"Sie kam aus Berlin, sie liebte Berlin"
Gabriele Tergit war in der Weimarer Republik die erste Gerichtsreporterin, schrieb einen Bestseller-Roman und wurde von den Nazis gehasst. Nun sind ihre Memoiren neu erschienen. Herausgeberin Nicole Henneberg über das Leben einer mutigen und temperamentvollen Frau.
Joachim Scholl: Einen der schönsten Romantitel der letzten Jahre ist für mich "Käsebier erobert den Kurfürstendamm". Das ist ein Buch aus dem Jahr 1931. Es machte die Verfasserin Gabriele Tergit über Nacht berühmt. Sie war damals 38 Jahre alt und als Journalistin schon sehr bekannt. Der "Käsebier"-Roman ist vor zwei Jahren neu erschienen, herausgegeben und betreut von der Literaturkritikerin Nicole Henneberg, und sie hat nun auch die Erinnerungen dieser Gabriele Tergit für den Schöffling Verlag ediert. Guten Morgen, willkommen in der "Lesart", Frau Henneberg.
Nicole Henneberg: Danke, guten Morgen.
Scholl: "Etwas Seltenes überhaupt", diesen Titel haben Sie für diese Memoiren gewählt. Es ist ein Zitat über Gabriele Tergit von einem Kollegen zu ihrer Zeit damals. 1894 ist sie geboren, 1982 gestorben. Wer war denn diese Frau?
Henneberg: Ich würde sagen, sie war eine sehr mutige Frau. Sie hat damals als Journalistin sich an die ganz heiklen Themen gewagt. Sie hat viel über die rechte und linke Gewalt geschrieben, und als Gerichtsreporterin war sie natürlich prädestiniert, genau die Veränderungen zu sehen. Also wie laufen Gerichtsverfahren ab, was verändert die Sicht der Richter, wie verhalten sich die Zeugen? All so was hat sie genau beobachtet, und sie ist sehr wach durch die Stadt gelaufen. Sie hat die Menschen studiert, sie hat ihnen zugehört, sie ist in der S-Bahn gefahren, hat gesehen, da kommen plötzlich SA-Truppen rein, die Leute erschrecken, rücken zusammen. "Soldateska", nennt sie das, "wilde Soldateska". Und über all diese Dinge hat sie geschrieben und hat sich entsprechend unbeliebt gemacht bei den erstarkenden Nationalsozialisten.
Die Frauen sagten: "Wir müssen jetzt ran"
Scholl: Es war aber auch damals für die Zeit noch sehr ungewöhnlich, dass sie sich überhaupt als Journalistin so durchgesetzt hat, für eine Frau war das noch nicht normal, so wie heute. Elise Hirschmann war ihr eigentlicher Name. Gabriele Tergit hat sie sozusagen selbst gewählt, aus dem Namen Gitta, den sie umgedreht hat Wie hat sie sich denn eigentlich da durchgesetzt in dieser Männerwelt?
Henneberg: Es ist ihr am Anfang nicht leichtgefallen, denn sie hat auch eine durchaus traditionelle Seite. Aber sie ist einfach zu temperamentvoll und zu wissbegierig, um sich damit zu begnügen, nur eine brave Ehefrau zu sein. Sie kommt ja aus einer jüdischen Familie, und sie hat durchaus dieses traditionelle jüdische Familiendenken, das hat sie auch. Aber sie wollte unbedingt einfach schreiben, und sie hat das von Anfang an auch gegen ihre Familie durchgesetzt. Und was für sie, glaube ich, ein wichtiger Punkt war, war der Erste Weltkrieg und die gesellschaftlichen Veränderungen, die das mit sich gebracht hat.
Da hat sie plötzlich gesehen: So geht das nicht weiter. Die Frauen kriegen eine völlig andere Rolle zugewiesen: "Wir müssen jetzt ran". Und das hat sie dann einfach gemacht. Sie hatte schon Angst. Sie hat sich bei ihrer ersten Gerichtsverhandlung, wo der damals noch von der "Vossischen Zeitung" sie hingeschickt hat, da hat sie sich nicht getraut, die Tür zum Gerichtssaal zu öffnen zum Beispiel. Und sie hat sich dafür furchtbar selbst beschimpft und verachtet. Aber sie hat es dann wiedergutgemacht und wurde entsprechend entschlossen und hat sich dort reingesetzt und hat sich einfach nicht unterkriegen lassen, muss man schon sagen.
