Melanie Challenger: "Wir Tiere. Eine neue Geschichte der Menschheit"
Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Neubauer
btb, München 2021
320 Seiten, 22 Euro
Entfremdung als Dauerzustand
05:39 Minuten
Die Menschheit lebt seit Langem so, als hätte sie mit der Tierwelt nichts gemeinsam und dürfe ihr als arroganter Herrscher gegenübertreten. Um des gesamten Planeten willen ruft Melanie Challenger uns auf, wieder zum Tier unter Tieren zu werden.
In ihrem neuen Buch "Wir Tiere" buchstabiert Melanie Challenger die Folgen eines epochalen Irrtums aus: Der Mensch meint, einen einzigartigen Wert zu verkörpern, weil er, je nach Weltanschauung, mit einer gottgewollten Seele oder einem Intellekt von unvergleichlichem Entwicklungsstand ausgestattet sei. Eine magische Grenze trennt ihn vom Rest der Natur.
Warum diese Arroganz auf tönernen Füßen steht, welche desaströsen Folgen sie für den Planeten –einschließlich des Homo sapiens – hat und wie sich die Rolle des Menschen im Naturgefüge angemessener fassen ließe, entfaltet die Lyrikerin und preisgekrönte Sachbuchautorin zu naturethischen Themen in den anschließenden fünf Kapiteln und einer Koda.
Das Tier in uns spürt und erlebt
Anstatt demütig zu akzeptieren oder vielleicht sogar mit Genuss zu zelebrieren, dass alles, was unser Leben sinnlich und erlebnisreich macht, aus unserem Tiersein, aus evolutionär uralten Gefühlen und Instinkten stammt, suchen wir unserer Natur zu entfliehen.
In der trügerischen Hoffnung, nichts mehr zu tun haben zu müssen mit Verletzlichkeit, Krankheit, Sterblichkeit, fahren wir technische Geschütze auf – in der Nahrungsmittelproduktion, im Siedlungswesen, in der Medizin –, die das Leben auf dem Planeten inzwischen akut bedrohen und uns selbst in einen Dauerzustand der Entfremdung versetzen.
Immer wieder umkreist die Autorin diesen Grundgedanken und füttert ihn mit Zitaten aus Sachbüchern und wissenschaftlichen Studien an. Die Kapitel unterscheiden sich nur lose voneinander. Angesichts des gegenwärtigen Massenaussterbens ist sortierte Ruhe Melanie Challengers Sache nicht.
Sie schreibt aufgebracht, packt Milliarden von Menschen in ein ungerechtes und nivellierendes Wir – wir überhöhen uns, wir begreifen nicht, wir handeln nicht – und kann nicht fassen, mit welcher Hingabe Menschen an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. So ist dieses Buch mehr als Appell, als Aufschrei denn als nüchtern referierendes Sachbuch zu lesen.
Fehlt es an Erkenntnis oder am Willen zu teilen?
Die vielen Gedankenschleifen machen "Wir Tiere" streckenweise nicht eben einfach zu lesen. Dazu trägt leider auch die Übersetzung bei, die das ohnehin schon etwas unübersichtliche Englisch der Autorin, anstatt dessen poetischen Charakter einzufangen, in einen umständlichen deutschen Nominalstil verwandelt hat.
Doch wer die These der Autorin versteht und liebt – und dazu gibt es allen Grund –, wird Lesemühen gerne auf sich nehmen.
Dennoch bleibt nach der Lektüre eine gewisse Skepsis, ob die Hoffnung, die das Buch formuliert, nicht trügerisch ist. Hätten Tiere es tatsächlich besser, wenn Menschen verstünden, wie ähnlich wir einander sind?
Nicht viel zu lachen haben auch der osteuropäische Bauarbeiter in der deutschen Schattenwirtschaft, die in Afghanistan zurückgelassene Menschenrechtlerin, der Junge, der in Lateinamerika Zitrusfrüchte für westliche Küchen pflückt. Niemand stellt ihr Menschsein infrage. Vielleicht geht es gar nicht darum, sich einer Erkenntnis zu öffnen, sondern Privilegien aufzugeben und zu teilen.