Meinungsforschung in der Krise

So denkt Deutschland - wirklich?

Zu sehen ist eine Menschenmenge.
Dem "vergessenen kleinen Mann" eine Stimme geben - das war in den 1930ern George Gallups Idee von Meinungsforschung. Sein Projekt, die Vermessung der öffentlichen Meinung, scheint derzeit aber etwas aus dem Ruder zu laufen. © dpa
Von Ulrike Köppchen |
Dank des Internets lassen sich Meinungsumfragen heute schnell und billig durchführen wie nie. Das hat Folgen. Eine regelrechte Inflation der Umfragen - und einen heftigen Streit über die Frage: Wie repräsentativ sind Online-Umfragen?
He, Sie! Ja, genau Sie meinen wir! Nur eine kurze Frage: Nehmen Sie an Umfragen teil?
"Es ist vermutlich schwierig, mich zu erreichen", sagt der Politikwissenschaftler Thorsten Faas. "Tatsächlich, weil meine Handynummer jetzt nicht publik ist, unser Festnetz gibt es zwar, aber ich glaube, wir haben mehr Telefonnummern, als dann überhaupt zu klingelnden Telefonen führen. Wenn es eine Umfrage ist und ich es für seriös halte, dann nehme ich in der Regel doch teil, was aber auch damit zu tun hat, dass es mich professionell dann ein bisschen interessiert."
Vermutlich mehr als nur ein bisschen. Denn Thorsten Faas ist Wahlforscher und lehrt politische Soziologie an der Freien Universität Berlin. Als solcher hat er täglich mit den Ergebnissen der Meinungsforschung zu tun. Und die sind zahlreich wie nie:
"Es gibt mehr Akteure am Markt, und insofern gibt es auch mehr Umfragen. Man muss zunächst einmal sagen, dass sich die Arten von Umfragen sehr vervielfältigt haben, wenn man so will, und wenn Sie auf bestimmte Internetseiten gehen, dann werden Sie ja dort häufig mit Umfragen begrüßt, so die Umfrage des Tages, was aber mit seriösen, wissenschaftlichen, auf Repräsentativität hin ausgerichteten Umfragen eigentlich nichts zu tun hat."
Trotz - oder gerade wegen? - der Allgegenwart von Meinungsforschung ist das Vertrauen in sie rapide gesunken, sagt Faas.
"Jetzt haben wir in der jüngeren Vergangenheit erlebt – Trump und Brexit mögen so als prominenteste Beispiele genügen, dass Umfragen manchmal auch wirklich an prominenter Stelle danebenlagen – naja und daraus sind dann eben diese Forderungen erwachsen, die sagen, okay, wir können euch offenkundig nicht mehr trauen, dann möchten wir aber auch mehr als bisher wissen, wie diese Zahlen zustandekommen."

Ein Blick in die Geschichte der Meinungsforschung

Der Meinungsforscher George H. Gallup (r) und Mitarbeiter seines gleichnamigen Institut für Meinungsforschung, aufgenommen am 29.10.1944. +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Auguren mit Methode: George H. Gallup (r) und Mitarbeiter seines Instituts im Jahr 1944.© picture-alliance/ dpa Inp

Die USA Anfang der dreißiger Jahre. George Gallup betritt die Bühne, der Vater der modernen Meinungsforschung. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber wer weiß, ob ohne Gallups meisterhafte Selbstinszenierung die Meinungsforschung den gleichen Stellenwert erlangt hätte, den sie heute hat. Geboren wird Gallup 1901 in Iowa, in einer durch und durch normalen Gegend mit durch und durch normalen Bewohnern. Dort kann man leicht auf die Idee kommen, einige Menschen gewissermaßen stellvertretend für alle zu befragen. Natürlich will er gute Geschäfte machen, aber er hat auch eine Mission: dem vergessenen kleinen Mann eine Stimme geben. Nicht nur die Eliten sollen in der öffentlichen Debatte gehört werden, sondern auch das Volk. Und wenn in der Demokratie die Regierung auf dem Willen des Volkes gründen soll, dann muss eben einer rausgehen und das Volk fragen, was es will.