Den Zionismus lehnte sie ab
Scholl: 1933 hatten die Nazis Gabriele Tergit sofort im Visier, Sie haben es schon angesprochen, Frau Henneberg. Man wollte sie verhaften, ihr Ehemann ließ die SA-Truppe nicht in die Wohnung, Gott sei Dank, und Gabriele Tergit floh sofort nach Prag. Wie hat sie überlebt?
Henneberg: Sie ist zuerst nach Spindlermühle ins Riesengebirge geflohen. Dort hat man das alles nicht ernst genommen, diese ganzen Gefahren. Aber sie hatte die Intuition, dass das sehr gefährlich wird. Sie ist dann eine Weile in Prag geblieben. Sie hatte ja für Prager Zeitungen schon geschrieben, für die "Bohemia", das hat sie auch weiter gemacht. Ihr Mann ist sofort nach Jerusalem. Er hatte dort einen Bauauftrag. Sie waren sich eigentlich einig, das wird eine üble Geschichte. Sie ist ihm dann nachgereist. Israel, also Palästina damals, war eine traumatische Erfahrung. Sie hat sich dort sehr unwohl gefühlt. Sie hat den Zionismus völlig abgelehnt, der war für sie eine ganz schreckliche Entgleisung, völlig gegen den Geist des Judentums. Und Tel Aviv war damals auch nicht sehr städtisch. Sie kam aus Berlin, sie hat Berlin geliebt. Und es gab furchtbare Krankheiten. Sie sind dann ziemlich schnell von dort geflüchtet. Fünf Jahre war sie dort, und sie sagt, das waren mit die härtesten Jahre ihres Lebens. Sie hatten das Glück, dann nach London zu kommen durch ihren britisch-palästinensischen Pass, und da sind sie dann geblieben.
Scholl: Wenn man diese Memoiren jetzt liest, Frau Henneberg, denkt man sofort, die Frau hätte man zu gern kennengelernt. Eine glasklare Sicht auf die Dinge, ein sprühender Geist, ein Mutterwitz vor dem Herrn. Gleichzeitig bodenständig, geradeaus. Sie schreibt auch völlig unsentimental, wenig Privates in diesen Memoiren. Ein Kapitel gibt es über ihren Sohn, als dieser nach England, nach Cambridge an die Universität kommt, und das Kapitel schließt mit diesem Satz: "Peter heiratete eine entzückende Frau und wurde, 31 Jahre alt, von einem Stein in den Dolomiten getötet." Da stockt einem der Atem. Aber das war ihr Stil, nicht wahr?
Henneberg: Ja, sie hat diesen ganz lakonischen Stil. Und sie hat auch diesen sehr berlinischen trockenen Witz. Den hat sie auch noch, wenn es um die Beschreibung der schlimmsten Szenen geht. Zum Beispiel in der Einleitung unterhält sie sich mit einem Herrn, der offensichtlich die Ahnenprobe abgelegt hat, und sie veralbert ihn, und er merkt das gar nicht. Das sind auch so ganz kühle Sätze. Und da geht es ja immerhin um Antisemitismus pur. Das hat sie ja existenziell betroffen. Ja, sie spart viel Persönliches aus in diesen Erinnerungen. Sie hatte ein ganz klares Erkenntnisinteresse: Sie wollte die Frage beantworten oder zumindest sich der Frage nähern, wie konnte es zu Hitler kommen, und was ist danach passiert, wie ging es dann weiter? Wie konnte eine Zivilisation wieder anfangen? Das Interessante an ihrem Buch, finde ich eben, sie schreibt über diesen Epochenbruch, der für sie kein Epochenbruch ist. Für sie gibt es keine Stunde null, sondern sie fährt, sobald sie kann, wieder nach Berlin und schaut, was machen die Leute eigentlich jetzt, was machen die SA-Leute, was machen die Folterer? Wie sieht es in den Gerichten aus?
Berlin, die verwundete Stadt
Scholl: Wie viele Emigranten kam Gabriele Tergit nicht wirklich zurück nach Deutschland. Wie erging es ihr denn?
