Memoiren eines Lebensbejahers
Der französische Filmregisseur Claude Lanzmann blickt in "Le Lièvre de Patagonie" (Dt. "Der Hase aus Patagonien") auf sein Leben zurück. Bekannt wurde er 1985 mit seinem Film "Shoah" über die Ermordung von Europas Juden.
Ein langer, kritischer Blick aus leuchtend blauen Augen, dichtes, silbergraues Haar, eine massive Gestalt. Claude Lanzmann führt den Besucher in sein Wohn- und Arbeitszimmer. Auf dem Couchtisch türmen sich Bücher, die Wandregale quellen über, vor den Büchern stehen Fotos: der junge Lanzmann neben Simone de Beauvoir, beide zusammen mit Jean-Paul Sartre in Ägypten, Unbekannte, auch Kinder. Zeugnisse einer vergangenen Zeit, die der 84-Jährige in seinen Memoiren so unmittelbar und emotional beschreibt, als habe er sie eben erst erlebt. Von distanzierter Rückschau hält er nichts:
"Mal ganz ehrlich: Ich habe kein Alter. Ich spüre nicht, wie die Zeit verstreicht, weiß nicht, was es heißt, zu altern. Ich habe denselben Lebenshunger wie je zuvor, ein Verlangen nach der Welt, nach Frauen, ich habe mich nicht verändert. Das Buch ist eine Hymne ans Leben."
Lanzmann hat seinen Erinnerungen den seltsamen Titel "Der Hase aus Patagonien" gegeben. Ein Hase geht keinen geraden Weg, er springt im Zickzack, schlüpft auch, so schreibt er, unter dem Stacheldraht eines KZs hindurch. Als ihm in Patagonien ein Pampashase über den Weg läuft, durchfährt Lanzmann wilde Daseinsfreude. Ein banales Erlebnis, das ihn aber mit dem Hier und Jetzt verbindet – das ist es, was Lanzmann als Inkarnation bezeichnet. Neben der unbändigen Liebe zum Leben zieht sich der Tod wie ein Leitmotiv durch seine Erinnerungen.
"Die Guillotine oder allgemeiner gesagt: die Todesstrafe und die verschiedenen Arten, den Tod zu verabreichen - war die große Angelegenheit meines Lebens."
So beginnt Lanzmann seine Memoiren. Am Anfang steht das Schlüsselerlebnis eines Kindes: Als Fünfjähriger sieht er im Kino eine Hinrichtung – die Szene hat er bis heute vor Augen. Die verschiedenen Hinrichtungsarten interessieren ihn: Lanzmann beschreibt, wie Menschen mit Axt und Fallbeil umgebracht werden, durch eine Würgschraube, den elektrischen Stuhl, schildert eine stümperhafte und daher besonders brutale Enthauptung durch fundamentalistische islamische Terrorgruppen. Beschreibungen, die unter die Haut gehen. Und auf sein Lebenswerk hindeuten: den Film Shoah über die Ermordung von Europas Juden.
"Ich war immer extrem empfindlich für den Übergang vom Leben zum Tod. Für mich ist jeder Tod gewaltsam. Die letzten Lebensmomente eines Sterbenden waren für mich gefühlsmäßig immer ein großes Problem."
Schon zu Beginn des Buches spielt Deutschland eine Rolle, und zwar überraschenderweise in der Opferperspektive: Lanzmann beschreibt die Hinrichtung der Geschwister Scholl, die er zutiefst bewundert. Er selbst ist den Deutschen nur knapp entgangen: Als Jude mussten er und seine Familie sich vor den deutschen Besatzern verstecken. Lanzmann beschreibt seine dickköpfige und streitbare Mutter Paulette, deren Nase und Backenknochen ganz dem Feindbild der Nazis entsprachen. Im besetzten Paris ging sie mit dem Heranwachsenden in ein Schuhgeschäft und zog dort durch theatralisches Verhalten alle Blicke auf sich. Lanzmann gesteht, dass er wegrannte, die Mutter alleinließ.
"Sie machte mir Angst, ich schämte mich, an diesem Nachmittag verhielt ich mich wie ein echter Antisemit, in seiner besonders abstoßenden Form: dem antisemitischen Juden."
