"Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut"

Moderation: Burkhard Birke |
Angesichts der Proteste gegen den islamkritischen Film sprach sich Martin Schulz, Präsident des Europaparlamentes, für einen Dialog zwischen den Religionen und Kulturen aus. Es sei jedoch schwierig die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und der Beleidigung von Religion zu ziehen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schulz, es sind jetzt ziemlich genau auf den Tag acht Monate, dass Sie im Amt sind. Was war die größte Herausforderung, die Sie bisher als Europarlamentspräsident zu bewältigen hatten?

Martin Schulz: Die Debatte mit Viktor Orban, dem Ministerpräsidenten von Ungarn, direkt am Anfang meiner Amtszeit. Ich habe ihn am ersten Tag, unmittelbar nach meiner Wahl, eingeladen ins Parlament zu kommen, um sich vor dem Parlament zu äußern über die Medienpolitik, das Mediengesetz in Ungarn.

Da gab's ja im Parlament eine heftige Auseinandersetzung und ja auch die Prüfung durch die Kommission, ob Ungarn da europäisches Recht verletzt. Das war keine einfache Situation. Und es gab da auch eine taffe Auseinandersetzung zwischen Herrn Orban und mir.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ein wichtiges Stichwort genannt, Medienpolitik und Offenheit mit Meinungsfreiheit. Jetzt ist ja in der Aktualität ein ganz großes Thema, nämlich die Frage: Wo ist die Grenze von Meinungsfreiheit und wo ist die Grenze zu Blasphemie, also zu Gotteslästerung oder Beleidigung von Religion? Wo ziehen Sie diese Grenze, Herr Schulz?

Martin Schulz: Das ist ganz schwierig, sie zu ziehen. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das auch geschützt werden muss, und es ist extrem schwierig, da Grenzen zu ziehen. Ich rate auch dazu, es erst gar nicht zu versuchen. Da, wo das Strafrecht eindeutig ist, muss man einschreiten, also bei Verherrlichung von Gewalt, Aufruf zu Gewalttaten. Man muss die Grenze der individuellen Freiheit sehr weit auslegen. Aber ich selbst habe, wie jeder andere Bürger auch, die individuelle Freiheit, nicht alles gut zu finden.

Und ich glaube, es kommt darauf an, dass wir gerade bei der Konfrontation im kulturellen oder im religiösen Bereich, darum geht's ja in der Regel, hier zum Beispiel bei diesem Video oder bei Karikaturen, es kommt darauf an, dass die Zivilgesellschaft, die Öffentlichkeit eine Dialogform findet, die es möglich macht, sowohl nach innen als auch zwischen den Kulturen und Religionen, einen konstruktiven Dialog zu entwickeln. Darüber marginalisiert man die Extremisten aller Seiten am Besten.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben sich ja auch für mehr Integration ausgesprochen in Europa. Jetzt aus europäischem Blickwinkel: Was müsste sich da vielleicht auch verändern jetzt angesichts dieser aktuellen Diskussion?

Martin Schulz: Wir erleben eine Entwicklung in der Europäischen Union, die zur Fragmentierung führen kann, wenn sie nicht sogar schon dazu geführt hat. Ich hab schon vor ein paar Jahren angefangen hier im Parlament, auch in meiner früheren Funktion als Fraktionschef, darauf hinzuweisen, dass die EU in drei Teile zerfällt, in die Eurozone, die Nichteuro-Staaten, die aber in den Euro wollen, und die Nichteuro-Staaten, die unter keinen Umständen in den Euro wollen. Und deren heterogene Interessen kriegt man kaum noch miteinander ausgeglichen.

Die einfache Lösung, ja, dann machen wir es nur noch mit den 17 gegen die zehn anderen, geht alleine schon deshalb nicht, weil unter den zehn anderen, also Nichteuro-Staaten, Polen ist, die dynamischste Volkswirtschaft in Europa, die aber den Euro einführen will.

