War Thomas Bernhard ein Hipster?
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Er besaß drei edle Häuser, sammelte LPs und jede Menge Schuhe. Ein Bildband zeigt: Thomas Bernhard war ein Meister der Selbstinszenierung. "Er war ein potemkinsches Dorf", sagt Herausgeber André Heller über den österreichischen Schriftsteller.
Max Oppel: André Heller, gleich drei Häuser beziehungsweise Höfe hat Thomas Bernhard in Österreich besessen, allesamt edel eingerichtet und bis heute erhalten. Was ist das für eine Welt, wie fühlt sich das an, wenn man in diesen Räumen umhergeht?
André Heller: Mein Haupteindruck war, dass das eine perfekte Inszenierung ist, ein Ablenkungsmanöver, ein "als ob". Und das passt auch zum gesamten Leben von Bernhard. Man kann ihm eigentlich nichts wirklich glauben, außer, dass er geboren wurde und dass er gestorben ist. Und dazwischen spielt er seine unendlichen, hochinteressanten, verrückten, liebevollen, aggressiven, empörten, trauernden Spiele. Und die Häuser spiegeln das wider: Man weiß nicht genau, sind sie nach Texten von ihm, aus Stücken oder Prosaarbeiten gestaltet? Oder sind die Prosaarbeiten und Theaterstücke auch nach bestimmten Räumen in diesem Haus gestaltet? Weil sehr vieles kommt in bestimmten Szenen vor, was so aussieht oder so beschrieben wird, wie die Häuser sind.
Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele für dieses "als ob". Es gibt zahlreiche Schlafzimmer. Es hat aber nie – bis auf seinen Lebensmenschen, der gelegentlich vorbeikam, die sehr wunderbare alte Dame Stavianicek – irgendjemand bei ihm übernachtet. Es gibt eine State-of-the-art-Küche und ein Speisezimmer im wunderschönsten Biedermeier. Und er hat nie irgendetwas gekocht. Und es hat nie jemand in diesen Speisezimmern gegessen.
Er hat Gewehre in seinem Schlafzimmer gehabt, in seinen Kästen, hat Jagdkleidung besessen – und er war nie auf der Jagd. Er imitiert einen Landedelmann, er ist jemand, der scheinbar einen Schuhfetischismus hat, den er aber wahrscheinlich auch nicht wirklich hatte.
So könnte man vieles aufzählen, und das Buch dokumentiert das und beleuchtet es von verschiedenen Seiten, beleuchtet eben seine Kleidungsstücke, seine Schallplattensammlung, seine Bücher. Er hat nicht gern gelesen. Aber ob das stimmt, weiß man nicht. Er hat behauptet, dass er Bücher gern durchblättert oder für Augenblicke in der Hand hält.
Oppel: Und doch, André Heller, wenn man das alles sieht, das war ja trotz allem das, wo er privat gelebt hat. Wenn er das so inszeniert hat, wo ist denn der ganz private Bernhard?
Heller: Ja, das weiß er. Schon der Bruder weiß es nicht wirklich genau. Er war sicherlich ein großer Ironiker, auch sehr selbstironisch. Er war sehr krank. Und die einzige Nähe, die er wirklich zugelassen hat in dieser Krankheit, war sein Bruder, der ja Arzt ist und der ihn aufopferungsvoll gepflegt hat und immer für ihn da war – auch mit einer gewissen masochistischen und sadistischen Spielnote von beiden Seiten.
Ich weiß es nicht. Ich habe ihn einige Male getroffen im Leben, aber da kann man nicht behaupten, dass man in der Lage war, die Wurzel aus dem Wesen dieses seltsamen Einzelgänger zu ziehen. Er war keiner Gruppe zugehörig. Er hat in dem Sinn keine Familie gehabt, er hatte keinen wirklich leuchtenden Freundeskreis. Er war er und sein Schreiben. Und ob er das zuinnerst wirklich als einzige Wahrheit war, weiß ich auch nicht.
"Er war ein potemkinsches Dorf"
Oppel: Wenn er also diese Oberfläche als Spielwiese praktisch genutzt hat, würden Sie sagen, er war ein Dandy im eigentlichen Sinne, also vielleicht ein Hipster, wie man heute sagen würde?
Heller: Dandy war er nicht wirklich von der Kleidung her. Wenn Sie sich die Fotos anschauen im Buch, dann sehen Sie, es zielt alles auf diesen Landadel. Und diese Landadeligen, die es noch gibt, die etwas verarmt oder schon wieder zu Wohlstand gekommen auf kleineren oder größeren Schlössern leben, haben eine bestimmte Art von Kleidung, die die Außentemperaturen widerspiegeln, die es auf dem Land gibt. Und ich glaube nicht, dass er – im Sinne von Beau Brummel oder von Oscar Wilde – der Dandy war. Nein. Er war ein potemkinsches Dorf. Und es gibt Leute, die glauben halt alles, was in seinen Büchern steht. Aber auch da sagt mir der Bruder sehr glaubwürdig, dass man das nicht glauben kann.
Das ist auch nicht die Aufgabe eines bedeutenden Dichters, dass er Wahrheiten vermittelt, sondern dass er seine Fantasie stattfinden lässt in der äußersten und in der ungehemmtesten und oft auch in der rabiatesten Form.
Ein Schriftsteller, der Fernseher sammelte
Oppel: Ja, also er wollte sich auch nicht wirklich reinschauen lassen in seinen Kopf. Er war aber auf der anderen Seite schon ein passionierter Medienkonsument – das sieht man auch durch die Fotos, die Sie zeigen in dem Band. Er hat überall Radios rumstehen, Fernseher.