So werden Telefonumfragen gemacht

"Hier sind wir im Maschinenraum der Meinungsforschung", sagt Tino Neuhaus, Leiter des Telefonstudios. "In einem der vier Telefonstudios, die für Kantar die telefonischen Umfragen durchführen, wir hier in Berlin mit Schwerpunkt infratest dimap, die politischen Umfragen für die ARD, derzeit sitzen knapp 70 Interviewer hier, melden sich in den deutschen Haushalten und stellen die brisanten Fragen, die diese Gesellschaft hergibt."
Kurz nach 17 Uhr. Im Telefonstudio von infratest dimap hat gerade die Kernarbeitszeit begonnen. Mit Headsets sitzen die Interviewer vor ihren Bildschirmen. Viele junge Gesichter – und eine Handvoll ältere. Ein klassischer Nebenjob für Studierende und Rentner. Wie viel man hier als Interviewer verdient, will Tino Neuhaus, der Leiter des Telefonstudios, nicht sagen – jedenfalls nicht, solange das Mikrofon eingeschaltet ist. Auch Interviews darf ich nicht mitschneiden, wegen der Privatsphäre der Angerufenen. Aber wir können ja mal so tun, als ob…
"Ja, schönen guten Abend. Mein Name ist Andreas Hiller vom Forschungsinstitut Infratest dimap. Sie kennen uns ja bestimmt aus den Nachrichten, wir machen zum Beispiel die Wahlforschung für die ARD. Heute führen wir eine Meinungsstudie zu verschiedenen aktuellen Themen durch. Wären Sie so freundlich, sich daran zu beteiligen? Die Teilnahme ist natürlich freiwillig und auch anonym. – Wunderbar. Ihre Telefonnummer wurde von einem Computer zufällig generiert, wir telefonieren also keine Listen ab, wir haben keine gespeicherten Nummern, sondern die Nummern werden von unseren Computern nach einem anerkannten wissenschaftlichen Verfahren generiert, das nennt sich Random last digit, dieser Verwendung können Sie natürlich jederzeit widersprechen."

Nur noch etwa jeder zehnte macht bei Telefonumfragen mit

Forschung, Freiwilligkeit, Anonymität, Datenschutz – Andreas Hiller hat nur einige Sekunden, um die Person am anderen Ende davon zu überzeugen, dass sein Anliegen seriös ist. Und dass er nicht unter dem Deckmantel einer Meinungsumfrage am Ende doch ein Paket zur privaten Altersvorsorge oder einen Mobilfunkvertrag an den Mann oder die Frau bringen will. Das ist nicht mehr so einfach, obwohl Infratest dimap gewissermaßen in der Königsklasse der Meinungsforschung spielt, neben Instituten wie forsa oder der Forschungsgruppe Wahlen, die ebenfalls wegen ihrer Wahlberichterstattung für große TV-Sender bekannt sind.
"Es macht natürlich nicht jeder mit", sagt Andreas Hiller. "Aber ich glaube schon, dass mir das noch halbwegs gut gelingt, die Leute davon zu überzeugen, dass das eine gute Sache ist.
Und wie hoch ist der Prozentsatz derer, die letztlich teilnehmen? Michael Kunert, Geschäftsführer von infratest dimap, sagt:
"Wir sprechen von einer Kooperationsrate, das heißt, wenn jemand am Telefon den Hörer abgenommen hat, sag ich jetzt mal, man hat also tatsächlich einen Kontakt mit einer Person, wie viel Prozent von denen nehmen dann an unseren Befragungen teil, und das bewegt sich ungefähr bei 10 – 15 Prozent."
Kann man unter solchen Voraussetzungen noch ein Ergebnis bekommen, das wissenschaftlichen Qualitätskriterien genügt?
"Ja, kann man", sagt Kunert. "Sie sehen das bei unseren Erhebungen im Vorfeld der Wahlen, die Stimmungen, die wir da messen, sind in der Regel nicht sehr weit weg von dem, was letztendlich bei den Wahlen herauskommt, das ist eine verlässliche Methode für diesen Zweck und erheblich besser als viele andere."