Wir haben die große Gefahr, dass wir vor lauter Krisengerede eins verkennen: Die Stärke Europas liegt in dem enormen Binnenmarkt, den es hat. Und die Stärke Europas liegt darin, dass unser Demokratie- und unser Gesellschaftsmodell, das auf sozialen und demokratischen Grundwerten und gegenseitigem Respekt basiert, auf der Waffengleichheit zwischen Kapital und Arbeit sich gründet, auf der Sozialverpflichtung von Eigentum sich gründet, in Gefahr ist - sowohl nach innen als auch im Wettbewerb mit anderen Weltregionen, in denen diese Werte nicht zählen und die zum Beispiel Ausbeuterlöhne und Kinderarbeit und hemmungslose Ausbeutung der Umwelt im Verhältnis zu uns als Wettbewerbsvorteil nutzen.

Wenn wir diesen Herausforderungen nach innen wie nach außen gegenüber gewappnet sein wollen, dann brauchen wir eine Definition dessen, was Europa machen soll und was es nicht machen soll. Und für das, was es machen soll, die Konzentration auf die weltweiten Herausforderungen, in denen der Nationalstaat alleine nicht mehr handlungsfähig ist. - Dafür brauchen wir eine europäische Regierung.

Deutschlandradio Kultur: Nun redet natürlich Europa im Augenblick oder ist damit beschäftigt, die Schuldenkrise in irgendeiner Form wieder einzufangen, zu zähmen. Die Frage ist schon: Inwieweit kann man jetzt nach vorne in die Zukunft schauen, wo man ja vor der drückenden Realität doch mehr oder weniger fast kapitulieren muss?

Martin Schulz: Sie sprechen mir aus der Seele. Wir brauchen eine Vision, wie wir Europa weiterentwickeln. Aber mit der Vision von der Zukunft Europas lösen wir nicht die Staatsschuldenkrise von heute. Was wir tun müssen, ist, wir müssen sofort ganz bestimmte Maßnahmen ergreifen, um vor allem die Zinsspekulation gegen einige Staaten einzudämmen.

Mein Eindruck war immer, wenn zum Beispiel die Bundesregierung, unsere Regierung vor die Alternative gesetzt worden ist, jetzt ganz konkret zu sagen, was sie will - will sie Eurobonds oder will sie keine, will sie den Schuldenreduzierungsfond oder will sie keinen, will sie eine Banklizenz für den ESM oder will sie keine -, begann, um vom Nein abzulenken, die Bundesregierung mit wolkigen Debatten über die Zukunft Europas. Ich habe das mit einem Bild verglichen: Wir sitzen im Flugzeug in einer schweren Turbulenz und im Cockpit diskutiert die Mannschaft über die Verbesserung der Triebwerke.

Deshalb, das, was Sie sagen, ist richtig. Wir brauchen eigentlich beides. Wir brauchen ein Projekt für die Zukunft in Europa. Aber wir brauchen auch kurzfristige Lösungen. - Nebenbei bemerkt, ich bin für den Schuldentilgungsfond und für eine Banklizenz für den Europäischen Stabilitätsmechanismus.

Deutschlandradio Kultur: Und Sie sind auch dafür, dass die EZB, wie es ja der Rat der EZB, der Europäischen Zentralbank, beschlossen hat, in unbegrenzter Höhe Staatsanleihen aufkauft?

Martin Schulz: Wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus eine Banklizenz bekommen hätte oder wenn wir einen Schuldentilgungsfond hätten, hätte die EZB diese Maßnahmen nicht ergreifen brauchen, weil dann nämlich Länder wie Italien oder Spanien sich wesentlich billigeres Geld hätten leihen können als das, was sie heute an den Märkten an Zinsen zahlen müssen.

