Nach dem Anschlag von Solingen

Plädoyer für statistische Korrektheit

03:47 Minuten
Symbolbild für ein Tortdiagramm. Das Stück mit 50% ist gelb, das mit 25% orange, das mit 15% hellbraun und das Stück mit 10% dunkelbraun unterlegt. Hinter den Tortenstücken sieht man diverse gezeichnete Symbole wie Computermonitor, Puzzle, Dollarzeichen.
Genauigkeit ist wichtig: Statistisches Denken schützt uns vor Fehleinschätzungen. © IMAGO / Panthermedia / tang90246
Ein Kommentar von Philipp Hübl |
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Nach dem Anschlag in Solingen gibt es Versuche, die Tat politisch zu instrumentalisieren – zum Teil mit falschen Zahlen. Doch Terror lässt sich nur wirksam bekämpfen, wenn wir statistisch korrekt argumentieren.
Nach dem Anschlag in Solingen, bei dem der Tatverdächtige – ein syrischer Flüchtling und mutmaßlicher IS-Anhänger – mit einem Messer drei Menschen getötet und acht weitere verletzt hat, twitterte das Team von CDU-Chef Friedrich Merz „Nicht #Messer sind das Problem, sondern die Personen, die damit herumlaufen. In der Mehrzahl der Fälle sind diese #Flüchtlinge, in der Mehrzahl der Taten stehen islamistische Motive dahinter.

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Die erste Aussage ist nicht belegbar. Und die zweite ist falsch, wie ein kurzer Blick in die Kriminalstatistik zeigt. Im Jahr 2023 hat das Bundeskriminalamt 8951 Messerangriffe erfasst. Und insgesamt 72 religiös motivierte extremistische Gewalttaten.[2]
Selbst wenn es sich bei denen also ausschließlich um Messerattacken gehandelt hätte, wären es weniger als ein Prozent aller Taten und nicht über 50 Prozent, wie das Team von Merz behauptet.

Fundamentaler Mangel an statistischem Denken

Nun kann man diese offensichtlich übertriebene Rhetorik als plumpes Wahlkampfmanöver abtun. Man kann darin aber auch ein Beispiel sehen für einen fundamentalen Mangel im statistischen Denken, nämlich die Unfähigkeit, Wahrscheinlichkeiten, Anteile und Mittelwerte richtig einzuordnen – und diese Unfähigkeit schadet der öffentlichen Diskussion und der Politik.
Würden wir alle über umstrittene politische Themen wie Gendergerechtigkeit, Kriminalität oder Einwanderung statistisch korrekt sprechen, gäbe es kaum noch hitzige Diskussionen, sondern wir wären einer sachlichen politischen Debatte viel näher, von der Philosophen von John Stuart Mill bis zu Jürgen Habermas immer geträumt haben.

Statistisches Denken ist anspruchsvoll

Denn bevor sich der zwanglose Zwang des besseren Arguments überhaupt erst entfalten kann, müssen wir die Fakten präzise einschätzen. Erst danach können wir sie normativ beurteilen oder gar mit Gesetzen zu ändern versuchen.
Statistisches Denken ist anspruchsvoll, und es ist nicht unser natürlicher Denkmodus, wie die psychologische Forschung zeigt. Im Extremfall neigen wir zum Essentialismus, bei dem man von einer Person auf eine ganze Gruppe schließt, nach dem Prinzip „Kennst Du einen, kennst Du alle“ – ein Denken, das dem Rassismus, Sexismus und anderen Formen der Menschenfeindlichkeit zugrunde liegt.
Doch gerade die schwächeren statistischen Fehlschlüsse sind weitverbreitet. Man findet sie in allen politischen Lagern und allen Diskussionen. Zum Beispiel deuten viele ansonsten kluge Aktivistinnen den unbereinigten Gender-Pay-Gap von 18 Prozent als Beleg für Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt, ohne weitere Faktoren für diese Ungleichheit zu berücksichtigen, wie sie in jedem Einführungsbuch in die Ökonomie oder Soziologie nachzulesen sind.

Statistisches Unwissen führt zu Scheindebatten

Statistisches Unwissen führt nicht nur dazu, dass wir Scheindebatten führen, es hindert uns auch daran, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, etwa um islamistische Terroristen effektiv zu bekämpfen. Es führt sogar dazu, dass wir die falschen Lebensentscheidungen treffen.
Der Psychologe Gerd Gigerenzer hat bereits vor 20 Jahren gezeigt, dass nach 9/11 durch die Angst vor Terrorismus nicht weniger, sondern paradoxerweise mehr Menschen gestorben sind. Weil viele US-Bürger bei ihren Reisen vom Flieger aufs Auto umgestiegen sind, kamen allein in den ersten zwölf Monaten nach dem 11. September durch Autounfälle über 1000 mehr Menschen ums Leben als in den Vergleichsjahren davor.[3]
Statistisches Wissen ist Kernbestandteil des kritischen Denkens. Und es kann Leben retten. Daher sollte es nicht nur ein Pflichtfach in der Schule und an den Universitäten sein, sondern auch eine grundlegende Kompetenz jedes Berufspolitikers. Und seines Teams.
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