Methode schlägt Masse

1935 gründet Gallup sein American Institut of Public Opinion – und bläst im Jahr darauf zum Angriff auf die Konkurrenz. Öffentlich fordert er die Zeitschrift "Literary Digest" heraus, die als unfehlbar gilt, nachdem sie fünfmal hintereinander den richtigen Sieger bei Präsidentenwahlen vorausgesagt hat. Zehn Millionen Probestimmzettel verschickt der Literary Digest an amerikanische Bürger, etwa zweieinhalb Millionen kommen zurück. Sie sagen einen klaren Sieg für den Kandidaten der Republikaner, Alfred Landon, bei der anstehenden Wahl voraus. Gallup hat nur wenige tausend Menschen befragt und ist sich sicher: Der Demokrat Roosevelt wird gewinnen. So sicher, dass er den Zeitungen, die seine Umfragen abdrucken, eine Geld-zurück-Garantie gibt, sollte er falsch liegen. Warum er so sicher war? Die Adresskartei, mit der der Literary Digest arbeitete, bestand aus Autobesitzern und Leuten, die einen Telefonanschluss hatten. Und wer besaß so etwas schon in den Dreißigern? Gallup hingegen hatte auch den kleinen Mann befragt, und der wollte Roosevelt wählen.

Der amerikanische Meinungsforscher George H. Gallup (undatiert). Gallup war von 1934-1935 Präsident des Marktforschungsrats sowie Begründer verschiedener Markt- und Meinungsforschungsinstitute. Er wurde am 18. November 1901 in Jefferson (Iowa) geboren und verstarb am 27. Juli 1984 in der Schweiz. |
© dpa - Bildarchiv
Methode schlägt Masse. George Gallups korrekte Vorhersage des Wahlsiegs von Franklin D. Roosevelt 1936 bedeutete den Durchbruch für die moderne Markt- und Meinungsforschung. Heute ist sie in riesiges lukratives Geschäftsfeld. Allein in Deutschland setzten die 115 Unternehmen der Branche 2017 knapp zweieinhalb Milliarden Euro – das hat das Fachblatt "Research & Results" in einer Befragung ermittelt. Doch nachdem es jahrzehntelang eigentlich immer nur aufwärts ging, stagnieren die Umsätze seit ein paar Jahren oder gehen sogar leicht zurück.
"Die Devise Geiz ist geil hat sich eben in vielen Bereichen durchgesetzt", bedauert Michael Kunert, der Geschäftsführer von Infratest dimap. "Und das ist in dem Bereich eben sehr schwierig – erst recht, wenn Sie daran denken: Zeitungen, Printmedien geht es finanziell nicht gut, sie machen seit Jahren einen Schrumpfungsprozess durch, und da ist die Bereitschaft, für etwas Geld zu bezahlen, nicht so ausgeprägt, wenn es eine vermeintlich sehr viel preiswertere Alternative gibt, wo man gar nicht sofort erkennen kann, dass sie minderwertig ist."
Bekommt Infratest die Krise auch zu spüren?
"Das ist generell für alle Unternehmen… In dem Bereich gibt es große Veränderungen, und es ist sehr schwer, den Preis eben tatsächlich zu erzielen, den man eben auch braucht für eine qualitativ hochwertige Umfrage."
Vor allem Zeitungen geben inzwischen weniger Umfragen bei klassischen Meinungsforschungsinstituten wie infratest dimap in Auftrag. Und das hat auch mit einem Berliner Start-up zu tun, das sich nicht weniger vorgenommen hat als eine Technologie-Revolution der Meinungsforschung.

