Melissa Broder: Fische
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva Bonné
Ullstein Verlag, Berlin 2018
352 Seiten, 21 Euro
Warum bleibt die Liebe nicht immer so frisch?
Die 38-jährige Poetin Melissa Broder twittert über Sex, Selbstzweifel und Panikattacken − und jetzt gibt es ihren ersten Roman auf Deutsch. In "Fische" fesselt die schonungslose Offenheit, mit der sie in das Innerste ihrer Protagonistin Lucy blickt.
In den USA ist sie ein Star auf Twitter: die 38-jährige Poetin und Autorin Melissa Broder. Auf ihrem Account "So Sad Today" hat sie knapp 650.000 Follower, unter ihnen die Pop-Ikonen Miley Cyrus und Katy Perry, die Broders ironische Tweets über Sex, Selbstzweifel und Panikattacken lesen und teilen. "In a threesome with anxiety and depression" twittert sie: Ich habe einen Dreier mit Angst und Depression. Dafür gibt es fast 15.000 "Gefällt mir"-Herzen.
Was in den sozialen Medien funktioniert, lockt auch Buchverlage an. Melissa Broder hat schon mehrere Gedichtbände und 2016 die Essay-Sammlung "So Sad Today" veröffentlicht. Jetzt folgt ihr Debütroman "Fische", der in der amerikanischen Presse für seine Experimentierfreude gelobt wird. "The Pisces" heißt das Buch im Originaltitel − wie das Sternzeichen Fische auf Englisch, unter dem Protagonistin Lucy geboren wurde.
Schneller und schlechter Sex
Die Ich-Erzählerin geht auf die 40 zu, hat ihre Promotion in Literaturwissenschaften aber immer noch nicht fertig. Ihre Beziehung zu einem Dokumentarfilmer fühlt sich sinnentleert an. Also macht Lucy in einem Nebensatz Schluss und bereut sofort: Ohne Partner fällt sie in ein emotionales Loch, betrinkt sich, sucht mehr denn je den Sinn in ihrem Leben.
Ihre große Schwester will Lucy auf andere Gedanken bringen und lädt sie in ihr Haus am Meer in Kalifornien ein. Dort soll Lucy auf den Hund aufpassen, während die Schwester verreist. Nach einem halbherzigen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten sucht Lucy neue Strategien gegen die innere Leere, die ein Leitmotiv des Buches ist: Sie macht widerwillig eine Gruppentherapie, kauft esoterische Kristalle und verabredet sich zu Tinder-Dates, die ihr schnellen, schlechten, aber detailliert beschriebenen Sex einbringen.
Die Liebesgeschichte kippt ins Magische
Alles ändert sich, als sie eines Nachts auf den Felsen am Meer sitzt und ihr ein junger attraktiver Schwimmer begegnet. Nur sein Oberkörper ragt aus dem Wasser, an Land kommt der geheimnisvolle Theo auch bei weiteren Treffen nicht. Das hält Lucy von einem heißen Flirt aber nicht ab. Die Liebesgeschichte kippt ins Magische, als sich Theo als Meermann entpuppt - komplett mit Fischschwanz, der zu Lucys Glück allerdings erst unterhalb seiner menschlich geformten Genitalien beginnt.
Kaum eine Beziehung zwischen Mensch und Wasserwesen in der Literatur endet glücklich: sei es Hans Christian Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau, die am Ende zu Schaum zerfällt oder Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung über das todbringende Wassermädchen Undine. Autorin Melissa Broder ließ sich von "La Sirena" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa inspirieren. Die Erzählung über einen Professor, der einer Meerjungfrau begegnet, erschien 1958 postum − genau wie sein berühmter Sizilien-Roman "Gattopardo".
Ein feministischer Roman?
Broder dreht in "Fische" nun die klassische Geschlechterverteilung um: Bei ihr ist der Mensch weiblich, das Meerwesen männlich − genau wie in Guillermo del Toros Oscar-prämiertem Drama "The Shape of Water". Ähnlich wie im Film ist der Meermann an Land auf die Hilfe der Frau angewiesen. Melissa Broder verleiht ihrer Ich-Erzählerin damit eine starke Position.
Ist "Fische" deshalb ein feministischer Roman? Ja und nein. Melissa Broder schreibt regelmäßig für den Newsletter "Lenny Letter" von Lena Dunham, der wohl bekanntesten Feministin der USA. Die Hauptfigur von "Fische" ist aber keine Kämpferin, sondern eine Leidende, eine Suchende, die den Leser mit all ihren Zweifeln, Obsessionen und schwankenden Gefühlen auch mal nervt.
Fesselnd dagegen ist die schonungslose Offenheit, mit der Melissa Broder aus Lucys Innerstem erzählt, es sind die universellen Fragen, die sie sich stellt: Wozu sind wir auf der Welt? Warum bleibt die Liebe nicht immer so frisch wie in den ersten Tagen? Wie erträgt man die eigene Sterblichkeit? Jenseits aller Kategorien von Geschlecht betreffen diese Rätsel uns alle.