Als Widerstandskämpfer geriet der junge Lanzmann in den Kugelhagel der Wehrmacht, ein anderes Mal wäre er von einem französischen Milizionär fast an die Nazis ausgeliefert worden. Trotzdem hegt er keine Ressentiments gegen Deutschland. Schon 1947 zieht er als Stipendiat der französischen Militärregierung nach Tübingen.
"Ich studierte Philosophie in Paris, arbeitete über Leibniz. Meine Studienfreunde waren Michel Tournier und Gilles Deleuze. Für uns war Deutschland nach wie vor das Vaterland der großen Philosophen. Tournier schlug damals vor, nach Tübingen zu gehen. Dort habe ich die Deutschen in Zivil gesehen, das hat mir gefallen. Ich habe deutsche Frauen kennengelernt, ich verstand mich gut mit ihnen – ich gefiel ihnen, und sie gefielen mir."
Juden aus Deutschland waren es dann, die seine Beziehung zu Israel entscheidend prägten. 1952 bereiste der 27-Jährige den jungen Staat ein erstes Mal. Es war eine Entdeckungsfahrt, bei der er auch sich selbst entdeckte, das Verhältnis zu seinem Judentum neu definierte. Dabei wurde er zum Fürsprecher Israels.
In Frankreich sind Lanzmanns Erinnerungen im März erschienen, also nach dem Gaza-Krieg. Er betont darin, die israelische Armee sei nicht wie andere Armeen. Israelische Soldaten hätten keine Gewalt im Blut.
"Die Existenz des Staates Israel verteidige ich absolut und bedingungslos. Es gibt einen starken palästinensischen Irredentismus, nicht bei Menschen wie Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, aber bei der Hamas, bei den Leuten im Libanon: Sie wollen Israel nicht. Das Verschwinden dieses Staates wäre genauso schlimm wie die Vernichtung eines Drittels des jüdischen Volkes durch Adolf Hitler."
Spannend wird das Buch, wo Lanzmann die Entstehung des Neun-Stunden-Films Shoah erzählt. Wie er Überlebende des Sonderkommandos des KZs Auschwitz-Birkenau gesucht und zum Reden bewegt hat, jene Juden also, die die Ermordung der Deportierten vorbereiten, ihnen die Wertsachen abnehmen und ihre Leichen verbrennen mussten. Der Filmemacher spürte ebenso die Täter auf, biederte sich regelrecht an, um ihr Vertrauen zu gewinnen und ihre Erinnerungen aufzuzeichnen.
Weil die alten Nazis und ihre Handlanger oft misstrauisch blieben, setzte Lanzmann eine versteckte Kamera ein. Zum Beispiel bei Franz Suchomel, der im Vernichtungslager Treblinka arbeitete.
Ausschnitt aus Film Suchomel:
" - Wie war Treblinka in dieser Zeit?
- Ja, Treblinka war damals im Hochbetrieb.
- Hochbetrieb?
- Hochbetrieb. Man damals das Warschauer Getto geleert ... "
Lanzmann erzählt aber auch die heiteren Momente seines Lebens, seine Liebesgeschichten nehmen breiten Raum ein. Heute wohnt er in Montparnasse, nahe der Rue Victor Schoelcher. Dort war er 1955 mit seiner damaligen Lebensgefährtin Simone de Beauvoir eingezogen. Sieben Jahre lebte er mit der 18 Jahre älteren Philosophin zusammen. Die Ferien verbrachten sie oft zu dritt, mit Sartre.
Die französische Kritik hat "Den Hasen aus Patagonien" mit Lob überhäuft. Damit habe er gerechnet, sagt Lanzmann mit einer Selbstliebe, die auch das Buch durchzieht:
"Ich mochte, was ich schrieb. Es schien mir unmöglich, dass es die Leser nicht berühren würde. Das ist keine Eitelkeit. Ganz objektiv betrachtet, dachte ich, dass ich die Leute interessieren würde. Dass sie mich sympathisch finden würden ... Außerdem hat das Buch große literarische Qualität."