Insofern ist das, was Draghi gemacht hat, am Ende außerhalb der normalen Vorgehensweise eine Art von Notbremse gewesen, die aber, wie wir sehen, zwingend erforderlich war und die auch wirkt. Die Beflügelung der Börsen durch dieses Vorgehen, auch die Stabilisierung des Euro im Verhältnis zum bei weitem höher verschuldeten Dollarraum, der übrigens gar nicht anders arbeitet - die FED, die Federal Reserve in den USA arbeitet exakt so - wie Draghi es jetzt gemacht hat, hat zu einer enormen Stabilisierung geführt. Ich bin nicht dafür, dass die ständig Staatsanleihen aufkaufen, sondern ich wäre dafür, dass wir Instrumente entwickeln, die den Staaten, die unter einem massiven Zinsdruck sind, helfen, sich billigeres Geld zu beschaffen, um ihre Schulden abbauen zu können.

Ich teile allerdings auch die Auffassung derjenigen, die sagen, das darf nicht zum Dauerzustand werden, dass die Staaten sich dann immer bei dem Stabilitätsmechanismus Geld leihen, also Junkie-Politik, die kommen jetzt wieder an billiges Geld und gehen damit in den Konsum. Wir müssen die Schuldenbremse, wir müssen das europäische Semester, also die Vorabvorlage der Haushaltsentwürfe, wir müssen die notfalls drastischen Maßnahmen, die die Kommission bei überzogenen Defiziten ergreifen kann, auch umsetzen. Wir haben die Instrumente geschaffen. Sie müssen aber angewendet werden.

Deutschlandradio Kultur: Noch mal zurück zur Zentralbank, ganz kurz: Lagern wir damit nicht die Fiskal- und die Finanzpolitik, ein Kernstück auch nationaler Souveränität, wir können auch drüber diskutieren, ob man das nicht ohnehin auf europäische Institutionen übertragen sollte oder müsste, wird das nicht out ge-sourct an eine nicht demokratisch kontrollierte und legitimierte Institution, wie die Europäische Zentralbank?

Martin Schulz: Ich wiederhole noch mal: Erstens, ich wäre dafür gewesen, dass wir es anders gemacht hätten. Dann hätten wir uns diese Frage nicht stellen müssen. Zweitens, wir haben längst einen Souveränitätstransfer vorgenommen. Die Bundesrepublik Deutschland und die 16 anderen Mitgliedsländer der Eurozone haben keine nationale Währungssouveränität mehr. Das heißt, wir lagern es nicht aus. Das, was wir übertragen haben, ist das Souveränitätsmodell der Bundesbank auf die EZB. Es war der deutsche Wunsch, ausdrücklich der deutsche Wunsch, der sich auch durchgesetzt hat, keine politisch orientierte und angebundene Notenbank zu haben, sondern eine Notenbank, die in voller Autonomie, unabhängig von der Politik handelt. Es war der deutsche Wunsch.

Jetzt tut sie das, aber nicht so, wie die deutsche Regierung es will. Dann sagt die deutsche Regierung, ja, volle Souveränität der EZB wollen wir, aber bitte nur dann, wenn sie das beschließt, was wir für richtig halten. - Das geht so nicht.

Also: Was die demokratische Kontrolle angeht, ich bin nicht dafür, ich sage das noch mal, da bin ich für das deutsche Modell, dass wir eine Notenbank politisch kontrollieren. Sollte die Notenbank allerdings das Recht bekommen als Bankenaufsicht zu fungieren, also machen wir aus der EZB eine Art europäische Federal Reserve nach amerikanischem Muster, hier Notenbank, dort Bankenaufsicht, dann muss sie für die Bankenaufsicht, die sie ausübt, so dem Europaparlament gegenüber rechenschaftspflichtig werden, wie das die amerikanische Zentralbank dem US-Kongress gegenüber ist.