Wie das Start-up Civey die Branche aufmischt

Ein Altbau im tiefsten Berlin-Kreuzberg. Hier hat Civey seinen Sitz. Co-Geschäftsführerin Janina Mütze, dunkelhaarig und zierlich, führt durch die Geschäftsräume. Die Chefin ist gerade einmal 28 Jahre alt. Vor vier Jahren hat sie gemeinsam mit Gerrit Richter und Oliver Serfling Civey gegründet.
Civey nennt sich nicht Meinungsforschungsinstitut, sondern Opinion-Tech-Unternehmen, und auch sonst macht es manches anders als Konkurrenz. Zum Beispiel rekrutiert Civey die Teilnehmer seiner Umfragen übers Internet: über die eigene Website oder über die Online-Ausgaben verschiedener Zeitungen.
"Wir haben im August 2016 den ersten größeren Medienpartner gewonnen, das war der Tagesspiegel in Berlin, der mit unseren Umfragen gestartet hat", sagt Janina Mütze. "Dann kam im Dezember 2016 auch Spiegel Online dazu, das hat natürlich dann außerhalb Berlins auch etwas mehr Reichweite erzeugt."
Inzwischen arbeite Civey mit mehr als 20 Redaktionen zusammen, sagt die Geschäftsführerin: von Focus Online, der Huffington Post über verschiedene Regionalzeitungen bis hin zum Nachrichtenportal von T-Online.
Und so funktioniert es:
"Da lesen Sie beispielsweise auf der Seite von Spiegel Online ein Stück zur Innenpolitik, und mitten in diesem Artikel sehe ich dann als Leser eine Befragung. Die ist von uns in den Artikel reingesetzt worden, da werden sie zu einem ähnlichen Thema befragt, beispielsweise: wie finden Sie den Vorschlag der CSU, folgendes zu tun? Und dann können Sie als Leser von Spiegel Online abstimmen, und wenn Sie das tun, bitten wir Sie, sich mit drei Soziodemografika anzumelden, zu registrieren, das heißt, Sie geben dann Alter, Geschlecht und Ihre Postleitzahl an, und geben uns dann mit einem kleinen Häkchen die Erlaubnis, dass wir diese Daten verarbeiten dürfen."
Verarbeiten heißt: Aus dem Pool der abgegebenen Stimmen wird nach einem Algorithmus eine Stichprobe von meist 5.000 gezogen, die nach Alter, Geschlecht, Region, Bildungsgrad und weiteren Merkmalen der Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung entspricht. Um zu möglichst verlässlichen Ergebnissen zu kommen, ist Civey also darauf angewiesen, seine Nutzer besser kennenzulernen. Und so bekomme ich, nachdem ich bei der ersten Umfrage mitgemacht habe, gleich weitere Fragen zugespielt:
Freuen Sie sich im Sommer manchmal auf den Winter?
Wie hoch ist Ihr monatliches Haushaltseinkommen?
Wie bewerten Sie es, dass Angela Merkel Koalitionen von Union und AfD grundsätzlich ausschließt?

Marktforschung muss auch Spaß machen

Civey gewinnt die Teilnehmer seiner Umfragen durch sogenanntes "River-Sampling". Man wirft also seine Angel aus und guckt mal, welche Fische anbeißen und bei der Umfrage mitmachen. Meine erste Abstimmungen werde bei der Auswertung der Umfrage gar nicht berücksichtigt, sagt Janina Mütze. Sondern diese ist gewissermaßen der "Köder", der den Fisch dazu bringen soll, sich für den Pool der Befragungsteilnehmer zu registrieren. Erst wenn Civey genug Angaben über eine Person gesammelt hat, werden ihre Votes mitgezählt. Mehr als 500.000 Mal wird Civey zufolge am Tag abgestimmt – eine gewaltige Datensammelmaschine. Und als Dankeschön bekommt jeder Teilnehmer sofort die Umfrageergebnisse zu sehen.
"Auf unserer App zeigen wir Ergebnisse an, wir geben Ihnen aber auch die Möglichkeit, abzustimmen. Sie sehen hier rechts, wo überall gerade Live-Abstimmungen passieren. In der letzten Stunde wurden knapp 64.000 Meinungen abgegeben, überall, wo hier auf der Karte Punkte sind, stimmen gerade Menschen ab oder haben in der letzten Stunde abgestimmt, und das ist tatsächlich live", betont Janina Mütze.

