Kommentar

Nichtwähler sind nicht die schlechteren Demokraten

04:41 Minuten
Ein Mann steht in einer Wahlkabine im Neuen Rathaus der Stadt Leipzig.
Man muss akzeptieren, dass zur Wahlfreiheit in einer Demokratie auch gehört, sich für keine Partei und keinen Politiker zu entscheiden. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Ein Kommentar von Timo Rieg |
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Bei den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland steht einiges auf dem Spiel und doch wird nicht jeder an die Wahlurne gehen. Im öffentlichen Diskurs haben Nichtwähler kein gutes Standing, dabei sind sie weder dumm, noch stärken sie die Extreme.
In einer Woche werden wohl mehr als eine Million Menschen öffentlich eins auf den Deckel bekommen – weil sie in Sachsen und Thüringen nicht zur Wahl gegangen sind, obwohl sie durften.
Sie werden von den Anhängern der unterlegenen Parteien für den Wahlausgang wenigstens mitverantwortlich gemacht werden. Es wird die Rede davon sein, dass Wählen eine staatsbürgerliche Pflicht und das Hochamt der Demokratie sei. Es wird heißen, Nichtwähler hätten die radikalen Ränder gestärkt. Und bestimmt wird  auch irgendjemand wieder die Einführung einer Wahlpflicht fordern. 
In der Vergangenheit fielen in diesem Zusammenhang oft harte Worte. Eine hessische Regionalzeitung nannte Fechenheim "den faulsten Stadtteil Frankfurts" wegen seiner Nichtwählerquote von 39 Prozent und kürte den – Zitat – "dümmsten Wahlkreis im Rhein-Main-Gebiet", in dem etwas mehr als 2.000 Menschen ungültige Stimmzettel abgegeben hatten. 

Kein Zwang zur Wahl in einer Demokratie

Doch solches Nichtwähler-Bashing geht an der Sache vorbei. Zunächst einmal, weil man akzeptieren muss, dass zur Wahlfreiheit in einer Demokratie auch gehört, sich für keine Partei und keinen Politiker zu entscheiden. Daran würde auch eine Wahlpflicht nichts ändern. In einer freien und geheimen Wahl darf niemand zur Zustimmung für irgendwen genötigt werden. Entsprechend würde der Anteil sogenannter ungültiger Stimmzettel steigen, die also leer bleiben, durchgestrichen oder sonst wie verändert wurden, – solange es kein Feld für "Enthaltung" gibt. 
Falsch ist auch der oft geäußerte Vorwurf, Nichtwähler stärkten die Extreme. Zutreffend wäre das nur, wenn diese Nichtwähler sich – würden sie wählen – für eine der größeren Parteien der Mitte entscheiden würden und nicht für Kleinstparteien oder solche an den politischen Rändern. Doch warum sollte man davon ausgehen, dass Nichtwähler im Zweifelsfall immer Parteien der Mitte wählen? 
Und schließlich trifft man mit Nichtwähler-Bashing oft die Schwächsten der Gesellschaft: Die Forschung zeigt schon seit Langem einen deutlichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und sozialer Lage einerseits und Wahlteilnahme andererseits. Die Arbeitslosenquote in einem Ortsteil, das Verhältnis von Ein- zu Mehrfamilienhäusern oder die Kaufkraft pro Einwohner korrelieren mit der Wahlbeteiligung. Die Bertelsmann-Stiftung fasste dies in dem Satz zusammen: "Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger Menschen gehen wählen." 

Bessergestellte setzen öfter ihre Interessen durch

Um diese Menschen zu Wählern zu machen, müssten sich also zunächst die sozialen Verhältnisse ändern. Das aber liegt in der Hand derer, die zur Wahl gehen. Wenn diese Parteien wählten, die für einen Abbau sozialer Ungleichheit eintreten, würde das die Wahlbeteiligung der wirtschaftlich Schwächeren erhöhen. Stattdessen setzen rein faktisch oft die Bessergestellten ihre Interessen stärker und damit überproportional durch. 
Allerdings kann man sich auch aus einer wirtschaftlich komfortablen Situation heraus gegen das Wählen entscheiden. Der Journalist Gabor Steingart schrieb 2009 ein ganzes Buch über seine "Ansichten eines Nichtwählers". Wahlenthaltung sei keine Gleichgültigkeit, sondern - bewusst getroffen - die schwierigste, heikelste, aber auch deutlichste Stimme gegen ein "weiter so". Zitat Steingart: "Der Nichtwähler nimmt exakt jenes Werkzeug in die Hand, das die Verfassungsväter für den Fall großer Unzufriedenheit geschmiedet haben." 
Es ist noch lange kein schlechter Demokrat, wer Probleme im Wahl- und Parteiensystem sieht. So wird zum Beispiel oft davon gesprochen, wir Bürger wählten die Regierung und könnten sie bei Unzufriedenheit nächstes Mal "abwählen". Tatsächlich aber wählen wir nur Parlamente. Welche Parteien dann schließlich eine Regierung bilden, handeln die Gewählten untereinander aus. Entsprechend groß ist das Rätselraten an jedem Wahlabend und in den folgenden Tagen oder gar Wochen: Wer könnte mit wem, zu welchen Bedingungen? 

Abgeordnete sind Vertreter aller Bürger

Leben müssen wir mit dem Ergebnis am Ende alle, auch die Wähler unterlegener Parteien. Und wir alle sollten damit leben können, die Nichtwähler eingeschlossen. Denn wie für den Bundestag gilt auch für die Landtage in Thüringen und Sachsen: Abgeordnete sind Vertreter aller Bürger - und nicht nur ihrer Wähler.

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Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet er zudem eine Website mit Podcast an.

Porträtaufnahme des Autors Timo Rieg
© privat
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