Henneberg: Sie hat England sehr geliebt, sie hat England bewundert wegen seiner wunderbaren, stabilen Demokratie, wegen des Gesetzes der Menschenwürde, das sie immer für das Wichtigste fand. Und das fand sie in England mehr und stärker verwirklicht als in Deutschland. Sie hat Deutschland und Berlin unterschieden. Sie mochte Berlin, das war für sie ein Stück weit exterritorial fast. Es war eine verwundete Stadt, das hat sie auch immer gesehen, und das hat ihr die Besuche auch möglich gemacht. Und sie hatte ihre alten Freunde hier. Den Rest von Deutschland hat sie sehr kritisch betrachtet.
Scholl: Es gab eine späte Wiederentdeckung, 1977 im Rahmen der Berliner Festwochen. Ihre Bücher fanden plötzlich wieder Verleger. Wie ging das zu?
Henneberg: Zum einen war es natürlich eine andere Zeit. Als ihr Roman "Effingers" 1951 erschien, war sie noch als Chronistin interessant. Und danach, mit dem nächsten Roman, da kommen wir vielleicht noch drauf, hatte sie keine Chance mehr, weil in Deutschland war eine andere Literatur, wurde geschrieben und wurde gelesen.
Scholl: Wie kam diese Wiederentdeckung eigentlich zustande, sozusagen 1977 – weil es immer heißt, ja, so im Rahmen der Berliner Festwochen. Da habe ich mich gefragt, wie denn?
Henneberg: Das war schon vorher, denn ein Journalist hatte zufällig im Antiquariat den "Käsebier" gekauft.
Scholl: … den Roman von 1931.
Henneberg: … und war sehr begeistert von diesem Roman, fand ihn erschreckend und erstaunlich und wunderbar aktuell, hat ein Feature gemacht im Rundfunk, und das hat eigentlich ihre Entdeckung eingeleitet.
Noch ein Roman zum Wiederentdecken
Scholl: "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" ist ein Medienroman. Der Sänger Käsebier wird sozusagen hype-mäßig zum Superstar gemacht. Hochkomisch zu lesen, ich habe es parallel gelesen mit den Erinnerungen. Sie haben ein Buch noch genannt, "Die Effingers". Das war ein Roman über eine jüdische Familie. Der ist gedruckt worden und …
Henneberg: Es gibt aber nur eine ungekürzte Ausgabe, eben diese allererste von 1951. Alle weiteren sind gekürzt, musste sie kürzen, und das hat sie hinterher sehr bereut.
Scholl: Sie sind jetzt aber die literarische Sachverwalterin. Und es gibt noch einen Roman, der Titel ist auch schon wieder so typisch Tergit, "So war es eben", heißt er. Gibt es eine Chance, dass dieses Buch endlich mal gedruckt wird?
Henneberg: Ich finde das einen hochinteressanten Roman. Der hat sozusagen ein viel größeres Spektrum noch als "Die Effingers", die ja so ein bisschen jüdische Buddenbrooks sind. Er fängt 1897 an und geht bis in die 60er-Jahre, bis ins Exil nach New York. Er hat also drei Brüche, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg und dann das Exil, und das ist ein bisschen das Problem des Romans, manchmal knirscht die Konstruktion ein bisschen. Aber er ist hochinteressant, in den Details genauso sorgfältig gearbeitet wie ihre anderen Romane, wie "Effingers" und "Käsebier". Und es ist ein riesig langes Werk, und ich finde aber unbedingt, wir sollten das machen, also das hätte es verdient.
Scholl: Wie ist der Stand der Dinge? Sind Sie in Verhandlungen? Macht Schöffling …
Henneberg: Ich versuche gerade, meinen Verleger noch davon zu überzeugen. Der ist aber nicht ganz abgeneigt, würde ich sagen.
Scholl: Dann hoffe ich, dass er jetzt unser Gespräch gehört hat, und ich danke Ihnen, Nicole Henneberg, dafür, dass Sie uns über Gabriele Tergit etwas erzählt haben. Und die Erinnerungen von Gabriele Tergit, die sind wie gesagt im Schöffling Verlag erschienen: "Etwas Seltenes überhaupt", so der Titel, von Nicole Henneberg herausgegeben und mit Nachwort und Erläuterungen versehen. 424 Seiten der Umfang, 26 Euro der Preis. Den "Käsebier"-Roman, den gibt es übrigens inzwischen auch neu als Taschenbuch.
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