Melvin Lasky und Hans Keilson

Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg

Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit (undatiertes Archivbild von 1945).
Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit © picture alliance / dpa
Von Astrid von Friesen |
Zwei neu erschienene Tagebücher führen uns die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges vor Augen. Beide wurden von jüdischen Autoren geschrieben - und sind doch extrem unterschiedlich.
Melvin Lasky, Militärhistoriker und amerikanischer Offizier, sollte Material zur Geschichte der alliierten Invasion sammeln. Er berichtete ab Februar 1945 vom Vorstoß der US-Armee, ausgehend vom Elsass über Frankfurt bis nach Berlin. Hier wird er drei Jahre später die politisch-kulturelle Zeitschrift "Der Monat" herausgeben.
Als "Fremder, Feind und Freund" schaute er auf die seltsame, fremde Spezies der Deutschen, der Besiegten. Jahre zuvor hatte er Präsident Roosevelt vorgeworfen, sich nicht ausreichend gegen den Genozid an den Juden eingesetzt zu haben.
Trotz Holocaust und Diktatur ist sein Blick auf Deutschland am Ende des Krieges in erster Line voller Entsetzen ob der grenzenlosen Zerstörung. Hass ist bei ihm nicht zu spüren. Irritiert schreibt er über Neuenheim und Heidelberg:
"Es war befremdlich und verstörend. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, nicht hierher zu gehören."
Der Grund: Beide Städte waren nahezu heil geblieben im unendlichen Meer von Trümmern, die er davor gesehen hatte.
Lasky suchte einerseits überall nach Klassikerausgaben deutscher Literatur und andererseits nach Gesprächen mit Anti-Nazis, Nicht-Nazis und ewigen Nazis. Er sah Not und Hunger, beobachtete die Versuche junger deutscher Frauen, sofort zu fraternisieren. Er konstatierte auch den Zynismus seiner Vorgesetzten, wenn wieder einmal ein 18-jähriger US-Boy gefallen war, an einem Ort, dessen Namen er nie im Leben gehört hatte.
"Gefangen in der Maschinerie des Bösen"
Natürlich besuchte er auch Konzentrationslager: Dachau, Allach, das Frauengefängnis Lebenau. Mit sparsamen Worten schildert er unbegreifliche Grausamkeiten, zitiert Widerstandskämpfer und berichtet von Juden, die auch nach der Befreiung weiter im KZ wohnen bleiben mussten. Und er kritisiert die amerikanische Militärbehörde im besetzten Land.
"Die bedingungslose Amtsenthebung aller Nazis hätte ein stimmiges Symbol für das Ende der alten Ordnung sein können. Stattdessen diktieren fadenscheinige Gründe, angebliche militärische und administrative Zweckmäßigkeit, immer wieder Kompromisse, sodass der klare Bruch, der konstruktiv und belebend gewesen wäre, verwischt und verzerrt wird. Wieder einmal sind Sieger und Besiegte gleichermaßen gefangen in der Maschinerie des Bösen."
Ganz anders das Tagebuch von Hans Keilson, einem Mediziner, Schriftsteller und Musiker aus Berlin, der 1936 nach Holland floh und dort unter falschem Namen bei einem Fabrikantenehepaar lebte. In seinem Tagebuch von 1944 berichtet er nahezu ausschließlich von seinem Liebesdebakel zwischen seiner Ehefrau und seiner Geliebten.
Facetten des Kriegsalltags
Irritiert wartet man auf Kommentare zum politischen Geschehen, zu seiner Verfolgungssituation. Er jobbte als Sportlehrer und Musiker und engagierte sich im niederländischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Im Gegensatz zu Melvin Lasky liefert er keine Beobachtungen des Alltags, nichts über seine Retter, nichts von der Lage der hungernden, holländischen Bevölkerung. Nichts von alledem.
Fragen entstehen: Hatte er zu große Angst, etwas zu notieren, was ihm gefährlich werden konnte, so es in falsche Hände geraten wäre? Oder entfloh er einer belastenden Realität, indem er seine Gedanken um Liebeshändel kreisen ließ?
Eine Verdrängung kann man sich kaum vorstellen - bei einem Mann, der später Psychoanalytiker wurde. Also muss er es bewusst vermieden haben, auch nur anzudeuten, dass er bereits zu dieser Zeit mit kriegstraumatisierten Waisenkindern arbeitete.
Seltsam erscheint allerdings, dass selbst die Witwe als Herausgeberin unterschlägt, wie sehr ihn die Erlebnisse jüdischer Kinder auch später noch beschäftigten und wie bedeutend seine Arbeiten für die frühe Trauma-Forschung waren. So lassen Hans Keilsons Tagebuch und die Idee des Verlages, es zu veröffentlichen, den Leser ratlos zurück.
Demgegenüber setzt Melvin Lasky Hunderte von winzigen Facetten des Kriegsalltags und der ersten Monate danach zu einem Mosaik zusammen, zu einem Bild der Zwischenzeit, der Stille nach dem Grauen, des tastenden Abwartens auf allen Seiten. Der Titel benennt es "Und alles war still". Es ist ein scharfer Blick eines großen Humanisten, der diese Stille einfängt.

Hans Keilson: Tagebuch 1944
Herausgegeben von Marita Keilson-Lauritz
S. Fischer Verlag Frankfurt 2014
256 Seiten, 18,99 Euro, auch als ebook

und

Melvin J. Lasky: Und alles war still
Deutsches Tagebuch 1945
Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies
Rowohlt Berlin 2014
496 Seiten, 24,95 Euro, auch als ebook

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