Die Veröffentlichung seiner Memoiren betrachtet Lanzmann absolut nicht als Schlussstein seines bewegten Lebens. Er habe noch viele Pläne: einen Film über das Konzentrationslager Theresienstadt, ein oder zwei Bücher. "Sie werden schon sehen", sagt er zum Abschied, und es klingt wie eine Herausforderung.
Claude Lanzmann: Le Lièvre de Patagonie
"Le Lièvre de Patagonie", Verlag Gallimard
"Der patagonische Hase", Rowohlt Verlag
"Mal ganz ehrlich: Ich habe kein Alter. Ich spüre nicht, wie die Zeit verstreicht, weiß nicht, was es heißt, zu altern. Ich habe denselben Lebenshunger wie je zuvor, ein Verlangen nach der Welt, nach Frauen, ich habe mich nicht verändert. Das Buch ist eine Hymne ans Leben."
Lanzmann hat seinen Erinnerungen den seltsamen Titel "Der Hase aus Patagonien" gegeben. Ein Hase geht keinen geraden Weg, er springt im Zickzack, schlüpft auch, so schreibt er, unter dem Stacheldraht eines KZs hindurch. Als ihm in Patagonien ein Pampashase über den Weg läuft, durchfährt Lanzmann wilde Daseinsfreude. Ein banales Erlebnis, das ihn aber mit dem Hier und Jetzt verbindet – das ist es, was Lanzmann als Inkarnation bezeichnet. Neben der unbändigen Liebe zum Leben zieht sich der Tod wie ein Leitmotiv durch seine Erinnerungen.
"Die Guillotine oder allgemeiner gesagt: die Todesstrafe und die verschiedenen Arten, den Tod zu verabreichen - war die große Angelegenheit meines Lebens."
So beginnt Lanzmann seine Memoiren. Am Anfang steht das Schlüsselerlebnis eines Kindes: Als Fünfjähriger sieht er im Kino eine Hinrichtung – die Szene hat er bis heute vor Augen. Die verschiedenen Hinrichtungsarten interessieren ihn: Lanzmann beschreibt, wie Menschen mit Axt und Fallbeil umgebracht werden, durch eine Würgschraube, den elektrischen Stuhl, schildert eine stümperhafte und daher besonders brutale Enthauptung durch fundamentalistische islamische Terrorgruppen. Beschreibungen, die unter die Haut gehen. Und auf sein Lebenswerk hindeuten: den Film Shoah über die Ermordung von Europas Juden.
"Ich war immer extrem empfindlich für den Übergang vom Leben zum Tod. Für mich ist jeder Tod gewaltsam. Die letzten Lebensmomente eines Sterbenden waren für mich gefühlsmäßig immer ein großes Problem."
Schon zu Beginn des Buches spielt Deutschland eine Rolle, und zwar überraschenderweise in der Opferperspektive: Lanzmann beschreibt die Hinrichtung der Geschwister Scholl, die er zutiefst bewundert. Er selbst ist den Deutschen nur knapp entgangen: Als Jude mussten er und seine Familie sich vor den deutschen Besatzern verstecken. Lanzmann beschreibt seine dickköpfige und streitbare Mutter Paulette, deren Nase und Backenknochen ganz dem Feindbild der Nazis entsprachen. Im besetzten Paris ging sie mit dem Heranwachsenden in ein Schuhgeschäft und zog dort durch theatralisches Verhalten alle Blicke auf sich. Lanzmann gesteht, dass er wegrannte, die Mutter alleinließ.
"Sie machte mir Angst, ich schämte mich, an diesem Nachmittag verhielt ich mich wie ein echter Antisemit, in seiner besonders abstoßenden Form: dem antisemitischen Juden."
Als Widerstandskämpfer geriet der junge Lanzmann in den Kugelhagel der Wehrmacht, ein anderes Mal wäre er von einem französischen Milizionär fast an die Nazis ausgeliefert worden. Trotzdem hegt er keine Ressentiments gegen Deutschland. Schon 1947 zieht er als Stipendiat der französischen Militärregierung nach Tübingen.
