Meinung

Der Nährstoffverlust in Lebensmitteln erfordert ein Umdenken

04:19 Minuten
Orangen in der Auslage von einem Lebensmittelgeschäft.
Die landwirtschaftliche Revolution der Nachkriegszeit brachte ertragreichere Pflanzensorten, neue Pestizide, synthetische Düngemittel und bessere Maschinen - und Nachteile. © Imago / imagebroker / Frank Schneider
Eine Kolumne von Hannah Schragmann |
Audio herunterladen
Die Nährstoffwerte in einigen Obst- und Gemüsesorten sind in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen. Es ist ein neues Verständnis von Landwirtschaft nötig. Anstatt allein auf Quantität zu setzen, muss Qualität stärker in den Fokus rücken.
Als mein Opa in den 50er-Jahren eine Orange aß, bekam er damit eine Vitaminbombe. Heute bräuchte ich acht Orangen, um dieselbe Menge Vitamin A aufzunehmen.
Tatsächlich sind auch die Nährstoffwerte einiger Gemüsesorten – von Spargel bis Spinat – seit 1950 deutlich gesunken. Eine viel zitierte Studie aus den USA ergab, dass wichtige Nährstoffe um bis zu 38 Prozent zurückgegangen sind. Weniger Kalzium, weniger Eisen und Phosphor. Was ist passiert?

Ernährung ist nicht nur eine Frage von Quantität

Die landwirtschaftliche Revolution der Nachkriegszeit brachte ertragreichere Pflanzensorten, neue Pestizide, synthetische Düngemittel und bessere Maschinen. Das Ziel: Mit gesteigerter Produktivität eine wachsende Weltbevölkerung ernähren. Doch Ernährung ist nicht nur eine Frage von Quantität, sondern auch von Qualität: Ansonsten droht das Phänomen des „versteckten Hungers“, das in Afrika bereits verbreitet ist: Man ernährt sich kalorienreich, aber nährstoffarm. Mit negativen gesundheitlichen Folgen.
Obwohl sich der globale Ertrag von Weizen zwischen 1961 und 2014 verdreifachte, fiel sein Nährstoffgehalt. Die Ursache findet sich in intensiven Anbaumethoden und Chemikalien, die das Bodengleichgewicht stören. Und so sehen wir eine abnehmende globale Bodengesundheit. 40 Prozent der Böden sind schon von minderer Qualität.
Doch gesunder Boden, reich an Mikroben und Pilzen, liefert Pflanzen erst die nötigen Nährstoffe. Und laut einer Studie verändern sich seit den 50ern die Pflanzen selbst: Ertragreiche Zwergweizensorten, die mehr Energie in die Bildung von Kohlenhydraten stecken, verdünnen den Nährstoffanteil. Während die Körner größer wurden, sank die Nährstoffdichte. Der Effekt: mehr Kalorien, aber weniger Mineralstoffe wie Zink, Eisen und Magnesium.
Auch der Klimawandel hat seinen Anteil. Höhere CO2-Werte führen dazu, dass Pflanzen vermehrt Stärke, aber weniger Proteine und Vitamine produzieren.

Ein neues Verständnis von Landwirtschaft ist nötig

Was also tun? Ein neues Verständnis von Landwirtschaft ist nötig. Anstatt allein auf Quantität zu setzen, muss die Qualität stärker in den Fokus rücken. Und hier braucht es neue Anreize. Ein Vorschlag: Landwirtinnen und Landwirte könnten zusätzlich nach dem Nährwert ihrer Ernte bezahlt werden, nicht nur nach Gewicht.
Dies würde den Umbau zu regenerativen Anbauformen beschleunigen. Einen solchen Wandel fordern die Grünen zwar schon lange, aber ohne die Landwirtschaft mitzunehmen. Die Kluft ist tief. Doch der Übergang muss mit den Landwirten und Landwirtinnen und mit der Unterstützung durch gut designte Förderprogramme erfolgen.

Dänemark als Vorbild

Dänemark hat hier Pionierarbeit geleistet und Ende 2024 in enger Zusammenarbeit mit der Landwirtschaft einen historischen umweltpolitischen Agrardeal beschlossen: Ab 2030 zahlen Landwirte und Landwirtinnen eine CO2-Abgabe und stellen zusätzlich Agrarflächen für den Naturschutz zur Verfügung.
Ein Fünf-Milliarden-Euro-Fonds, finanziert durch Steuern und die Klimaabgabe, unterstützt den Umbau und kauft 250.000 Hektar Agrarland auf, um es in Natur- und Waldflächen umzuwandeln. Landwirte und Landwirtinnen erhalten 10.000 Euro pro Hektar, den sie abtreten oder bepflanzen, sowie Mittel zur Umstellung auf klima- und bodenschonende Bewirtschaftung. So kann eine Vereinbarung aussehen, die allen Akteuren etwas abverlangt, aber langfristig allen zugutekommt. Nicht zuletzt der Qualität von Obst und Gemüse auf unserem Teller.

Es kommt nicht auf die Größe an

Und wir? Vielleicht reicht für den Moment die Besinnung darauf, dass in dem matten, kleinen Apfel am Ende mehr drin sein kann als in seinem prallen Bruder. In einer Zeit des Marketings und des Höher, Schneller, Weiter bedeutet das einmal mehr: Es kommt nicht auf die Größe an. Und es ist nicht alles Gold, was glänzt. Mein Opa, selbst Kleinbauer, wusste das noch – und aß die Schrumpelkartoffeln am liebsten.

Hannah Schragmann forscht als promovierte Wirtschaftsethikerin und Philosophin zum Thema Produktivität und neuen Ansätzen der (Re)produktivitätsbewertung, insbesondere im Arbeitskontext. Sie ist zudem aktiver Teil der Führungsebene von zwei Impact-Start-Ups, die Purpose ins Zentrum stellen und den Umbau hin zu reproduktiven Wirtschaftsformen fördern. Die Frage, wie Ökologie, Ökonomie und der Mensch bzw. Sinn gemeinsam betrachtet werden können, steht für sie im Zentrum ihres Tuns.

Mehr zu Ernährung und Lebensmitteln