effekt, dass Europa zerbricht und sie weiterjagen.
Warum ist Migration, mit der die meisten Deutschen nur indirekt, vom Hörensagen und aus den Medien konfrontiert sind, Thema Nummer eins? Warum nicht der Klimawandel, der genug aktuelle Dramen produziert, warum nicht die drastische Vermögensungleichheit, warum nicht Kinderarmut, die doch ins Auge springen müsste?

Kulturell den Ton angeben

Warum also nicht tatsächliche „Sorgen und Nöte“, von denen die rechten Verführer ständig reden, ohne sie mindern zu können, ja sie nicht einmal mildern wollen? Und warum geraten verantwortliche Politiker mit rechtlich problematischen und praktisch undurchführbaren Abschiebungs- und Grenzschließungsplänen außer Rand und Band?
Warum alle, auch wenn sie ganz anderer Meinung sind, ein und denselben Kammerton anspielen, lässt sich mit dem Konzept der kulturellen Hegemonie begründen. Es wird auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zurückgeführt, der sich im faschistischen Gefängnis Gedanken darüber machte, wie eine machtvolle Arbeiterbewegung, die es auf parlamentarischem Wege nicht geschafft hatte, einstweilen auf kulturellem Wege die Macht gewinnen sollte: Indem sie den gesellschaftlichen Ton angibt.
Gramscis Idee wanderte nach 1945 durch eurokommunistische, sozial- und sogar christdemokratische Denkfabriken, um eine Kommunikationskampagne zu entwickeln, die dem Motto folgte: „Die Begriffe besetzen!“

Migration als gesetztes Thema

Das gelang freilich am besten der alten Rechten, die im Rückgriff auf Gramsci zur Neuen Rechten mutierte und ihre bisherige Erfolglosigkeit mit der negativen Besetzung des Begriffs Migration überwinden konnte. Konträre Meinungsäußerungen halten das Thema stets von selbst mit am Leben, so dass man nicht mehr altmodische Propagandatechniken „top-down“ anwenden muss; speziell auf Onlineplattformen wachen keine Türhüter mehr über Faktentreue und ethische Prinzipien und breiten sich Verschwörungstheorien rasant aus.
Darunter die Wahnvorstellung des "Großen Bevölkerungsaustauschs", einer angeblich von höchster Stelle angeordneten „Umvolkung“ der weißen Einheimischen durch farbige Immigranten. Der arme Antonio Gramsci hat diese Plünderung und Verwendung seiner Ideen nicht verdient. 

Claus Leggewie ist Ludwig-Börne-Professor an der Universität Gießen und Leiter des dortigen Panel on Planetary Thinking. Als freier Autor schreibt er für in- und ausländische Tages- und Wochenzeitungen und den Hörfunk.

Der Autor Claus Leggewie auf der Frankfurter Buchmesse.
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