Ist das, was Civey macht, seriöse Meinungsforschung?

"Was ich erlebt habe, ist, dass man uns am Anfang erstmal nicht wahrgenommen hat von Seiten der Markt- und Meinungsforschung", sagt Civey-Geschäftsführerin Janina Mütze. "Ich glaube, das hat sich in diesem Jahr geändert, weil wir in diesen Fachmedien mittlerweile sehr stark diskutiert werden. Ich habe vor allem sehr viel Arroganz gespürt und spüre die auch noch heute von Teilen der Branche. Ich habe das auch schon erlebt vor zwei Jahren, dass ich mit dem Geschäftsführer von einem Wettbewerber auf einem Podium saß und mir im Nachgang der Handschlag verweigert wurde, als die Kameras aus waren.
Ist das, was Civey macht, seriöse Meinungsforschung? Darüber streitet die Branche inzwischen offen – und heftig. An vorderster Front dabei: Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa.
"Das kann man nur ganz hart als Scharlatanerie bezeichnen", kritisiert er. Für Güllner sind Civeys Umfragen nichts anderes als das, was der gute alte TED in den achtziger Jahren gemacht hat: ein Spaß-Tool. Das Televoting-System wurde damals zum Beispiel gern in Shows wie "Wetten, dass…?" eingesetzt. Die Zuschauer konnten dann per Telefonanruf abstimmen, ob die Wette wohl erfolgreich sein würde oder nicht.
"Das sagen uns ja auch Vertreter der Redaktionen, die mit Civey arbeiten, dass sie das ähnlich sehen", so Güllner. "Nur die Entscheidung ist ja woanders gefallen – in den Chefredaktionen oder den Verlagshäusern – mit Civey zu arbeiten. Es geht ja auch gar nicht darum, dass man hier Ergebnisse bekommt, sondern dass man die Verweildauer auf einer Seite glaubt zu erhöhen, indem man dieses Clicktool – und was anderes ist Civey ja nicht – dem Leser anbietet."
Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner
Einer der schärfsten Kritiker von Civey: Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner© Deutschlandradio
Auch andere Meinungsforscher halten nichts von Civeys Methode. Zum Beispiel Michael Kunert, Geschäftsführer von infratest dimap, der Civeys Auftreten am Markt einfach nur unverschämt findet: "Kollegen von mir sind auch im Civey-Panel, sie bekommen unendlich viele Befragungsaufforderungen zugeschickt. Also, wenn jemand da tatsächlich teilnimmt, ist es ein Berufsbefragter, der alle zwei Tage oder so da eine Befragung macht, da muss ich sagen: Holla, was ist das denn?! Ich möchte doch keine Berufsbefragten haben, die ständig irgendwelche Dinge ausfüllen. Das hat nichts mehr damit zu tun, dass man die Grundgesamtheit Wahlbevölkerung angemessen wiedergibt."
Befragungen, an denen nur am Thema Interessierte teilnehmen, können niemals repräsentativ sein, meint Kunert. Civey-Chefin Janina Mütze hält dagegen: "Online-Umfragen wird vorgeworfen, dass Menschen selbst entscheiden können, an der Umfrage mitzumachen. Ich sage immer: Ja, das kann ich am Telefon auch, da entscheide ich mich dann vielleicht eher dafür, nicht mitzumachen. Da gibt es auch ein Problem."

Für viele ein Buch mit sieben Siegeln

Während das, was der Literary Digest machte, unmittelbar einsichtig ist, weil es auf der uralten Praxis des Zählens beruht, wirkt Gallup auf viele wie ein Zauberer. Immer wieder verweist er auf die wissenschaftlichen Grundlagen seines Verfahrens: Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie. Aber es hilft nichts: Warum wurde ich nicht interviewt? Warum kenne ich niemanden, der interviewt wurde? fragen viele. Wie kann es sein, dass man mit einem rein technischen Verfahren Aussagen über ein so komplexes Gebilde wie eine Gesellschaft treffen kann? Und weil im Grunde kaum jemand sie versteht, erregt Gallups Methode auf der einen Seite Argwohn und Skepsis. Auf der anderen Seite wirkt sie auf viele wie eine magische Praxis, der man blind glaubt. Und das ist im Grunde bis heute so geblieben.