Heller: Er hat Fernsehapparate gesammelt und Abspielgeräte für Schallplatten, hatte aber eine sehr konventionelle Plattensammlung. Der Fachmann, der im Buch über seine Plattensammlung schreibt, Christian Schachinger, sagt, er hatte beinahe eine Eduscho-Schallplattensammlung.
Oppel: Das ist nicht schmeichelhaft für einen musikalischen Menschen.
Heller: Er hatte sehr konventionelle Billigware. Aber dann weiß man natürlich wieder aus seinen Büchern von seiner tiefen Liebe zu Glenn Gould. Wir können jetzt lange darüber reden, wir haben nur Vermutungen anstellen können. Das ist auch irgendwie das ewige Geheimnis, das bleiben wird. Und es zahlt sich schon aus, wenn man sich für Bernhard interessiert, in dieses Buch hineinzuschauen, weil es einem selber wieder Rätsel aufgibt, die man nicht lösen kann.
"Ein perfekter Täuscher"
Oppel: Und doch sagt ja der Künstler und Bernhard-Fan André Heller, dass diese Ansicht von Bernhards Lebenswelt eine kostbare Ergänzung zum Verständnis ist.
Heller: Ja, das ist es auf jeden Fall, weil es einem ein paar Gewissheiten aus der Hand schlägt, die man dachte zu haben.
Wenn man das gesehen hat, weiß man mehr über Bernhard in dem Sinne, dass man wirklich nichts über ihn weiß. Und bis dahin hatte ich doch ein klares Bild von ihm gehabt, habe mir gedacht, das ist wahrscheinlich wirklich wahr und das ist weniger wahr. Mittlerweile glaube ich das alles nicht mehr. Und das gefällt mir an ihm, dass er so ein perfekter Täuscher war.
Oppel: Auf der anderen Seite, ist es nicht auch ein bisschen enttäuschend, wenn man erwartet, dass vielleicht Bernhard, der so hochmusikalisch war und der so hochgebildet war, das dann aber gar nicht gelebt hat? Also sprich, dass diese Platten, die dort sind, eben gar nicht von einem Spezialisten zeugen und genausowenig die Bibliotheken?
Heller: Ich weiß nicht. Vielleicht hat er bei seinem Lebensmenschen in Wien dann ununterbrochen Musik gehört. Darüber gibt es keine Auskünfte, die verlässlich sind. Gelesen hat er sicher eine Zeit lang in seinem Leben sehr viel. In der Bibliothek, die nicht in den Häusern drin ist, sondern die jetzt im Salzkammergut zwischengelagert ist, gibt es schon andere Bücher mit Anmerkungen. Aber Enttäuschung? Ich meine, wer bin ich, dass ich enttäuscht sein darf, weil einer nicht meinen Vorstellungen von richtig oder falsch, von sympathisch oder unsympathisch entspricht?
Ich bewundere ihn für seine Konsequenz. Ich bewundere ihn für seine Ausnahmesituation. Wie gesagt, es gibt in Österreich und in Deutschland nicht allzu viele Schriftsteller von Weltbedeutung, die wirklich zu nichts und niemand zugehörig waren, außer zu sich selbst. Weil diese Gruppensehnsucht, in Deutschland die Gruppe 47 oder in Österreich die Autorenversammlung, die Grazer, oder der P.E.N.-Club, das sind so Nester, in denen sich Künstler irgendwie heimisch einrichten, um sich unter dem Pseudonym Freundschaft besser bekämpfen zu können an manchen Tagen. Aber der Bernhard hat auf all das total verzichtet und das war ihm auch, glaube ich, widerlich, irgendeine Mitgliedschaft zu irgendwas zu haben.
Auf den Spuren eines Genies
Oppel: Und was hat Sie, André Heller, dazu bewegt, diese Bernhard-Häuser jetzt eben gerade zu betrachten, vielleicht noch mal neu analysieren zu lassen, um dann zu diesem Schluss zu kommen, den Sie jetzt gerade uns berichtet haben?
Heller: Na ja, ich bin dort auf Einladung des bezaubernden Bruders und seiner wirklich engagierten französischen Frau – die den Bernhard übrigens nie kennengelernt hat, aber ihn verteidigt bis aufs Blut gegen auch nur den vorsichtigsten Angriff, der von irgendwo kommt – einige Stunden in den Häusern herumgegangen und habe mir dann gedacht, das ist ein Thema.
Ich meine, es gibt vierzig Bücher über die Häuser von Picasso. Es gibt wirklich ausführlichste Untersuchungen daüber, wo der Rilke gewohnt hat. Und ich bin auch zu manchen dieser Orte schon hin gepilgert, weil mich das sehr interessiert: Was für Schuhe hat einer gehabt? Wie riecht es dort? Hat der in einem verdunkelten Schlafzimmer gewohnt? Welche Seife hat er benutzt?
Das hat nichts mit Voyeurismus zu tun, sondern je näher man da an dem Genie dran ist, desto interessanter wird es in den Zwischentönen. Ich glaube, die Seife, die er benutzt hat, die kann man ihm glauben, oder das Rasierwasser. Aber warum er zwei Waschbecken in seinem Schlafzimmer hatte – obwohl er nur eine Person war, die da jemals übernachtet hat –, das ist schon wieder interessant. Warum? Wozu hat er das zweite gebraucht? Für die Illusion beim Zähneputzen, dass neben ihm wer steht, der ihn liebt? Ich weiß es nicht.
Oppel: Auf jeden Fall ist das alles sehr eindrücklich zu betrachten, vielleicht zu bewundern: "Thomas Bernhard Hab und Gut – Das Refugium des Dichters", 35 Euro für 176 Seiten, im Brandstätter Verlag Wien erschienen und herausgegeben von André Heller. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Heller: Danke Ihnen, alles Liebe!
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