Deutschlandradio Kultur: Noch einmal trotzdem EZB, weil das ja auch in Deutschland extrem kontrovers diskutiert wird und viele Bürger natürlich auch diese Maßnahmen und auch diese Positionierung der EZB doch mit großer Sorge beobachten:

Nun hat die EZB ja schon einmal heftig interveniert, Staatsanleihen aufgekauft von Italien, Griechenland. Dieser Effekt ist ja relativ schnell verpufft. Also, die große Frage ist: Ist es nicht alles trotzdem ein bisschen ein Placebo? Man gewinnt ein bisschen Zeit, aber unter dem Strich werden die Zinsen wieder dann steigen, wenn man auch sieht vielleicht, dass jetzt auch die Sparanstrengungen in Italien, in Griechenland, in Spanien wieder nachlassen.

Martin Schulz: Die lassen nicht nach. Also, ich fange mit dem letzten Argument an, bin auch dankbar für die sehr präzise Frage. Erstens lassen sie nicht nach. Warum sind eigentlich die Leute in Madrid und in Rom massiv auf der Straße? Weil gespart wird und massiv gekürzt wird. Die demonstrieren ja nicht, weil die Sparanstrengungen nachließen.

Es gibt ein ganz anderes Problem. Italien ist ein wunderbares Beispiel. Italien hat zehn Jahre lang einen Regierungschef gehabt, den ich - mit Verlaub gesagt - zu den weniger seriösen in Europa gezählt habe. Der hat die höchste Verschuldung herbeigeführt, die Italien je hatte. Und das Land war immer schon hoch verschuldet, aber der hat's richtig geschafft, die Verschuldung extrem hochzuschrauben. Wofür? Herr Berlusconi hat nämlich Steuern gesenkt einerseits, Staatsausgaben erhöht andererseits für die Finanzierung seiner Wahlversprechen - und ich bleibe dabei: nicht die Inkarnation der Seriosität.

Jetzt hat Italien einen anderen Ministerpräsidenten. Der bisherige, der Herr Berlusconi, hat an den Finanzmärkten trotz seiner unseriösen Politik Geld für zwei Prozent bekommen. Jetzt regiert im Palazzo Chigi, also im Regierungspalast in Rom, das totale Gegenteil, ein graumelierter Professor, distinguiert. Das gibt's eigentlich nur in Hollywood-Filmen so, einen Mann wie den Mario Monti. Der schmeißt den Koch aus dem Palast raus und die Frau kocht die Nudeln selbst. Dem sagen die internationalen Finanzmärkte: Nee, zu dir haben wir kein Vertrauen und treiben die Zinsen für Italien in die Höhe.

Jetzt sagt der Monti: Ich reduziere um 70 Milliarden, die sparen wir ein. Das ist das Sparprojekt. Das sind im Jahr etwa 3,5 Mrd. Euro Zinsleistungen, die wir weniger im Haushalt haben. - Was geschieht mit diesem reduzierten Geld? Es geht in die höheren Zinsen an den Finanzmärkten. Das ist das Problem von Italien, die Konsolidierungseffekte beim Sparen, werden den kleinen Leuten die Leistungen gekürzt und das Geld, das dort gespart wird, geht in die erhöhten Zinsen.

Ich meine, da muss man kein Nobelpreisträger der Volkswirtschaft sein, um zu kapieren, was dahinter steckt. Das ist Spekulation. Denen jetzt zu helfen durch zum Beispiel eine Banklizenz des Europäischen Stabilitätsmechanismus, damit das durchbrochen werden könnte, dass Italien sich - und jetzt sage ich einen wichtigen Satz, als Deutscher sage ich das auch - zeitlich begrenzt billigeres Geld holen kann, allerdings immer unter weiterer Einhaltung der Sparauflagen, das ist das, was wir machen müssten.

Aber, nebenbei bemerkt, worüber in Deutschland keiner redet: Was ist eigentlich der Fiskalpakt? Warum hat Frau Merkel so darauf gedrängt? Nämlich die deutsche Schuldenbremse auf ganz Europa auszuweiten, das ist exakt das, was wir gerade tun. Italien hat den auch ratifiziert. Also, die Behauptungen, die Sparanstrengungen lassen nach, die sind falsch. Die Sparanstrengungen laufen dann ins Leere, wenn Menschen sehen, dass das, was man ihnen als Opfer abverlangt, nicht etwa zur Sanierung des Staates, sondern zur Finanzierung von Zinsspekulationen großer Investoren benutzt wird. Das ist das, was die Leute auf die Barrikaden bringt.