Der amerikanische Meinungsforscher George H. Gallup (undatiert). Gallup war von 1934-1935 Präsident des Marktforschungsrats sowie Begründer verschiedener Markt- und Meinungsforschungsinstitute. Er wurde am 18. November 1901 in Jefferson (Iowa) geboren und verstarb am 27. Juli 1984 in der Schweiz. |
© dpa - Bildarchiv
Wir fragen nach bei einem Statistiker:
"Mein Name ist Stefan Zins, ich bin Statistiker, um genau zu sein, Umfragestatistiker, ich arbeite hier in Mannheim bei der Gesis, dem Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und mein Spezialgebiet sind halt eben Stichproben bzw. Statistik zu machen mit Stichprobendaten."
Das Arbeitsgebiet von Stefan Zins berührt den Kern des gegenwärtigen Streits in der Meinungsforschung: Auf welche Weise rekrutiere ich die Teilnehmer einer Umfrage, um am Ende daraus verlässliche Schlüsse auf die Gesamtbevölkerung ziehen zu können? Oder im Statistikerdeutsch: die Stichprobenziehung.
Porträtaufnahme des Statistikers Stefan Zins.
Der Statistiker Stefan Zins arbeitet bei GESIS. Das Institut berät Wissenschaftler und Praktiker in Methodenfragen der empirischen Sozialforschung.© privat
"Paradigmenwechsel - weiß ich nicht, ob man das sagen kann", meint Stefan Zins. "Aber man hat natürlich lange Zeit auf die sogenannten Zufallsstichproben zurückgegriffen, auch in der Meinungsforschung. Nun ist das so, dass durch das sich ändernde Umfeld für die Umfrageforschung, das heißt, die Antwortbereitschaft der Bevölkerung geht in vielen Bereichen zurück, und jetzt gibt es eben neue Methoden, die nicht mehr auf Zufallsstichproben zurückgreifen, sondern die einfach quasi durch freiwillige Selektion, durch das Teilnehmen an Umfragen, die im Internet präsentiert werden, Daten sammeln."

Die Zufallsstichprobe ist die überlegene Methode

Von der Theorie her ist die Zufallsstichprobe den anderen Methoden überlegen, denn sie kommt ohne inhaltliche Vorannahmen aus. Aber funktioniert das auch noch, wenn nur noch jeder zehnte, dessen Telefonnummer für die Stichprobe ausgewählt wurde, bei der Befragung mitmacht? Im Prinzip ja, meint Stefan Zins. Es gibt statistische Verfahren, wie man solche Ausfälle kompensieren kann – vorausgesetzt, man kennt deren Ursache. Ansonsten muss man mit Modellen arbeiten und zur Not auch mit Erfahrungswerten:
"Das ist jetzt auch keine schwarze Magie, das ist gängige Methodik, die schon sehr lange funktioniert, und es gibt auch theoretische Grundlagen dazu. Natürlich wissen die Institute, die diese Wahlforschung betreiben, sehr genau, welche Schichten in der Bevölkerung wie wählen, das heißt, diese Variablen kennt man wohl ganz gut und kann dann versuchen auf die zu gewichten. Und wenn man so was oft macht und hat dann Vergleiche, wie die Wahlergebnisse tatsächlich waren, kann man natürlich versuchen, diese Gewichtungsmethode immer durch Feinadjustierung anzupassen und somit halt besser zu werden über die Zeit."
Grafik mit den Stimmanteilen der Parteien bei der Bundestagswahl 2017 gemäß der Prognose von Infratest dimap für die ARD.
Die AfD überschätzt, ansonsten sehr nah am Endergebnis: Die 18-Uhr-Prognose von Infratest/dimap bei der Bundestagswahl vom 24.9.2017,© Deutschlandradio
Während bei der Zufallsstichprobe die Qualität der Umfrageergebnisse möglicherweise durch Teilnahmeverweigerung beeinträchtigt werden, droht bei Civeys Methode eine Verzerrung durch den Auswahlmechanismus. Denn die Befragten rekrutieren sich gewissermaßen selbst: sei es, weil sie das Thema der Umfrage interessiert, sei es, dass sie generell gern an Befragungen teilnehmen.
Einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung wird man so keinesfalls in die Stichprobe bekommen. Doch auch für diese Verzerrung gibt es im Prinzip statistische Korrekturmechanismen, aber sie sind mit deutlich mehr Unwägbarkeiten verbunden.
"Das Problem, das ich da sehe: Man stützt sich immer auf gelernte Zusammenhänge aus der Vergangenheit, das heißt, man trifft Annahmen und verwendet statistische Modelle. All das braucht halt eben eine Zufallsstichprobe im Prinzip nicht. Das heißt, eine Zufallsstichprobe ist sozusagen robust, was das angeht. Man geht mit gar keinen Annahmen rein, weil ich das nicht brauche, ich brauche nur zu wissen, was die Wahrscheinlichkeit war, dass irgendjemand in der Stichprobe landet. Von daher, wenn jetzt plötzlich das Meinungsfeld sich verschiebt, kann es natürlich sein, dass ich mit den anderen Methoden, die hauptsächlich auf Modellen basieren und auf Vorstellungen, wie es in der Vergangenheit war, dass ich da daneben liege, und eine Zufallsstichprobe würde das einfangen."