"Ich studierte Philosophie in Paris, arbeitete über Leibniz. Meine Studienfreunde waren Michel Tournier und Gilles Deleuze. Für uns war Deutschland nach wie vor das Vaterland der großen Philosophen. Tournier schlug damals vor, nach Tübingen zu gehen. Dort habe ich die Deutschen in Zivil gesehen, das hat mir gefallen. Ich habe deutsche Frauen kennengelernt, ich verstand mich gut mit ihnen – ich gefiel ihnen, und sie gefielen mir."
Juden aus Deutschland waren es dann, die seine Beziehung zu Israel entscheidend prägten. 1952 bereiste der 27-Jährige den jungen Staat ein erstes Mal. Es war eine Entdeckungsfahrt, bei der er auch sich selbst entdeckte, das Verhältnis zu seinem Judentum neu definierte. Dabei wurde er zum Fürsprecher Israels.
In Frankreich sind Lanzmanns Erinnerungen im März erschienen, also nach dem Gaza-Krieg. Er betont darin, die israelische Armee sei nicht wie andere Armeen. Israelische Soldaten hätten keine Gewalt im Blut.
"Die Existenz des Staates Israel verteidige ich absolut und bedingungslos. Es gibt einen starken palästinensischen Irredentismus, nicht bei Menschen wie Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, aber bei der Hamas, bei den Leuten im Libanon: Sie wollen Israel nicht. Das Verschwinden dieses Staates wäre genauso schlimm wie die Vernichtung eines Drittels des jüdischen Volkes durch Adolf Hitler."
Spannend wird das Buch, wo Lanzmann die Entstehung des Neun-Stunden-Films Shoah erzählt. Wie er Überlebende des Sonderkommandos des KZs Auschwitz-Birkenau gesucht und zum Reden bewegt hat, jene Juden also, die die Ermordung der Deportierten vorbereiten, ihnen die Wertsachen abnehmen und ihre Leichen verbrennen mussten. Der Filmemacher spürte ebenso die Täter auf, biederte sich regelrecht an, um ihr Vertrauen zu gewinnen und ihre Erinnerungen aufzuzeichnen.
Weil die alten Nazis und ihre Handlanger oft misstrauisch blieben, setzte Lanzmann eine versteckte Kamera ein. Zum Beispiel bei Franz Suchomel, der im Vernichtungslager Treblinka arbeitete.
Ausschnitt aus Film Suchomel:
" - Wie war Treblinka in dieser Zeit?
- Ja, Treblinka war damals im Hochbetrieb.
- Hochbetrieb?
- Hochbetrieb. Man damals das Warschauer Getto geleert ... "
Lanzmann erzählt aber auch die heiteren Momente seines Lebens, seine Liebesgeschichten nehmen breiten Raum ein. Heute wohnt er in Montparnasse, nahe der Rue Victor Schoelcher. Dort war er 1955 mit seiner damaligen Lebensgefährtin Simone de Beauvoir eingezogen. Sieben Jahre lebte er mit der 18 Jahre älteren Philosophin zusammen. Die Ferien verbrachten sie oft zu dritt, mit Sartre.
Die französische Kritik hat "Den Hasen aus Patagonien" mit Lob überhäuft. Damit habe er gerechnet, sagt Lanzmann mit einer Selbstliebe, die auch das Buch durchzieht:
"Ich mochte, was ich schrieb. Es schien mir unmöglich, dass es die Leser nicht berühren würde. Das ist keine Eitelkeit. Ganz objektiv betrachtet, dachte ich, dass ich die Leute interessieren würde. Dass sie mich sympathisch finden würden ... Außerdem hat das Buch große literarische Qualität."
Die Veröffentlichung seiner Memoiren betrachtet Lanzmann absolut nicht als Schlussstein seines bewegten Lebens. Er habe noch viele Pläne: einen Film über das Konzentrationslager Theresienstadt, ein oder zwei Bücher. "Sie werden schon sehen", sagt er zum Abschied, und es klingt wie eine Herausforderung.
Claude Lanzmann: Le Lièvre de Patagonie
"Le Lièvre de Patagonie", Verlag Gallimard
"Der patagonische Hase", Rowohlt Verlag