Deshalb mein Rat noch einmal, nicht den Herrn Draghi zu prügeln, wenn er als Notbremse handelt für das Versäumnis, das die Politik, insbesondere der Staats- und Regierungschefs, in Europa produziert hat.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schulz, Sie haben ja eingangs gesagt, dass Sie ein Auseinanderbrechen Europas quasi schon beobachten. Wie ist denn Ihre Vision, dieses Auseinanderbrechen zu verhindern? Wie ist Ihre Vision von dem mehr Europa, was ja immer wieder gefordert wird, auch in dieser Krisensituation?

Martin Schulz. Ich glaube, wir müssen, wenn wir über die zukünftige Struktur Europas reden, ehrlicher werden, auch wir als professionelle Politiker in Brüssel. Ehrlicher heißt: Der Ansatzpunkt darf nicht in einem Streit zwischen dem Nationalstaat und Europa liegen, sondern in der Komplementarität, also in der Ergänzung der Aufgaben.

Als ich ein junger Bursche war, hab ich immer gedacht, die Vereinigten Staaten von Europa ist so eine Art USA auf europäischem Territorium. Ich hab da aber nicht begriffen, dass es nicht geht, aus einem Franzosen einen Kalifornier zu machen oder aus einem Deutschen einen Texaner. Sie werden auch aus einem Slowaken keinen Menschen wie in Massachusetts machen. Wir haben alle nationale Identitäten. Die gründen auf langen Geschichten, eigenen Traditionen, eigener Sprache ...

Deutschlandradio Kultur: Das begründet doch auch den Reichtum Europas.

Martin Schulz: Ja klar. ... eigener Kultur. Und ganz viele Menschen haben Angst, wir wollten durch eine Art europäisches Amalgam ihre nationale Identität ersetzen. Diese Angst müssen wir den Menschen als erstes nehmen. Und das nimmt man den Leuten am besten dadurch, indem man sagt: Nee, Europa ist nicht dazu da, euch was wegzunehmen, sondern was hinzuzufügen.
Um präzise zu beschreiben was, nämlich ...

Deutschlandradio Kultur: Wenn man natürlich jetzt auf die Finanzkrise schaut, dann haben die Bürger, sehr viele Bürger natürlich eher den Eindruck, es ist genau andersrum, auch wenn natürlich klargestellt werden muss, dass Deutschland bislang zwar mit Garantieleistungen in der Pflicht steht, aber Geld real ja noch bislang sehr überschaubar geflossen ist.

Bei diesen Zukunftsvisionen, was mich trotzdem noch mal interessieren würde: Sie kennen die Umfragewerte auch. Die gehen dramatisch nach unten, was Europa, was den Euro anbetrifft. Gleichzeitig gibt es jetzt auch, was die Ebene der politischen Eliten angeht, eine Debatte über die Zukunft der Europäischen Union. Mehr Europa ist eigentlich das, was man überall hört. Wie soll das zusammenpassen? Wie soll man die Bürger in Europa, die diesem Europa zunehmend skeptisch gegenüberstehen, hier noch überzeugen?

Martin Schulz: Ja, ich komme noch mal auf das zurück, was ich in der versuchten Antwort auf die vorherige Frage gesagt habe. Wir werden die Leute nicht zurückgewinnen, wenn sie Angst vor Europa haben. Das ist ja das, was Sie auch in Ihrer Frage beschrieben haben. Aber die Finanzkrise, lassen wir die mal außen vor, da sind die Wahrnehmungen nämlich von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Deutschen zum Beispiel glauben, sie seien die Zahlmeister. Die anderen glauben, die Deutschen wollten sie ausbeuten. Das eine stimmt so wenig wie das andere.