Liegt die Zukunft im Methodenmix?

Ganz verwerfen sollte man diese Methode jedoch nicht, meint Zins. In der Marktforschung wird schon seit längerem mit River-Sampling und anderen Nicht-Zufallsstichproben gearbeitet.
"Da haben die durchaus auch eine Akzeptanz", sagt der Wissenschaftler. "In der Meinungsforschung ist das anders, aber das kategorisch auszuschließen, dass man damit nichts machen kann, ist auch ein bisschen schwierig. Aber es bestehen erhebliche Probleme, gerade vor dem Hintergrund, wenn man sich anguckt, warum man eigentlich Zufallsstichproben benutzt."
Vielleicht liegt die Zukunft ja in einem Methodenmix: "Ich kann mir vorstellen, dass diese Art, Daten zu generieren, dass das sicherlich bleiben wird. Und das kann auch in manchen Zusammenhängen sinnvoll sein. Und man kann es vielleicht auch kombinieren mit Zufallsstichproben. Eine Nicht-Zufallsstichprobe ist günstig, man kann sehr schnell einen großen Datenmengen erzeugen, hat natürlich dann aber kein Gefühl über die Verzerrung. Bei einer Zufallsstichprobe ist das eher der Fall, aber es ist teurer und dauert wahrscheinlich auch länger. Aber wenn man beide Datenmengen vielleicht miteinander kombinieren kann, könnte man wahrscheinlich die Vorteile nutzen aus beiden Methoden."

