Umkämpfte Solidaritäten
06:39 Minuten
Wer soll Hilfe bekommen, für wen ist der Sozialstaat da? Das hat die Universität Wien Menschen aus allen Schichten in Österreich gefragt. Eine wichtige Erkenntnis: Öffentliche Debatten entscheiden darüber, ob sich die gesellschaftlichen Gräben vertiefen.
"Seitdem die Flüchtlinge da sind, weiß man ja, was es alles gibt, was für … Unterstützung ... Meines Erachtens kriegen die zu viel bezahlt. Ein Pensionist, der kriegt ein Taschengeld, warum kriegen die mehr?" So lautet ein Zitat aus dem Buch "Umkämpfte Solidaritäten".
Wer soll Hilfe bekommen, für wen ist der Sozialstaat da? Das haben Soziologen der Universität Wien Österreicher und Österreicherinnen aus allen Schichten gefragt. Die Ergebnisse und Auszüge aus den Interviews wurden jetzt in einem Buch veröffentlicht: "Umkämpfte Solidaritäten – Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft".
Sieben Gruppen identifiziert
Professor Jörg Flecker und sein Team haben untersucht, wie Menschen Solidarität definieren. Sieben Gruppen wurden identifiziert, die verschiedene Antworten haben. Für eine Gruppe ist Hilfe ein universelles Thema. Jedem, der Hilfe braucht, soll geholfen werden, egal, woher er kommt. Dieser Gruppe geht es darum, gemeinsam Benachteiligungen zu überwinden, auch weil sie politische Solidarität für besonders wichtig hält.
"Zum Teil spielt die soziale Herkunft durchaus eine Rolle, aber nicht in der Form, dass die, die selbst wenig haben, weniger bereit sind zu teilen. Ganz im Gegenteil. Wir haben Beispiele dafür, dass jemand sagt ich kann mir kaum meine Nahrungsmittel leisten. Aber ich achte darauf, Fairtrade-Produkte zu kaufen, weil mir wichtig ist, wie es den Leuten geht, die diese Produkte auf anderen Kontinenten herstellen", sagt Jörg Flecker.
"Ich meine, für mich in meiner finanziellen Situation ist das eine Lawine, ob ein Packerl Kaffee 2 Euro kostet oder 6 Euro. Nur, meine Bequemlichkeit ist Leid für jemand anderen." - So lautet ein weiteres Zitat aus "Umkämpfte Solidaritäten".
Gutsituierte fühlen sich moralisch verpflichtet
Eine andere Gruppe sind die Gutsituierten, die helfen, weil sie eine moralische Verpflichtung darin sehen, von ihrem Wohlstand etwas abzugeben.
"Wir sind da hinein, haben im ersten Moment halt irgendwie geschaut, dass wir die Geflüchteten versorgen mit Wasser, Windeln, was man halt so braucht… Und dann kommst du wirklich – das zieht dich rein, weil das auch so unglaublich befriedigend war", heißt es da.
Andere Gruppen wollen nur dann solidarisch sein, wenn die Geflüchteten ihre Werte teilen und Leistungen erbringen. Und schließlich die Gruppen, die Hilfe auf jene beschränken, die so sind, wie sie selbst, also nationalistische Kriterien anlegen und auch dann nur denen helfen, die es sich irgendwie verdient haben. Begleitet wird das von Ressentiments, verdeutlicht dieses Zitat.
"Diese ganzen Migranten … schöpfen aus den vollen Töpfen. ... Das Witzige ist, bei denen, die können zehn Kinder haben. Ja, passt. Die kommen über die Runden ohne Ende. Wenn du als Österreicher ein Kind hast, kannst du schon schauen, wie du über die Runden kommst."
Viele Menschen wägen ab
Helfen oder nicht. Erwartungen oder Bedingungen für Hilfe formulieren. Viele Menschen wägen ab und haben keine eindeutigen Antworten. Welche Meinung sie dann übernehmen, hängt vom medialen und persönlichen Umfeld ab. Man könnte das Meinungsflexibilität nennen.
"Und da kann es durchaus sein, dass jemand zum einen sagt, 'ich finde es nicht okay, dass jemand, der arbeiten könnte, zuhause bleibt und Arbeitslosengeld bezieht' und im nächsten Satz dann sagt, 'ich verstehe schon, wenn so wenig bezahlt wird für einen Job, dass jemand dann lieber vom Arbeitslosengeld lebt'", erklärt Jörg Flecker. "Das kommt in diesen ambivalenten Haltungen ein bisschen darauf an: Was ist gerade Thema? Wie ist es gerahmt? Wie werden die Leute angesprochen? Und welche Stimmung wird über die Medien auch verbreitet."
Angst schürt nationalistisches Denken
So entscheiden öffentliche Debatten darüber, ob sich die Gräben zwischen den unterschiedlichen Gruppen vertiefen. Wenn über Kürzungen im Sozialbereich oder über eine Erhöhung des Rentenalters gesprochen wird, entsteht ein Klima der Angst bei denen, die davon betroffen sind.
Wenn sich später für Bankenrettungen noch Milliarden Euro in der Staatskasse finden, wächst das Unbehagen, weil das Gerechtigkeitsempfinden Vieler verletzt wird. Dies oder die Angst, den eigenen Status zu verlieren, drängt Menschen in die von den Soziologen definierten Gruppen, die möglichst wenigen helfen wollen. Ihre nationalistischen Kriterien werden lautstark vorgetragen.
"Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer Normalisierung des Rechtsextremismus, weil bestimmte Vorstellungen, die vor 20 Jahren, vor 25 Jahren noch als extrem eingestuft wurden, sich schleichend in die Mitte der Gesellschaft bewegt haben."
Gesellschaftliche Bewertungen verändern sich
In diesem Dunstkreis verändern sich die gesellschaftlichen Bewertungen. Der Soziologe Jörg Flecker von der Universität Wien erinnert daran, dass in den 1960er-Jahren 80.000 Ungarn nach Österreich kamen und später sehr viele Menschen aus dem damaligen Jugoslawien flüchteten.
"Das hat keinen Aufschrei verursacht. Im Gegenteil. Ja, es war anders gerahmt. Und hier werden Leute aus Syrien, aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Afrika als fremd etikettiert, während damals Leute aus Bosnien, Kroatien, Serbien nicht in dem Maße als fremd etikettiert wurden, weil es in Österreich schon viele aus diesen Ländern ursprünglich gab."
Bedürftige nicht gegeneinander ausspielen
Konflikte können beherrscht werden, solange Bedürftige nicht gegeneinander ausgespielt werden. Solange keine Ängste erzeugt und Probleme dramatisiert werden. Und solange der Staat eine verantwortungsvolle Sozialpolitik betreibt. Das kann als Anregung der Wissenschaftler für die Politik verstanden werden.
"Zuallererst geht es, glaube ich, darum, die innerstaatliche Verteilung und Umverteilung in den Blick zu nehmen und zu sagen: Unser Sozialstaat ist sehr gut finanzierbar. Es ist so viel Reichtum im Lande. Wenn alle, auch die Reichen, sich an der Finanzierung beteiligen, dann braucht niemand Angst zu haben, hier in der Pension oder in der Arbeitslosigkeit oder bei Krankheit zu kurz zu kommen. Und die paar Tausend, die von außen dazu kommen, die stellen hier in dieser Hinsicht gar kein Risiko dar. Das müsste man klar sagen und nicht Ängste schüren und dann politisches Kapital daraus zu schlagen."