Noch mal zurück zu der Frage, wie stelle ich mir dieses Europa vor, und noch mal zu dem Satz, wir müssen ehrlicher miteinander werden: Die Menschen haben Angst vor Europa, vor einem Europa, das ihnen ihre Identität stiehlt und das ihnen nicht mehr soziale Gerechtigkeit bringt. Wie nehmen wir diese Angst?

Erster Schritt: Wir müssen Europa nicht substituieren, also ersetzend definieren, sondern ergänzend. Aber was ergänzen? Ich glaube, das 21. Jahrhundert hat im Gegensatz zur Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr die Friedensstabilisierung so sehr zur Grundlage, sondern vor allen Dingen die Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherung unserer sozialen Grundlagen.

Dabei sehe ich vier zentrale Herausforderungen. Die erste ist: Die weltweiten Handelsbeziehungen laufen zwischen Weltregionen, nicht zwischen Nationalökonomien. Es ist nicht Deutschland, das mit China, Indien, Lateinamerika, den USA, Osteuropa ( ... ), es ist Europa. Also, die Handelspolitik ist ja schon vergemeinschaftet. Dann müssen wir der EU auch für die Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Regionen, mit Asien, mit Lateinamerika, Brasilien, Mexiko sind aufsteigende Nationen, mit den USA, mit China, mit Indien, die Instrumente geben.

Zweitens: Der Klimawandel ist eine weltweite Aufgabe, die die Kooperation der Weltregionen verlangt. Ist Europa geteilt, ergeht es uns wie in Kopenhagen. Da ist das Schlussdokument der dortigen Klimakonferenz verhandelt worden zwischen Yongxing Dao und Barack Obama. Die Europäer als Gastgeber wurden wegen ihrer Zerstrittenheit nicht mal mehr eingeladen. Es war ein schlechter Tag fürs Weltklima.

Ein einiges Europa kann beim CO2-Ausstoß zum Beispiel andere Regionen über die Handelspolitik zwingen mitzumachen.

Das Dritte ist: Die weltweiten Währungsbeziehungen und die damit verbundene Zinsspekulation, Nahrungsmittelspekulation, die damit verbundene Steuerflucht, die die Leistungsfähigkeit der Staaten aushöhlt, die kriegt kein einzelner Staat alleine in den Griff.

Und das Vierte sind die Migrationsfragen. Wir haben heute nur acht Prozent der Erdbevölkerung, Tendenz fallend. Das heißt, 92 Prozent der Weltbevölkerung lebt heute schon außerhalb Europas. Ich gebe Ihnen mal eine Zahl: Im Jahr 2040 wird die Erde acht Milliarden Einwohner haben, Deutschland 76 Millionen. Das bedeutet, die stärkste Ökonomie Europas wird dann weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung sein.

Um es kurz zu machen: Handel, Währung, Umwelt und Wanderungsbewegungen, das sind die großen Aufgaben. Die sollte man auf die EU übertragen. Dafür braucht die EU dann eine Regierung und ein Parlament, das diese Regierung einsetzt und notfalls absetzt. Und die anderen Dinge, und jetzt sage ich Ihnen, was vielleicht auch am heutigen Tag den einen oder anderen Hörer oder Hörerin überraschen wird, andere Dinge können wir auch zurück übertragen.

Es muss nicht alles in Brüssel gemacht werden. Es gibt auch Dinge, die hier gemacht werden, die sich als unpraktikabel erwiesen haben. Ich war viele Jahre Bürgermeister einer Stadt in Nordrhein-Westfalen. Ich glaube, dass die ortsnahe Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger immer effektiver ist als Zentralismus.

Deutschlandradio Kultur: Konkret nachgefragt, Martin Schulz: Was könnte man denn von den Kompetenzen aus Brüssel auf die nationale Ebene zurück übertragen?