Ein Konflikt eskaliert

Inzwischen hat der Konflikt um Civey bizarre Züge angenommen. So wurde beispielsweise seit Ende September von einem anonymen Twitteraccount fast täglich gegen Civey Stimmung gemacht: Die Tweets werfen dem Institut vor, untaugliche statistische Methoden zu verwenden und, um das zu kaschieren, Umfragen zu fälschen und Daten von anderen Meinungsforschern zu klauen.
Staatspräsident der Türkei, steht zusammen mit den Premier League Fußballspielern Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r).
Der Stein des Anstoßes: die Fotos der Premier League Fußballspieler Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r). mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan.© dpa-Bildfunk / AP / Pool Presdential Press Service
Ebenfalls im September legten Forsa, infas und die Forschungsgruppe Wahlen wegen einer Civey-Umfrage Beschwerde beim Presserat ein:
"Als es eine Umfrage bei Focus Online gab, dass eine große Mehrheit der Bundesbürger nicht wollten, dass Herr Özil und Herr Gündogan in der deutschen Nationalmannschaft spielen, und die das als repräsentativ ausgegeben haben, haben wir gesagt: das ist ja ein Ergebnis, das einerseits nicht stimmen kann, auch weil es Umfragen von anderen Instituten gab, die einen viel niedrigeren Anteil hatten von 20 bis 30 Prozent", sagt Manfred Güllner. "Und das haben wir eben zum Anlass genommen, um gegen Focus Online die Beschwerde einzureichen, weil der Presserat ja nur über Presseorgane urteilen kann und nicht über Institute."
Dürfen Medien eine Umfrage verwenden, obwohl – so jedenfalls die Beschwerdeführer – deren Repräsentativität zweifelhaft sei? Am 4. Dezember 2018 entschied der Presserat: Ja, sie dürfen. Denn man könne Redaktionen keine wissenschaftliche Prüfung von Umfragemethodik abverlangen.
Das wiederum ruft den Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute auf den Plan: In einem offenen Brief drückt der Branchenverband seine Sorge darüber aus, dass Medien zunehmend lax mit Umfragedaten umgehen und Ergebnisse als repräsentativ bezeichnen, obwohl sie es nicht sind.
"Der erste auslösende Faktor war zum Beispiel auch der Spruch von Herrn Juncker zur Sommerzeit: die Bevölkerung will, dass es keine Umstellung der Zeit mehr gibt", sagt ADM-Geschäftsführerin Bettina Klumpe. "Und wenn man sich anschaut, wie damals die Abstimmung bei der EU gelaufen ist… am Ende war es so, 70 Prozent derer, die dort ihre Stimme abgegeben haben, waren Deutsche. Und das soll nun die Bevölkerung der EU widerspiegeln…"
Dennoch wurde die Umfrage in verschiedenen Medien als repräsentativ bezeichnet, kritisiert Bettina Klumpe und mahnt:
"Wir haben in Zeiten von Fake News, Alternativen Fakten und was alles – das Thema Lügenpresse ist allüberall und wir müssen dafür sorgen, dass die Bevölkerung dem vertrauen kann, was sie liest. Das geht uns nicht um einzelne Methoden, weil jede Methode hat seine Stärken und Schwächen, aber es geht wirklich darum, dass wir korrekt informieren."

Der "forgotten man" sendet heute lieber selbst

Gut 80 Jahre nach George Gallups Durchbruch scheint dessen Projekt, die Vermessung der öffentlichen Meinung, etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein. Umfrageergebnisse sind zu mächtigen Waffen im öffentlichen Diskurs geworden. Täglich werden wir mit ihnen bombardiert, nicht selten widersprechen sie sich und ihre Qualität lässt sich oft nur schwer einschätzen.
George Gallups forgotten man jedenfalls ist schon lange nicht mehr vergessen. Aber er sendet inzwischen lieber selbst – auf Facebook, Youtube, Twitter. Braucht man da überhaupt noch Meinungsforschung?
"Man könnte zugespitzt sagen: Man braucht sie in gewisser Weise sogar mehr denn je", sagt der Politikwissenschaftler Thorsten Faas. "Denn wenn wir diese These akzeptieren, dass das Verfolgen von Nachrichten, die Interaktion mit anderen über politische Themen in sozialen Netzwerken, dass wir da so immer stärker abgeschlossene Zirkel, Echokammern, Filterbubbles haben, dann hat das ja zur Konsequenz, dass jeder erstmal für sich denkt, er oder sie sei in einer Mehrheitsmeinung. Wenn das die Richtung ist, in die sich der Austausch über Politik entwickelt, dann wird das in letzter Konsequenz dazu führen, dass wir denken, unsere Position ist die einzig wahre. Und umso wichtiger sind dann natürlich gewisse Korrektive, zum Beispiel Meinungsforschung, die sagen: Hey, es gibt auch noch ganz andere Meinungen."

Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Positionen im Streit der Meinungsforscher gibt das Dossier "Repräsentativität und Zufallsstichprobe" auf dem Branchenportal marktforschung.de. Darin auch ein Beitrag von Stefan Zins: "Geht die Ära der Zufallsstichprobe ihrem Ende entgegen?"

Mehr zum Thema