Martin Schulz: Regelungen in der Verkehrspolitik, Regelungen in der regionalen Entwicklungspolitik, Regelungen im Bereich von Erziehung und Kultur. Wir müssen nicht alles harmonisieren. Ich muss auch nicht, wenn ich Bürgermeister einer kleinen Stadt bin, eine europaweite Ausschreibung für jede Dienstleistung vornehmen. Es gibt ganz viele kleine und mittelständische Unternehmen, die - ob in Spanien oder in Deutschland - an regionalen Ausschreibungen deshalb nicht teilnehmen können, weil sie weder die personale, noch die finanzielle Kapazität haben, um die Formulare für die europaweite Ausschreibung überhaupt zu verstehen.

Also, nehmen wir ein ganz konkretes deutsches Problem, das wir jetzt auf der Tisch haben bei der Bankenunion. Mir hat bis heute keiner erklären können, worin das wettbewerbsverzerrende Hindernis für Europa besteht in der Tatsache, dass wir Sparkassen haben. Das hat mir bis heute keiner erklärt. Ich habe wohl gesehen, dass während der - sie haben das eben ja angesprochen - Finanzkrise, wo große Geschäftsbanken gesagt haben, na ja, traditionelles Bankgeschäft ist nichts für uns, wir machen nur noch Investmentbanking - mit den entsprechenden entweder exorbitanten Gewinnen oder Verlusten, die dann sozialisiert wurden. In der Zeit haben unsere Sparkassen, die kleinen Volksbanken das getan, was Banken tun sollten, nämlich die klein- und mittelständische Wirtschaft mit Geld zu versorgen.

Dass die nicht heute in der Bankenunion für große Geschäftsbanken zahlen wollen und für deren Verluste, kann ich verstehen. Also, durchaus auch auf länderspezifische Eigenheiten Rücksicht zu nehmen und nicht Ruhe zu geben, bis der letzte Kommunalfriedhof privatisiert ist, auch das ist ein Stück Rückübertragung von Kompetenz.

Deutschlandradio Kultur: Stichwort noch ganz kurz noch mal: Vision auf der einen Seite, Reformbedarf auf der anderen Seite, ganz konkret, praktische Politik, Stichwort Bankenaufsicht. Die soll ja auch geplant werden, ist eine der zentralen Konsequenzen aus dieser Finanz- und Schuldenkrise, die wir haben. Nun gibt es schon wieder Streit über Strukturen, über Zuständigkeiten. Das heißt, das ganze Projekt droht schon wieder erheblich verzögert zu werden. Vielleicht scheitert es auch ganz.

Also, zeigt da Europa nicht schon wieder, wenn es konkret wird, dann ist ein Scheitern eher angesagt?

Martin Schulz: Ich hab das jetzt zum dritten Mal gehört, dass Sie - vielleicht sogar berechtigterweise - Europa kritisiert haben in einem Bereich, wo Sie präziser sagen müssten, und ich mache Ihnen keinen Vorwurf draus, ich versuche aber jetzt mal ganz präzise zu sein, und zwar in den Bereichen, wo die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im so genannten Europäischen Rat unter Vorsitz von Herman Van Rompuy sich nicht einigen können, und das wird dann anschließend Europa in die Schuhe geschoben. Da heißt es, Europa kann sich nicht einigen. Machen wir es doch mal ganz präzise: Das sind die Regierungschefs Europas, die sich nicht einigen können.

Das Europäische Parlament beschließt vielleicht nicht immer klug, aber wir beschließen, und zwar permanent und mit Mehrheit. Und wir liefern auch. Die Richtlinien und Gesetze, die wir im Rahmen der Finanzmarktregulierung durchgesetzt haben, setzen wir hier durch - gemeinsam mit der Kommission. Die schlägt nicht immer Kluges vor, aber sie schlägt was vor.

Diejenigen, die jetzt zum 25. Mal bei der Krise zusammengesessen haben, beim Silberjubiläum sozusagen, beim letzten Krisengipfel, wer ist das eigentlich? Ich werde da nicht zugelassen. Mich schmeißen sie da raus nach dem Motto: Das Parlament hat hier nix zu suchen. - Das sind die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union.

Im französischen Wahlkampf hat Herr Sarkozy das auf die Spitze getrieben. Er hat im Wahlkampf gesagt: Die Regierung von Europa, das ist Angela und ich. Da hat er Applaus bekommen. Das ist das Deauville-Gespann. Drei Sätze später sagt er: Mais l'Europe est mal gouvernée - Europa wird schlecht regiert. - Kriegt er auch Erfolg, kriegt er auch Applaus. Das heißt, die Wahrnehmung, ist was gut, dann sind das die Regierungschefs, ist es schlecht und die gleichen Regierungschefs haben sich nicht geeinigt, sagen auch Sie in Ihrer Frage, ja, aber Europa ...

Nee! Zunächst mal sind das 27 Regierungen. Und das ist eine der größten Fehlkonstruktionen, die wir nach meinem Dafürhalten haben. Jürgen Habermas nennt das die "Selbstermächtigung des Europäischen Rates". Der Rat der Staats- und Regierungschefs zieht alles auf seine Ebene an Kompetenzen. Der große Erfolg des Lissabon-Vertrages war nach der gescheiterten Verfassung, dass wir die Mehrheitsentscheidung in Europa zum Regelfall machen wollten, um Europa effektiver zu machen.

Der Rat zieht aber nun alles auf seine Ebene, die Regierungschefs. Nur: Unter ihnen herrscht Einstimmigkeit. Und das führt dazu, dass sie sich in der Regel auf nichts einigen können. Und das wird Europa angelastet. Ja, das ist auch ein Teil von Europa, aber nicht das Teil der Europäischen Gemeinschaftsmethode, sondern das ist das Europa des Vorranges des nationalen Interesses. Wenn wir das nicht durchbrechen, kommen wir nicht weiter.

Deutschlandradio Kultur: In der Konsequenz: Sie fordern für das Europäische Parlament bei der aktuellen Krisenbekämpfung was konkret?

Martin Schulz: Ja erstmal, dass die Legitimierung jedes europäischen Entscheidungsprozesses einer der parlamentarischen Legitimation bedarf. Ich glaube, darüber brauchen sich Demokraten nicht zu unterhalten. Das ist aber nicht der Fall. Ein ums andere Mal sagen die Regierungschefs, ja, ja, die Parlamente, hm. Für uns sind die nationalen Parlamente zuständig. - Sie handeln aber als europäisches Organ. Zu Hause sagen Sie, nee, nee, Moment mal, das haben wir in Brüssel entschieden, da seid ihr nicht für zuständig. Und in Brüssel sagen sie, nee, ihr seid nicht zuständig, weil, wir sind ja nationale Regierungschefs.

Diese Strategie ist schön für die Regierungschefs, aber eine Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie. Also: Legitimation erfolgt auch auf europäischer Ebene über uns. Und das Europäische Parlament ist der Legitimitätsgeber der EU, der Union, nicht der nationalen Regierungen, aber der europäischen Organe. Und deshalb: volle Integration des Europäischen Parlaments bei allen europäischen Maßnahmen. Solange ich dieses Amt als Parlamentspräsident innehabe, wird da mit mir hart drüber verhandelt werden müssen.

Deutschlandradio Kultur: Eine ganz, ganz abschließende Frage: Haben wir soeben mit dem möglichen Kandidaten für den Kommissionspräsidenten der Zukunft gesprochen?

Martin Schulz: Ja, ich kriege diese Frage ja an jeder Ecke gestellt. Und meine Antwort ist auch immer die gleiche, die, die ich Ihnen jetzt gebe: Ich bin, wie Sie eben gesagt haben, heute, am heutigen Samstag knapp acht Monate im Amt und habe noch 22 Monate in diesem Amt vor mir und will dieses Amt in Würde und mit Erfolg zu Ende bringen.
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